Wie Jesus mal wieder alles menschliche Denken durchkreuzt

Zu Anfang eine Klarstellung: In der sogenannten Lazarusgeschichte geht es nicht vorrangig um Lazarus, sondern um uns. Es geht um Klarstellungen, um ein Aufdecken von Missverständnissen; es geht um unseren Glauben. Dieser Perikope sollten wir uns nüchtern stellen. Wir sollten uns ausnahmsweise mal nicht zu schnell von unseren Emotionen leiten lassen. Wir alle wissen, dass die Geschichte gut ausgeht und Lazarus zurück ins Leben findet; aber darauf kommt es nicht an.

Diese Geschichte ist gekennzeichnet durch ganz viel Verwirrung und von missverständlichen Bildern. Jesus redet von Schlaf, meint aber den Tod seines Freundes. Für ihn scheint der Tod aber etwas ganz Selbstverständliches zu sein; eine Wirklichkeit, die mehr zum Philosophieren einlädt als in Trauer zu verfallen.
Jesus redet vom Licht und von der Dunkelheit. Er spricht von Auferstehung. Mit all dem spricht er für die, die ihm zuhören, scheinbar Selbstverständliches an: Licht ist immer besser als Dunkelheit, so denken wir doch; und das Leben ist eine Zeitenfolge, an deren Ende der Tod und das Jüngste Gericht und die Auferstehung stehen. Das alles entlarvt Jesus als viel zu kurzsichtig und viel zu irdisch. Was Jesus wohl sagen möchte: Gott ist ebenso im Licht wie in der Dunkelheit und Gott teilt das Leben nicht in ein Leben vor und ein Leben nach dem Tod. Gott ist vor dem Tod, er ist im Tod und er ist hernach; und Ewigkeit ist nicht etwas Neues nach der Zeitlichkeit. Jesus durchkreuzt das menschliche Denken; für ihn gibt es keine Weltenteilung, kein Diesseits und Jenseits. Für ihn ist einzig die Bindung an den Vater von Bedeutung. Wer in dieser Verbundenheit lebt, der lebt Gott, gleich ob er lebt oder gestorben ist.
Jesus ist es ein tiefes Bedürfnis, von sich zu erzählen, von seinem Glauben und Vertrauen, aber Martha und all seine Freundinnen und Freunde verstehen ihn nicht. Zum einen sicher, weil sie um Lazarus trauern, der gestorben ist; aber noch mehr verstehen sie Jesus nicht, weil sie verhaftet sind in einem tradierten Lebens- und Glaubensverständnis.
Wie kann Jesus so ruhig bleiben, ist doch ein lieber Mensch gestorben? Er wirkt geradezu kühl, distanziert, da er doch so ausschweifend über Krankheit, Schlaf, Tod und Auferstehung philosophiert und unbeirrt seinen Weg weitergeht. Er lässt sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen angesichts des Todes seines Freundes. Während alle anderen sich emotional mit der Traurigkeit solidarisieren, die Martha und die anderen gefangen nimmt scheint Jesus teilnahmslos mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein. Mir scheint, eher aus Mitleid, denn aus Überzeugung wendet er sich dem Schicksal des Lazarus zu und der Trauer der Umstehenden.
Der Rest ist dann schnell erzählt: Jesus kommt im Haus des Lazarus an, seine beiden Freundinnen Martha und Maria sagen, er komme zu spät und sind traurig, sie weinen; Jesus verwickelt sie wieder in ein eher kryptisches Glaubensgespräch; was er sagt, klingt wie von einer anderen Welt. Er kehrt dann in sich, betet, spricht dann wieder rätselhaft von seiner Erhöhung und zum Schluss geschieht das Unvorhersehbare: Lazarus steht auf. Lapidar heißt es zum Schluss: Viele der Juden kamen zum Glauben an ihn.
Dieses Ganze alles bringt mich zu der Überzeugung, dass Jesus mehr seinen und auch unseren Glauben in die Mitte dieser Geschichte rücken möchte und Lazarus eher eine beiläufige Begebenheit in dieser Geschichte ist. Äußerlich betrachtet macht sich Jesus auf den Weg zu Lazarus, aber innerlich angeschaut geht Jesus einen Weg, der ihn zu sich selbst führt.
Es ist die Geschichte Jesu, der zu seiner eigenen Mitte, zu seiner eigenen Bestimmung, zu sich selbst findet. Es ist die Geschichte, die erzählt, wie man mit sich selbst Frieden und Klarheit findet. Es ist die Geschichte Jesu, der einer Selbstvergewisserung näher kommen möchte, wer er ist und was seine Bestimmung, seine Berufung ist. Es ist die Geschichte eines Menschen, der sich selbst sucht und offen dafür ist, mehr als sich selbst zu finden. Es ist die Geschichte eines Menschen, der Wege zu gehen bereit ist, die nicht vorgezeichnet und nicht abgesichert sind. Es ist die Geschichte eines Menschen, der über das Leben nachzudenken vermag, ohne sich von der Wirklichkeit des Todes abschrecken zu lassen. Das Kryptische, das Geheimnisvolle in den Worten Jesu wird nicht aufgelöst, aber es bindet sich ein in eine tiefe persönliche Glaubwürdigkeit des Menschen Jesu. Auch in der Frage, auch im Widerspruch zwischen ihm selbst und seiner Umwelt, auch im Bangen und Suchen gibt er nicht auf, auf Gott zu bauen.
„Lasst uns gehen“, fordert Jesus seine Freundinnen und Freunde auf. Er sagt es heute uns, die auf dem Weg sind, Ostern entgegen. Nicht irgendwann mit Gott rechnen, nicht die Ewigkeit im Blick habend, die alle Erfüllung schenken wird, sondern mit Gott rechnen hier und heute und die Ewigkeit heute erleben…Predigt am 2. April

Christoph Simonsen

 

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