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Eine ziemlich realistische Einschätzung unserer Weltsituation, die wir da gerade gehört haben. Gott vertraut uns diesen wunderschönen Planeten an, und wir beuten ihn aus, auf Teufel komm raus, gewinnoptimierend natürlich nur für uns selbst, was gehen uns schließlich die anderen an in den anderen Kontinenten dieser Erde. Sollte uns jemand von außen daran erinnern wollen, dass dieser Planet doch für alle Lebensraum bieten möchte, nicht nur uns wohlfeinen Winzern, dann machen wir eben die Grenzen dicht oder wählen ein neues Parlament, so das es noch schwieriger macht, andere an den Früchten unseres Weinbergs teilhaben zu lassen.
Das können wir uns jetzt schön reden und dagegen halten: So allgemein stimmt das doch nicht; man kann doch schließlich nicht alle und alles über einen Kamm scheren. So viele zeigen Bereitschaft, ökologisch umzudenken, bringen Wissen und Können ein, um verantwortungsvoller mit diesem Geschenk der Schöpfung umzugehen. Wir steigen auf Elektroautos um, verzichten auf Plastiktüten, ernähren uns vegetarisch, leisten Entwicklungshilfe.
So vielen liegt doch an dieser Mutter Erde, so vielen liegt daran, dass allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt und nicht wenige – auch von uns, die wir heute Abend hier sind – fühlen sich verantwortlich dafür, dass sich wirklich etwas ändert, auch grundlegend ändert. Ist das nicht der eigentliche, der tiefe Antrieb, ein Studium zu beginnen, unsere Welt besser zu machen, heiler, gerechter?
Ja, das ist sicher eine Motivation, die euch und uns antreibt. Und trotzdem lässt mich ein Gedanke nicht los, den ich letzte Woche versucht habe, mit einigen von euch im Gottesdienst zu teilen: Die Einsicht der eigenen Unzulänglichkeit angesichts der unzähligen Bedrohungen auf dieser Welt und die Erkenntnis, unweigerlich mit schuldig zu sein daran. Was mich begleitet: eine permanente Enttäuschung über mich selbst und meine Unbeholfenheit, dieser Welt einen wirklichen Friedensschub geben zu können. Ich bin enttäuscht über mich selbst angesichts der eigenen inneren Zerrissenheit, nicht so zu sein, wie ich sein könnte.
www.enttäuscht.net, mit dieser URL haben wir zum heutigen Semestergottesdienst eingeladen. Und ich möchte mit euch – sinnbildlich – mal ins Netz, bei Wikipedia oder bei Google oder sonstwo nachschauen, was sich mit diesem Begriff so verbindet. Sind wir doch wohl deshalb hier, um Anregung, Ermutigung geschenkt zu bekommen, der Weltverhaftung zu entfliehen und der Himmelshoffnung neue Weite zu geben. Ich vermute, Enttäuschungen – welcher Art auch immer – begleiten nicht nur mich; Enttäuschung muss doch im Letzten jeden erfassen, dem Gottes Wort Richtschnur ist.
Der Anfang eines neuen Semesters ist prädestiniert dafür, sich neu auszurichten. Natürlich gilt für viele, sich erst einmal einzurichten, anzukommen, sich zurecht zu finden; aber dabei darf es nicht bleiben. Ohne Perspektive kann keiner leben. Und eine Perspektive, die nur sich selbst berücksichtigt, kann im Letzten nicht befriedigen. Das meinen zwar viele, aber deren Enttäuschung wird eine noch existentiellere sein als die, von der ich gerade spreche. Wer ausschließlich sich selbst im Blick hat, wer nur sich selbst befriedigt, wird an seiner Gier verhungern. Davon erzählt das heutige Evangelium. Und ob wir das einsehen wollen oder nicht: Die Weltlage ist nicht wesentlich anders als zur Zeit Jesu. So sehr wir um unsere Verantwortung wissen, so sehr sind wir doch mehr mit uns selbst beschäftigt und unserem eigenen Selbsterhaltungstrieb.
Deshalb ist die Frage so bedeutsam, wie es gelingen kann, die Enttäuschung über die eigene Unzulänglichkeit nicht in Gleichgültigkeit ausarten zu lassen und in eine heilsame Unruhe umzuwandeln. Wie kann es gelingen, dass die Enttäuschung über das eigene begrenzte Mensch-Sein mich weder in eine lähmende Depression noch in eine arrogante Selbstüberschätzung führt, sondern zu einem neuen Suchen und Fragen nach dem wird, was Gott von mir und uns will?
Das Evangelium, das uns heute zu Semesterbeginn vorgelegt ist, gewährt aber nicht nur eine realistische Sicht auf die Welt, es öffnet auch einen realistischen Blick auf das Wesen Gottes: Auf einen Gott nämlich, der nicht minder einer tiefen Enttäuschung ausgesetzt ist, der Enttäuschung darüber, dass der Mensch – sein Geschöpf – mehr aus einer Verlustangst lebt denn aus dem tragenden Vertrauen, getragen zu sein.
Er hatte allen Grund, wütend zu sein. Und vielleicht war er es ja auch. Das Evangelium legt diese Vermutung nahe. Aber was macht er mit seiner Wut? Wir Menschen münzen oft Wut um in ein unkontrolliertes Handeln. Gott macht es anders, weil er anders fühlt: Aus seiner Wut und Enttäuschung über seine Geschöpfe entspringt Trauer, eine tiefe Trauer. Ich glaube, uns allen fehlt der Mut zur Traurigkeit, zu einer wirklich tief spürbaren Traurigkeit; einer Traurigkeit, die sich nicht festhalten und wiedergeben lässt in wohlfeinen Worten, bei Facebook gepostet, sondern die in ein resolutes Schweigen, Weinen, Klagen mündet: still, verborgen, sich selbst ausgeliefert. In dieser Trauer, aus dieser Trauer, und vielleicht nur aus solch tiefsitzender Trauer heraus vermag sich ein neuer Blick zu ergeben auf diese Welt. Wirkliche Trauer ist es, die Enttäuschung zu wandeln vermag in wirkliche Zuneigung zu dieser Welt.
Eine wahrhaftige innere Trauer zeigt ein Ringen in sich, ein Suchen nach Sinn und nach Zukunft. Franz Kafka sprach einmal davon, dass ein wahrhaftiges Leben „ein Heraustreten aus den Totschlägerreihen“ sein müsse. Vielleicht würden sich unsere Enttäuschungen ein wenig minimieren, wenn wir einen Schritt nach vorne gehen würden, aus den Totschlägerreihen heraus. Dass Gott dies auch passiert ist, wissen wir. Wir sind keine Helden, wir sind nur Menschen. Und wir sind, wie wir sind. Es ist vielleicht ein ungewöhnlicher Rat am Beginn eines Semesters. Aber bei allen Aufbrüchen und Umbrüchen, denen viele in diesen Tagen ausgesetzt sind, denen unsere Gesellschaft und unsere Welt ausgesetzt sind, kann es vielleicht doch gelingen, sich für wenige Momente zurückzuziehen, um das Trauern neu zu lernen, das Trauern und dann auch das Leben. Ein gewandeltes, neues, verantwortetes Leben, damit wir und damit unsere Welt eine gute Zukunft haben.
Christoph Simonsen