Predigten

Eine Sammlung der Predigten von Christoph Simonsen in den Hochschulgottesdiensten der KHG-Aachen.

Christoph Simonsen war von 2004-2019 Hochschulpfarrer in der Katholischen Hochschulgemeinde Aachen. Seit Mai 2019 ist er Seelsorger an der Citykirche Mönchengladbach

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24. Februar  2019  –  7. Sonntag im Jahreskreis C – 2019

Evangelium: Lukas 6,27-38
Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden. Gebt, dann wird auch euch gegeben werden. In reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden.

Herzlichen Glückwunsch: Ernesto Cardenal
Es gibt Menschen, an denen scheiden sich die Geister. Ernesto Cardenal ist so ein Mensch. Wer das Gebot der Liebe ernst nimmt, wer der Sehnsucht verfallen ist, im Einklang mit der Welt zu leben, der muss dafür kämpfen und er muss Spannungen nicht nur aushalten, er muss ihnen Gutes abgewinnen. Mit ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘ ist der Welt und den Menschen, die auf ihr Leben, keine Zukunft beschieden. „In der Armut liegt ein Glanz verborgen. Der Glanz des Authentischen“, hat Cardenal mal gesagt. Lieber authentisch sein und arm, als falsch und gesichert. Wahrheit will errungen werden, sie ist nicht einfach gesetzt. Alle Wahrheit dieser Welt ist durchtränkt von menschlichen Erfahrungen und von daher ist Wahrheit zunächst einmal immer subjektiv. „In Bewegung“, so lautete das Motto der letzten Heiligtumsfahrt hier in Aachen. Auch Wahrheit ist beweglich. Wer wüsste das nicht besser als die vielen unter uns, die in Wissenschaft und Forschung tätig sind. Selbst persönliche, ins eigene Fleisch hineinschneidende Erfahrungen zeigen uns die Veränderlichkeit allen Seins. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als um die Wahrheit zu ringen. Ein ‚Basta‘, wie es in den achtziger Jahren Johannes Paul II gesprochen hat, kann nie die Lösung sein. Im Gegenteil: vermeintliche Endgültigkeit schafft immer neue Spaltung.

Im Blick auf das heutige Evangelium könnte eine Quintessenz sein, anzuerkennen, dass es nicht Jesu Ziel war, alle in gleicher Weise zu Freundinnen und Freunden zu machen, sondern gerade aus der Erfahrung von Spannung und Unterschiedlichkeit heraus, Leben friedlich zu gestalten. Jesus möchte die Auseinandersetzung, er weicht einem Streitgespräch nicht aus; er will nicht alles und alle über einen Kamm scheren. Jesus verweigert sich dem Anspruch, Endgültigkeiten zu schaffen. Um die Wahrheit ringen, und sie zugleich keinem absprechen. Nicht anderen nach dem Mund reden, aber auch nicht die andere mundtot machen. In dieser Spannung spielt sich verantwortungsvolles Leben ab. Leben gestalten zu wollen, das beinhaltet auch immer, Leben suchen zu wollen: gemeinsam, aber unter Umständen auch in einer gesunden Abgrenzung voneinander, die Achtung voreinander nicht außer Acht lassend.

Ernesto Cardenal ist nicht lange Minister geblieben. Die politischen Befreier, mit denen er gegen die Diktatur gekämpft hat, haben sich nach geraumer Zeit selbst als Diktatoren entpuppt. „Du kannst nicht mit Gott sein und zugleich neutral“. Auch das ein Wort des Dichterpriesters. Bis heute positioniert er sich auf die Seite derer, die gerichtet werden und distanziert sich von den Richtern. Und mit heute 94 Jahren ist er immer noch davon überzeugt davon, dass es sich lohnt, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die Zukunft hat und in der Zukunft liegt. Und er kämpft für diese Gesellschaft – mit Worten.

Christoph Simonsen

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17. Februar 2019  –   6. Sonntag im Jahreskreis C – 2019

Evangelium: Lukas 6,20-26
Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. Freut euch und jauchzt an jenem Tag; euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht. Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen. Weh euch, wenn euch alle Menschen loben; denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.

Vom Glück, das unabhängig ist von Zufällen
„Selig!“. Dieses Wort bedarf einer Erläuterung. Seid ihr selig? Das Wort klingt fromm, vielleicht ein wenig weltfremd. Ist selig-sein so ähnlich wie glücklich-sein? Glück hat man beim Lotto spielen. Glückliche Augenblicke sind eher die Ausnahme. Der Alltag wird selten als Glückseligkeit erfahren. Kann glücklich-sein überhaupt eine Kategorie des Glaubens sein, wenn Glück doch eher eine Ausnahmeerscheinung des Lebens beschreibt und nichts die Normalität.
Ist ‚selig sein‘ und ‚glücklich sein‘ überhaupt dasselbe? Glück bekommt man geschenkt; Glück ist eine Zugabe des Lebens, die das Leben schöner, lustvoller, süßer macht. Aber Seligkeit? „Selig seid ihr, wenn…“, so heißt es beim Evangelisten Matthäus. Seligkeit scheint an Bedingungen geknüpft zu sein. „Selig seid ihr, wenn ihr arm seid um des Himmelreiches willen.“ Zur eigenen Seligkeit bedarf es scheinbar aktiver Selbstbeteiligung. So wie es aussieht, bekommt man Seligkeit nicht geschenkt – so wie Glück – nein: Seligkeit will verdient werden. Und so lehrt es unsere Kirche ja immer wieder und bis heute: Das Himmelreich will verdient sein. Deswegen die Unmengen von Codizes und auferlegten Verpflichtungen.
Aber Stopp! Ich will nicht wieder in Kirchenschelte versinken. Deshalb noch eine nicht unerhebliche Erläuterung: Euch ist es vielleicht nicht aufgefallen, aber diese Kleinigkeit ist wichtiger als es auf den ersten Blick erscheint: Wir hören heute nicht die Seligpreisungen nach Matthäus, sondern nach Lukas. Und da hat sich bei dem, was wir gerade gehört haben, ein nicht unerheblicher übersetzungstechnischer Fehlerteufel eingeschlichen. Da steht zwar in der deutschen Übersetzung „selig“ und im Blick auf die lateinische Ausgabe der Heiligen Schrift ist das dann auch korrekt übersetzt, wo es ‚beatus‘ heißt. Aber im älteren griechischen Text heißt es im Lukasevangelium „makarios“; und das heißt übersetzt tatsächlich ‚glücklich‘.
Das Glück, von dem Lukas spricht, kommt nicht von außen auf einen zu, schon gar nicht muss man es sich verdienen. Wahres Glück ist in einem drin, davon ist Lukas überzeugt.
Jesus spricht konkret Menschen an: Diejenigen, die arm sind oder Hunger leiden, die Traurigen wie die Verstoßenen. Er spricht nicht von ihnen oder über sie; er spricht mit ihnen. Auch hier unterscheidet sich der Lukastext von Matthäus. („Ihr Armen, ihr Hungernden, ihr Leidenden…“) Jesus predigt seinen Freundinnen und Freunden und spricht sie direkt so an: „ihr Armen, ihr Hungernden, ihr Leidenden…“. Diese Seligpreisungen nach Lukas sollen nicht Mitleid gegenüber benachteiligten Menschen erzeugen und einen entsprechenden Verhaltenskodex implizieren. Nein, nach Lukas hält Jesus den Menschen einen Spiegel vor: ‚Du, der du arm bist oder hungrig oder leidend: Du bist selig‘. Du kannst dich glücklich schätzen, nicht weil du irgendetwas gewonnen hast, weil Du – im wahrsten Sinn des Wortes – irgendwann irgendwie mal Glück gehabt hast. Nein: du kannst dich glücklich schätzen, weil du in deiner menschlichen Armut, in deiner menschlichen Unvollkommenheit Zukunft hast. Dir steht der Himmel offen. Dein Glück hängt nicht ab von Erfolg oder Reichtum. Aber es hängt an der Selbsterkenntnis, dass du dich erkennst als der oder die, die du wirklich bist: unvollkommen nämlich und bedürftig.
Und jetzt kommt vielleicht doch noch eine winzige Kirchenkritik. Mit dieser Botschaft wurden und werden Menschen klein gehalten und in entsetzliche Abhängigkeiten gedrängt. Nicht so Jesus: Er baut die Menschen auf, ermutigt sie zum ehrlich sein und zu einer wahrhaftigen Glückseligkeit. Wer die eigene Bedürftigkeit spürt und zulässt, der nimmt auch die Armut des anderen ernst. In diesem ehrlichen Blick auf sich und auf die Nächsten, wo nicht der eine arm und der andere reich ist, sondern sich alle als menschlich bedürftig wahrnehmen, da gedeiht ein Glück, das unabhängig ist von Zufälligkeiten jeglicher Art. Und dieses Glück, das von innen kommt, ist ein nachhaltiges Glück, weil es nämlich in eine neue Dimension der Achtsamkeit führt.
Christoph Simonsen

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10. Februar 2019

Evangelium: Lukas 5,1-11

Als Jesus am Ufer des Sees Gennesaret stand, drängte sich das Volk um ihn und wollte das Wort Gottes hören. Da sah er zwei Boote am Ufer liegen. Die Fischer waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Jesus stieg in das Boot, das dem Simon gehörte, und bat ihn, ein Stück weit vom Land wegzufahren. Dann setzte er sich und lehrte das Volk vom Boot aus. Als er seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus! Simon antwortete ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen. Das taten sie, und sie fingen eine so große Menge Fische, dass ihre Netze zu reißen drohten. Deshalb winkten sie ihren Gefährten im anderen Boot, sie sollten kommen und ihnen helfen. Sie kamen und gemeinsam füllten sie beide Boote bis zum Rand, sodass sie fast untergingen. Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sagte: Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder. Denn er und alle seine Begleiter waren erstaunt und erschrocken, weil sie so viele Fische gefangen hatten; ebenso ging es Jakobus und Johannes, den Söhnen des Zebedäus, die mit Simon zusammenarbeiteten. Da sagte Jesus zu Simon: Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen. Und sie zogen die Boote an Land, ließen alles zurück und folgten ihm nach.

Der Traum von der einen Menschheitsfamilie

Jesus gelingt das: Den Menschen das zu geben, was sie für ihr Leben brauchen, wirklich brauchen. Die große Menge der Menschen beschenkt er mit seinen befreienden Worten, die Gott greifbar nahe kommen lassen und die von der Arbeit ermüdeten und enttäuschten Fischer beschenkt er mit einem großen Fischfang.

Jesus hat die Menschheit im Blick ebenso wie den einzelnen Menschen. Jesus erkennt die Sehnsucht der Menschen nach Gott, ihre Suche nach dem Großen und Ganzen, nach Sinn und Erfüllung, aber er erkennt auch ihre ganz einfachen Bedürfnisse, schlicht etwas auf dem Teller zu haben. Jesus schenkt Zukunft, aber er schenkt auch Gegenwart.

Eigentlich ist es ganz selbstverständlich, aber es ist dann doch die große Kunst des Glaubens: Einen Blick zu haben dafür, woran es den Menschen mangelt.

Dieser einfache Mensch Jesus hat eine Ausstrahlungskraft die gut tut, die das Leben weit macht, die Menschen miteinander verbindet. Wenn wir auf sein öffentliches Wirken blicken:  Der Blinde, der Gelähmte, der Aussätzige, der Enttäuschte, der vom gestrengen Gesetz Gefangene, der habgierige Zöllner, die stadtbekannte Dirne, einfach Menschen, die nach wirklichen, tragfähige Antworten auf ihre Fragen lechzen, alle, die von ihrem trockenen Alltag nicht mehr leben wollen und auch die Fischer mit ihrem leeren Magen und mit ihrer leeren Geldbörse: sie alle finden den Weg zu einem, der ein Ohr für ihre Wünsche und Sehnsüchte hat und ein offenes Herz. Keinem sagt Jesus, dass seine Wünsche unberechtigt seien, keinen lässt er mit den unerfüllten Hoffnungen alleine. Was wäre das für eine Welt, die diesem Jesus nacheifern würde.

Dieser einfache Blick Jesu auf das, was nottut, könnte auch heute eine wunderbare Strahlkraft in unsere Welt hineintragen. Woran mangelt es uns heute am meisten? An der inneren Überzeugung, nur gemeinsam die Fragen und Sorgen der Welt meistern zu können.

Ich bin ganz eingenommen von der Reise Papst Franziskus in die Vereinigten Arabischen Emirate. In eine seiner Reeden dort sprach er von der einen Menschheitsfamilie. Es mag verschiedene Religionsgemeinschaften geben, verschiedene Kulturen, verschiedene Traditionen; aber über aller Verschiedenheit steht die eine Wirklichkeit, in einer Familie verbunden zu sein, weil wir alle einen Ursprung haben: den Schöpfer.

Seine Begegnung mit dem Großimam Al Tayyib wird hoffentlich so unvergesslich bleiben, dass die Fundamentalisten aller Gruppierungen und Religionen endlich begreifen, dass sie im Unrecht sind. Das Friedenszeichen, das die beiden großen Männer des muslimischen und des christlichen Glaubens gesetzt haben, ist bisher beispiellos. Ich möchte Euch einen Abschnitt aus der Rede von Papst Franziskus wiedergeben, der wunderschön zum Ausdruck bringt, wie heilsam das Leben sein könnte, wenn wir einander wahrnehmen, was jede und jeder einzelne zum Leben benötigt: „Wenn wir an die Existenz der Menschheitsfamilie glauben, folgt daraus, dass sie als solche bewahrt werden muss. Wie in jeder Familie geschieht dies vor allem durch einen täglichen und wirklichen Dialog. Dies setzt die eigene Identität voraus, die man nicht aufgegeben muss, um dem anderen zu gefallen. Aber gleichzeitig erfordert es den Mut zur Andersheit, was die volle Anerkennung des anderen und seiner Freiheit miteinschließt, und das daraus folgende Bemühen, mich so einzusetzen, dass seine Grundrechte immer und überall und von allen anerkannt werden. Denn ohne Freiheit ist man nicht mehr Kind der Menschheitsfamilie, sondern Sklave. Unter den Freiheiten möchte ich die Religionsfreiheit hervorheben. Sie beschränkt sich nicht nur auf die freie Ausübung der Religion, sondern sieht im anderen wirklich einen Bruder und eine Schwester, einen Sohn und eine Tochter derselben Menschheit, denen Gott Freiheit gewährt und die daher keine menschliche Institution zwingen kann, auch nicht in seinem Namen.“ Ich möchte mir wünschen, dass auch unsere jüdischen Geschwister und die Menschen hinduistischen Glaubens sich diesem Gedanken anschließen. Die Welt wird dann anders aussehen und sie wird eine Zukunft haben.

Schauen wir wieder auf Jesus, der Vorbild für alle sein kann, nicht nur für uns Christinnen und Christen, denn den Juden ist er Bruder, den Moslems ein Prophet: Jesus hat kein Lasso benutzt, um Menschen einzufangen. Ganz im Gegenteil: Wer sich in Jesu Nähe wusste, der fühlte sich frei und er fand zu neuen Kräften, sich zu öffnen und zu entfalten. In Jesu Nähe wagten es die Menschen, frei und offen zu reden von ihren Träumen, mögen sie noch so unerfüllbar bisher gewesen sein. Menschen zu fangen heißt für den Botschafter Gottes: sie zu befähigen, die ihnen von Gott geschenkte Freiheit zu nutzen: die Freiheit der Gedanken, die Freiheit der Gefühle und darauf zu vertrauen, dass für Gott kein Ding unmöglich ist. Jesus fesselt die Menschen nicht mit Stricken, sondern mit Augen, die leuchten und mit Worten die befreien und mit einer Botschaft, die zur Liebe einlädt, weil sie selbst Liebe ist. Papst Franziskus hat in der vergangenen Woche in kaum vorstellbarer Weise gezeigt, dass Liebe alles andere als emotional ist. Nein, Liebe ist sehr konkret. Und nur so kann sie ihre Kraft entfalten.

Christoph Simonsen

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3. Februar 2019

Evangelium – Lk 4,21-30: Jesus öffnete die Buchrolle des Propheten Jesaja und fand die Stelle, wo geschrieben steht:

Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.

Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.

Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.

Alle stimmten ihm zu; sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen, und sagten: Ist das nicht Josefs Sohn?

Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!

Und er setzte hinzu: Amen, ich sage euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.

Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam.

Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon.

Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.

Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut.

Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.

Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg.

Muss das denn wirklich sein: Streit?

Das kann doch kein Zufall sein: Zum Semesterende werden wir in eine handfeste Auseinandersetzung hineingezogen. Ich kann ja nur erahnen, wie ihr das auffasst, aber ich hätte mir für diesen Gottesdienst eine andere Erzählung vorstellen können, die ein wenig runterkommen lässt oder wenigstens ein bisschen ermutigender ist. Gerade ist der Vorlesungsalltag vorbei, da beginnt für viele die Klausurenphase. Wäre da nicht was Entspannteres angemessener? Stattdessen zusätzlich Stress. Vorausgesetzt, wir konzentrieren uns auf diesen Text des Evangeliums. Müssen wir ja nicht. Wir könnten uns auch freundlicheren Texten zuwenden. Der Lesung zum Beispiel. Über die Liebe nachzudenken ist allemal schöner, als sich mit Streitigkeiten rumzuschlagen.

Ich hätte auch noch einen anderen Vorschlag: Letzte Woche, als ich die Auswahlgespräche mit Kunststudierenden in Bonn geführt habe, da hat mich ein Bewerber aus Kassel auf eine tolle Idee gebracht. Er sagte, wenn er in einen Gottesdienst geht – das sicher nicht regelmäßig, aber immer wieder mal – dann wäre das für ihn wie ein Kurzurlaub. Um ihn herum ein vertrautes Zeremoniell, an dem man mehr oder weniger teilhaben muss und dazu eine absolut handyfreie Zone; wo besser könnte man abschalten und seinen eigenen Gedanken nachgehen, fragte er. Und er fügte hinzu: „Das ist ein schönes Gefühl, sich eingebunden zu wissen in einer Menge und zugleich ganz bei sich sein zu können.“

Jetzt fragt mich bitte nicht, warum ich dennoch in den letzten Tagen bevorzugt auf das Evangelium des Tages geschaut habe. Das hat womöglich persönliche Gründe, weil mir nämlich zu viel Harmoniesucht immer verdächtig erscheint. Und wohl auch deshalb, weil ich unsere Kirche gerade so erlebe, dass sie sich selbst im Weg steht. Es darf zwar gestritten werden, aber Die Auseinandersetzungen verlaufen zu oft im Sand, versanden buchstäblich und enden im Nichts. Von allen Seiten vernehmen wir den Ruf nach Veränderung und Erneuerung, alles müsse auf den Prüfstand: Die einseitige Machtverteilung auf den Klerus, die im Katechismus festgezurrte Sexualmoral, die jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verloren hat, die *-Problematik, die eigentlich nur für die Kirche noch problematisch ist, das gebetsmühlenartige Bekenntnis, die Kirche hätte die jungen Erwachsenen verloren.

All das höre ich schon so unendlich lange, dass ich jede und jeden verstehe, der wie Jesus durch diese ganze trübselige Menge hindurchläuft, um so sichtbar vor Augen führt, wie alleine sie eigentlich dastehen. Unsere Kirche beteuert mit viel Aufwand, sie wolle „bei dir sein“ und wenn es drauf ankommt, zieht sie es dann vor, doch lieber bei sich zu bleiben und bei ihren Überzeugungen und Lebenskonzepten. Es braucht unbedingt mehr Streit in der Kirche, hörbaren und kreativen Streit. Zuhören alleine genügt nicht, man muss auch ernst nehmen. Da bin ich sehr dankbar für so manche Erfahrung hier in der Khg, die mich gelehrt hat, dass etwas zu probieren, auch ohne absolute Erfolgsgarantie und ohne Absicherung, von wo auch immer – von oben, von Tradition und Lehre – allemal besser ist, als in Rechthaberei zu versinken. Kirche sollte nicht in erster Linie heilig und untadelig sein, sondern mutig und menschlich.

Wenn euch meine Gedanken zum Evangelium schon jetzt zu dreist oder zu abwegig erscheinen, dann versetzt euch wie Lutz in einen Kurzurlaub; schaltet einfach ab und lasst die Seele baumeln. Eure Nachbarn können euch ja anstupsen, wenn ich fertig bin.

Ich finde, streiten zu können, ist ein Lebensmotor; nicht Streit um des Streits willen, aber um der Sache und um der Menschen willen immer. Es sollte ein fairer Streit sein. Wer streitet, der hat eine Überzeugung. Wer streitet, der ist aber auch bereit, seine Überzeugung zu überdenken. Wer streitet, der ist interessiert an einem Austausch. Wer streitet, der weiß darum, dass es ein „Ich“ und ein „Du“ gibt und er weiß um den Vorteil eines „wir“. Und noch etwas ist wichtig: Wer streitet, braucht einen Raum und er braucht Zeit.

Nun plant man in der Regel ja einen Streit nicht lange voraus. Oft ergibt er sich einfach aus einer bestimmten Situation heraus. Gerade dann ist es notwendig, die Grundregeln eines Streits zu beachten.

Um was geht es in dem eben gehörten Streit zwischen Jesus und den Menschen? Diese hören ihm zunächst wohlwollend zu, um sich dann wutentbrannt von ihm abzuwenden? Es geht um Zutrauen, bzw. um verwehrtes Zutrauen. Die Menschen trauen Jesus nicht zu, im Geist Gottes reden und handeln zu können. „Heute hat sich das Schriftwort erfüllt“, so zitiert Jesus aus den Heiligen Schriften und bezieht diese Aussage auf sich. Guter Geist, Geist Gottes ruhe auf ihm. Er ruhe deshalb auf ihm, um die Menschen zum Gutsein zu ermutigen, zum Menschsein.

Die Zuhörenden – Nachbarn, Freunde, Verwandte Jesu vielleicht – hören gespannt zu und zuerst sind sie wohl auch angetan von dem, was Jesus sagt: „Sie staunten über die Worte der Gnade“. Ich glaub wirklich, dass ihnen seine Worte gutgetan haben.

Dann kippt die Stimmung aber: „Ist das nicht der Sohn Josefs?“ Umgangssprachlich könnte man interpretieren: ‚Dat is doch dä Jung von de Nohbaschaf. Wat hät dä denn ze kamelle?‘ Sie können nicht glauben, dass einer von ihnen begnadet ist. Das ist der Knackpunkt, der zu dieser unschicklichen Situation führt.

Die Frage, die sich für mich daraus ergibt, ist die: Trauen wir einander zu, so wie wir sind, und nicht wie wir einander vorstellen oder gern hätten, von Gott beseelt zu sein? Und anders herum: Trauen wir Gott zu, dass er im anderen anders auftritt, als wir ihn uns vorstellen?

Ich bin sehr dankbar für Begegnungen hier und die Erfahrungen, dass Menschen einander guten Geist zutrauen über die Grenzen von Konfessions- und Religionszugehörigkeiten hinaus. Ich bin dankbar, dass Suchbereitschaft nach Leben und nach Gott nicht verwechselt wird mit Unwissenheit sondern wahrgenommen wird als bereichernde Neugierde. Ich bin dankbar für die Erkenntnis, dass das Fragen nach einer Zukunft für unsere Welt für die einen eine Frage nach Gott und für die anderen eine Frage der eigenen Verantwortung ist und Glaube wie Verantwortung nicht als Gegensätze proklamiert werden. Ich bin dankbar dafür, dass auch dann, wenn in einzelnen Situationen pastorale Überzeugungen und ökonomische Interessen gegeneinander stehen (Khg gegen Studentenwerk sozusagen) wir im Gespräch zu gemeinsamen Entscheidungen finden. Ich bin dankbar dafür, dass Freundschaften gewachsen sind zwischen Menschen hier in unserem Umfeld, die Zeit und Raum und unterschiedliche Interessen überdauert haben.

Streitbarkeit und Verbundenheit sind keine Gegensätze. Sie können zu einer Bereicherung werden, das Leben besser zu verstehen und das eigene Leben weitsichtiger zu gestalten. Im ehrlichen Ausgleich von Streitbarkeit und Gemeinsinn wird Gott umfassender erkennbar, der immer Geheimnis bleibt und sich dennoch je anders und neu in den verschiedenen Lebenserfahrungen widerspiegelt und erkennbar wird. Es ist wirklich so: Guter Geist wird auch erfahrbar in Spannung und Auseinandersetzung. Manchmal müssen diese auch nonverbal ausgetragen werden. Aufrecht und selbstbewusst schritt Jesus durch die Menge hindurch. Da müsste den Menschen doch ein Licht aufgegangen sein. Die Erzählung lässt das offen und darf uns hoffen lassen. Zum Schluss möchte ich danken für manches Licht, das mir danke Eurer Hilfe und Eurer Überzeugungen aufgegangen ist. Ich gehe mit einer bestärkenden Hoffnung und möchte Euch verbunden bleiben, so gut es geht.

Jetzt könnt ihr die Kurzurlauber neben euch, falls vorhanden, vorsichtig darauf hinweisen, dass es weitergeht mit der Feier.

Christoph Simonsen


20. Januar 2019

Evangelium: Johannes, 2,1-11
Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen. Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut! Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie es der Reinigungsvorschrift der Juden entsprach; jeder fasste ungefähr hundert Liter. Jesus sagte zu den Dienern: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis zum Rand. Er sagte zu ihnen: Schöpft jetzt und bringt es dem, der für das Festmahl verantwortlich ist. Sie brachten es ihm. Er kostete das Wasser, das zu Wein geworden war. Er wusste nicht, woher der Wein kam; die Diener aber, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es. Da ließ er den Bräutigam rufen und sagte zu ihm: Jeder setzt zuerst den guten Wein vor und erst, wenn die Gäste zu viel getrunken haben, den weniger guten. Du jedoch hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten. So tat Jesus sein erstes Zeichen, in Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn.

Eine Hochzeit ist nicht nur lustig sondern auch lehrreich
Ich fasse zusammen: Jesus, der kleine Wurm, dessen Geburtstag wir vor wenigen Wochen erst gefeiert haben, ist inzwischen größer geworden und darf jetzt schon ausgehen, wenn auch nur in Begleitung seiner Mutter. Zum ersten Mal kann er der Öffentlichkeit zeigen, wer und wie er ist. Und was macht er? Er verwandelt bei einer Hochzeitsfeier Wasser in Wein. Um es mal umgangssprachlich zu formulieren: ‚Klingt komisch, ist es aber nicht‘. Die Frage ist doch: Was will uns der Evangelist Johannes damit sagen, der ja an den Schluss der Erzählung – als Höhepunkt sozusagen – feststellt, dass der erwachsenen gewordene Jesus mit diesem ersten öffentlichen Auftritt ein Zeichen für die Herrlichkeit Gottes setzen wollte?
Sollte es einen direkten Zusammenhang geben zwischen der Herrlichkeit Gottes und der Qualität des Weines, der den Gästen einer Feier eingeschenkt wird? Da ich jemand bin, der die Worte der Heiligen Schrift sehr ernst, wenn auch noch lange nicht immer wörtlich nimmt, muss ich davon ausgehen, dass sich hinter dieser Botschaft in der Tat eine göttliche Wahrheit verbirgt.
Ich kann mich noch sehr gut an das erste Mal erinnern, als ich abends nach 20h ausgehen durfte. Es war keine Hochzeit, nur eine Fete im Pfarrheim, genau genommen: eine Maibowlenfete. Und seit diesem Abend kenne ich die Tücken einer Bowle sehr genau. Im Blick auf den heutigen Text wird mir klar, dass es einen gehörigen Unterschied gibt zwischen dem Wunsch, groß und stark erscheinen zu wollen oder eben herrlich.
Ihr könnt vielleicht erkennen, worauf ich hinauswill. Ich wollte als Teenie erwachsen daher kommen und hab die Bowle getrunken, als wäre es Apfelsaft und natürlich war das Ergebnis davon, dass ich nicht groß und stark daherkam sondern kindisch und albern. Ernst nehmen konnte mich in dieser Situation keiner mehr, geschweige denn, dass da noch jemand an mich glaubte. Wer den Glauben an sich selbst noch nicht gefunden hat und meint, ihn dann zu finden, wenn er sich in was auch immer ertränkt, der kann anderen keine Stütze sein, Festigkeit und Glaube zu finden.
Anders Jesus. Er will nichts sein, nichts gelten. Vielmehr hat er etwas vor Augen: Seine Stunde. Er ist sich dessen bewusst, dass sein Leben noch Veränderungen erfahren wird, dass er Geduld haben muss. Jesus kann warten, bis seine Stunde da ist, wo er zeigen kann, wer er ist und wie er ist.
Geduld ist nicht jedermanns Sache; ich spreche da durchaus auch aus eigener Erfahrung. Aber sie kann einen Weg bereiten, sich selbst besser zu erkennen und zu finden und sie verleiht eine innere Stärke, die Zeit richtig einzuschätzen, zur richtigen Zeit das richtige zu sagen und zu tun. Und richtig ist das, was Gott verherrlicht; und Gott verherrlicht, was den Menschen befähigt, an sich selbst zu glauben.
Die Geschichte geht aber ja noch weiter. Obwohl die Stunde Jesu noch nicht da ist, lässt Jesus sich von seiner Mutter bequatschen. Das Fest soll noch nicht zu Ende sein. Jesus setzt ein Zeichen und blamiert auf diese Weise den Gastgeber. Der Wein Jesu ist besser als der Wein des Hochzeitspaares. Mittelmäßigkeit sollte nicht das Ziel sein, wenn man durchs Leben geht. Das ist wohl der Grund, weshalb Jesus in Aktion tritt, um eben diesen Rat zu geben: Der Mensch ist zu mehr berufen, als zu Mittelmaß. Deshalb tat Jesus in Kana in Galiläa sein erstes Zeichen: Um dem Menschen zu zeigen, dass wir von Gott berufen sind, das Beste zu geben, was uns zu eigen ist und uns Zeit zu nehmen, Zeit für Stille, für Gebet, für Meditation, um zu erkennen, welch große Fähigkeiten uns geschenkt sind.

Christoph Simonsen

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Taufe des Herrn 2019

Evangelium: Lukas 3,15-16.21-22

Das Volk war voll Erwartung und alle überlegten im Stillen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Messias sei. Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Zusammen mit dem ganzen Volk ließ auch Jesus sich taufen. Und während er betete, öffnete sich der Himmel, und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab, und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.

Herzlichen Glückwunsch, Leonardo

Auch wenn das eigentlich zur Allgemeinbildung gehört, widersetze ich mich dieser Überzeugung heute einmal ausnahmsweise. Es soll ja bekanntlich Unglück bringen, vor dem eigentlichen Geburtstag einem Menschen zu gratulieren, aber ihm wird es ganz gewiss nicht mehr schaden, zumal schon seit geraumer Zeit berauschende Feste für ihn in Vorbereitung sind. Man sagt von ihm, er sei ein Allroundgenie, Künstler genauso wie Forscher und Wissenschaftler. Keine Frage war ihm zu absurd, keine Idee zu kühn, als dass er ihnen nicht nachgegangen wäre. Das schönste Bild der Welt: Er hat es gemalt. Täglich bewundern es 20.000 Menschen. Herzlichen Glückwunsch zu deinem 500. Geburtstag, Leonardo da Vinci. Aber wir sollten uns vor jeder Art der Verklärung hüten. Leonardo da Vinci war alles andere als ein Überflieger. Sein Weg war gezeichnet von Niederschlägen. Nicht alle haben ihn ernst genommen. Wie sollte man auch? Kann jemand zugleich Maler, Sänger, Physiker, Biologe, Konstrukteur sein? Und da war noch ein Stolperstein: Leonardo da Vinci lebte in einer Zeit des Umbruchs: Der Renaissance. Eine Zeit menschlicher Emanzipation begann. Leonardo wollte verändern, gestalten, schöpferisch tätig sein. Er hat nach außen versichtbart, was sich zuvor in dieser Fülle keiner getraut hat: Der Mensch ist nicht nur Teil der Schöpfung, er selbst gestaltet sie auch mit. Sein wertvollster Lehrer war Nikolaus von Kues. Die Cusaner unter uns wird es nicht wundern. In Gott seien alle Schätze der Wissenschaft verborgen, das war die Überzeugung des Cusaners. Und weil im menschlichen Intellekt der göttliche Ursprung fortwirke, könne es doch dem höchsten Künstler – Gott also – nicht gefallen, wenn die Herrlichkeit seiner Schöpfung unerkannt bliebe. Das war und ist der Motor allen menschlichen Forschens und Suchens. Und deshalb ist bis heute die

berühmte Zeichnung von da Vinci von Bedeutung: Ein Mensch streckt seine Arme und Beine und je nachdem, wie er sie hält, fügt sich der Körper exakt in ein Quadrat und in einen Kreis. Der Mensch: die Quadratur des Kreises. Der Mensch: Das Geschöpf einer kosmischen Ordnung und doch zugleich auch Schöpfer neuer Erkenntnisse und Weisheiten. Da Vinci, der Wissenschaftler, war dennoch nie zufrieden mit sich, so viel er auch erkannte und entwickelte. Das machte ihn aber nicht depressiv oder tatenlos. Je mehr er die Dinge der Schöpfung zu erforschen versuchte, um so klarer wurde ihm, dass eines unentdeckt und unerforscht blieb: Das Gemüt des Menschen, seine Gefühle, seine Seele. Er begann zu malen und versuchte, die Schönheit zu versichtbaren und das, was mit aller Rationalität nicht zu deuten und zu erklären war. Und seine Malerei reproduzierte nicht nur in der Weise, wie zuvor die Maler gearbeitet haben. Seine Pinselstriche erwirkten mehr eine Verschwommenheit auf den Bildern als klare Strukturen und Linien. Ihm war es nicht so wichtig, dass etwas auf dem Bild klar zu erkennen sein sollte. Nicht der Wiedererkennungswert stand im Vordergrund, sondern genau das, was keiner erwarten würde, sollte in den Blick der Betrachter geraten.

Und genau deshalb erzähle ich Euch das alles heute Abend, denn da Vinci hat einen Johannes gemalt, den keiner als Johannes auf den ersten Blick erkennen würde. Eben nicht den hageren lebensabgewandten Mann in einem Gewand aus Fell, sondern vielmehr einen schelmisch dreinschauenden, gut aussehenden jungen Burschen mit lockigem Haar. Und das Besondere dieses Bildes: Er steht vor einem gänzlich schwarzen Hintergrund und es scheint und nur sein Gesicht wird von einem geheimnisvollen Licht angestrahlt. Ein Mann, umgeben von größter Dunkelheit und dennoch schaut der Betrachter in ein Gesicht, das hell erstrahlt ist. Auch hier setzt da Vinci eine Überzeugung der Renaissance um, die den Menschen damals ganz neue Lebensofferten schenkte: „Der Mensch ist nicht fürs Elend geboren. Das will Gott nicht“. So wie der Künstler die Betrachter mit in seine Bilder hineinholen möchte, ihnen nicht nur die Rolle eines Betrachters zuspricht, sondern zur Beteiligung ermutigt, so will uns auch die Heilige Schrift hineinholen in ihr Geschehen. Die Heilige Schrift will nicht gelesen, sie will erlebt werden. Johannes der Täufer ist die Personifizierung dieser Glaubensbotschaft. So wie Gott in der Taufe zu Jesus sagt: „Du bist mein geliebter Sohn“, so sagt er es allen. Kinder Gottes sind wir, und dazu berufen, in seinem Namen die Schöpfung zu entdecken und all das, was noch in ihr verborgen ist. Der geöffnete Himmel ist ein Verweis auf diesen göttlichen Auftrag an uns Menschen, uns auszustrecken mit allen unseren Sinnen, mit allen unseren Gaben und Fähigkeiten, um zu erkennen, was das Leben lebenswerter macht, was dem Leben Zukunft schenkt.

Und dies nicht verbissen, verklemmt, gehemmt, sondern zuversichtlich, gelassen und fröhlich. Auch hier hilft uns Leonardo da Vinci. Er malte ein Bild mit Anna, der Mutter Jesu, die locker auf ihrem Knie sitzt, das eigene Kind – Jesus – in den Armen haltend, der nichts wichtigeres zu tun hat, als Johannes, seinen Cousin, der am Boden liegt und spielt, an den Füßen zu kitzeln. So leicht kann das Leben sein. Daran zu arbeiten, ist unsere Aufgabe heute.

Christoph Simonsen


06. Januar 20149  –  Fest der Erscheinung des Herrn 2019

Evangelium: Matthäus 2,1-12
Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. Er ließ alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Messias geboren werden solle. Sie antworteten ihm: In Betlehem in Judäa; denn so steht es bei dem Propheten: Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste / unter den führenden Städten von Juda; / denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, / der Hirt meines Volkes Israel. Danach rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich und ließ sich von ihnen genau sagen, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: Geht und forscht sorgfältig nach, wo das Kind ist; und wenn ihr es gefunden habt, berichtet mir, damit auch ich hingehe und ihm huldige. Nach diesen Worten des Königs machten sie sich auf den Weg. Und der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind war; dort blieb er stehen. Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar. Weil ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.
Das Leben nicht verschlafen im Schicksalsjahr 2019
Das neue Jahr ist erst 6 Tage jung. Was treibt uns eigentlich, die Silvesternacht so lautstark zu feiern? Was unterscheidet den 31. Dezember – sagen wir – vom 7. Juli? Auf einen Tag folgt die Nacht und so Gott will wieder ein neuer Morgen. Was ist so anders am 31.12. eines Jahres? Eine Antwort könnte in dem uns allen bekannten Silvesterbrauch liegen: Das Feuerwerk und die Knallerei, die damit verbunden ist. Ihr werdet mir nachsehen, dass ich kein Freund dessen bin. Nicht nur, dass viele Lebewesen, vor allem die Tiere aufgrund des Krachs in – im wahrsten Sinn des Wortes – tierische Angst geraten, es werden dazu Unmengen von Geld ausgegeben und in wenigen Augenblicken gehen Millionen von Euro in Rauch auf. Dennoch, ein Gutes hat die Knallerei, so ungern ich dies auch zugebe: Sie verunmöglicht einzuschlafen; den Augenblick der Jahreswende kann man schwerlich verschlafen.
Jede und jeder von uns mag mit einem ganz persönlichen Vorsatz in das neue Jahr hineingegangen sein, aber teilhaben am Leben und vor allem Leben mitgestalten, das wollen wir alle. Wir wollen das Leben nicht verschlafen. Leider steht dem ein anderer Wunsch sozusagen diametral entgegen: Wir scheuen die Veränderung und verharren lieber im Gewohnten. Antonio Gramsci, ein italienischer Schriftsteller, der Anfang des 20 Jahrhunderts auch die kommunistische Partei in Italien mitgründete, hat es einmal wie folgt zum Ausdruck gebracht. Er schrieb einmal, die Feiern zum Jahreswechsel wollen glauben machen, „dass es vom einen Jahr zum anderen eine Auflösung der Kontinuität gäbe und dass eine neue Geschichte begänne und man Vorsätze entwickelt und Fehler bereut usw.…“. Es lohnt sich, einmal über diese Lebensbremse nachzudenken. Gramsci’s Beobachtung scheint mir sehr realistisch zu sein. Wir bauschen den Jahreswechsel in einem hohen Maße auf mit guten Vorsätzen und dem Wunsch, punkt um Mitternacht begänne etwas gänzlich Neues und nach dem Rausch der Nacht läuft das Leben in den gewohnten Bahnen weiter wie zuvor. Wir träumen davon, uns den Herausforderungen des Lebens ganz neu und mit neuen Ideen zu stellen, offenherzig, vielleicht sogar ungeschützt, ohne die vielen arrangierten Absicherungen, die wir um uns herum aufstellen. Und dann werden wir doch schnell wieder von der Krankheit der Behäbigkeit eingefangen. In dieser Diskrepanz feiern wir die Silvesternacht, wünschen uns das Blaue vom Himmel herunter, um dann nach ausgeschlafenem Rausch wieder zum Alltag zurückzukehren.
So erschienen mir auch viele Reden zum Jahreswechsel, Ansprachen von kirchlichen Würdenträgern ebenso wie von politisch verantwortlichen Menschen. Man spürt instinktiv, ob Worte aus innerer Überzeugung gesprochen werden oder ob sie zur Beruhigung der Allgemeinheit auswendig gesagt werden. Wir spüren an allen Ecken und Kanten, dass ein „Weiter so“ schnurstracks in den Abgrund führen wird, dass eine verängstigte Kontinuität den Vertrauensverlust in der Kirche wie auch in der Politik nicht aufhalten kann. Aus Sorge ist bei vielen inzwischen Frustration geworden und der Weg ist nicht weit, dass der Frust umschlägt in Gleichgültigkeit. Wenn wir das Leben nicht verschlafen wollen, dann muss sich 2019 vieles grundsätzlich ändern, dann müssen wir uns grundsätzlich ändern.
Ich möchte mir nicht vorstellen, wie die Welt heute aussehen würde, wenn nicht drei weise Männer einem Stern gefolgt wären, wenn sie einfach so weiter gelebt hätten, wie vor der Ansicht dieses lockenden Lichtes. Und wie sähe die Welt heute aus, wenn die drei weisen Fremden nach dem Besuch in Bethlehem – wie von Herodes erbeten – zu ihm zurück gegangen wären und erzählt, ja gepetzt hätten, wo der menschgewordene Gott liegt. Diese drei Männer haben sich verleiten lassen, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und mit Gottvertrauen ein neues Leben zu beginnen. Sie zeigen: Ein Neuanfang ist nicht an ein bestimmtes Datum gebunden, wohl aber an eine tragfähige Überzeugung. Gottvertrauen ist das Gegenteil von Kontinuität. Gottvertrauen führt in ein unüberschaubares Abenteuer. Gottvertrauen revolutioniert das Leben und ermutigt zu einer erneuernden Unzufriedenheit. Und vor allem: Gottvertrauen schenkt eine grenzenlose Phantasie, die Schöpfung Gottes zu bewahren.
Ich lass mich zu einem maßlosen Gedanken hinreißen: Das Jahr 2019 wird zu einem Schicksalsjahr werden.
• Im Februar wird sich bewahrheiten müssen, ob die katholische Kirche wirklich aus dem Missbrauchsskandal zu lernen fähig sein wird. Ja, ohne Frage muss die Kirche die Opfer in den Mittelpunkt ihres Erneuerungsprozesses stellen; aber Worte alleine werden nicht reichen. Die Opfer, denen Kleriker unbeschreibliches Leid zugefügt haben, schreien nach ihrer verlorengegangenen Würde; sie schreien aber auch danach, dass die Machtstrukturen in der Kirche endlich grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Strukturen der Macht sind es, die den Priestern und Verantwortlichen der Kirche Gelegenheiten eröffnen, Menschen zu missbrauchen an Leib und Seele. Papst, Bischöfe, Priester sind nicht Herren über den Glauben der Menschen, sie sind Diener der Würde und Rechtschaffenheit eines jeden Menschen. Die Arroganz, die mit der Aussage verbunden ist, die Kirche sei Wächterin des Glaubens, muss endgültig gebrochen werden.
• Im Mai wird in Europa ein neues Parlament gewählt. Es entscheidet sich auf lange Zeit hin, ob Europa mehr ist als nur ein Binnenraum, der der Wirtschaft und der Industrie Sicherheiten und Vorteile garantiert, oder ob Europa eine Verwirklichung dessen ist, was man umschreiben könnte mit einem Lebensraum, der Kulturen, Sprachen und Glaubensüberzeugungen miteinander friedlich und einander bereichernd verbindet. Es gilt nicht, ein vermeintlich christliches Abendland zu verteidigen, es gilt vielmehr die Menschen zu stärken, in der Verschiedenheit ein Lebensgeschenk zu erkennen.
• Und noch ein letztes, weniger öffentliches Geschehen: Seit einem Jahr steht die kath. Hochschulgemeinde Aachen unter der Aufsicht der Innenrevision des Bistums Aachen. Ja, es ist gut, dass kontrolliert wird, wie wir mit öffentlichen Geldern umgehen. Keiner von uns ist perfekt und wir machen Fehler. Besitz beinhaltet immer auch ein hohes Maß an Verantwortung. Aber es geht noch um mehr; es geht um die grundsätzliche Frage, ob die Aachener Kirche sich ihrer diakonalen Verantwortung stellt, oder ob sie sich auf ein spirituelles Abstellgleis manövriert und die tatkräftige Hilfe für in Not geratene Studierende einer reinen Verwaltungskultur opfert.
Jeder und jedem einzelnen von uns wünsche ich einen Stern, der uns allen leuchten möge, damit wir das Leben nicht verschlafen. Denn Leben vollzieht sich immer im Hier und Jetzt und Heute. Dietrich Bonhoeffer stellte schon fest: „Mag sein, dass morgen der jüngste Tag anbricht. Dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen – vorher aber nicht“.
Christoph Simonsen

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23. Dezember – 4. Sonntag im Advent im Lesejahr C – 2018

Irgendwie ist vieles anders

Irgendwie ist in diesen Tagen vor Weihnachten doch vieles anders. Da ist sicher, sichtbar für viele, wenn wir durch die Straßen gehen, ein spürbares Potential von Hektik, Unruhe, Nervosität. Andererseits: Es vergeht kaum ein Gespräch, wo man nicht zum Schluss zuspricht: ‚Übrigens, schöne Feiertage‘, oder ‚Wenn wir uns nicht mehr sehen, ich wünsch dir frohe Weihnachten‘. Bei allem Rummel, irgendwie ist auch ein wunderschön spürbares Maß an Aufmerksamkeit da und wir sind einander noch einmal anders zugewandt als sonst im Jahr. Irgendwie ist was anders in diesen Tagen.
Dieses ‚irgendwie‘ klingt zunächst banal, unverbindlich, oberflächlich. Ist es aber nicht. Es ist Ausdruck und Zeichen einer sehr schönen Hoffnung, einer gemeinsamen Hoffnung: Es geht! Es gelingt. Es gelingt, dass Menschen einander zuwenden, sich verbunden fühlen und einander in einer Weise begegnen, die etwas verändert.
Es gelingt, dass Menschen, miteinander ins Gespräch kommen und dieses Gespräch etwas in Bewegung bringt, was man so im ersten Moment gar nicht in Worte fassen kann. Da ist nicht mehr als ein stimmiges und tragendes Gefühl spürbar: aber dieser Augenblick, diese Begegnung, dieser kurze Blick bewirkt etwas. Herbert Grönemeyer spricht in seinem neuen Lied von „Sekundenglück“. „Es sind die einzigartigen tausendstel Momente. Das ist, was man Sekundenglück nennt.“ Kleine Momente, unverhoffte Geschenke, ein Blick, ein Lächeln: Und alles ist auf einmal anders.
Wir erregen uns immer wieder darüber, dass unsere Welt so starr, so nationalistisch starr, so ausgrenzend starr geworden ist, da ist es doch mehr als nur ein unbedeutendes Symbol, wenn wir Starrheit und Ausgrenzung in unserer kleinen alltäglichen Welt überwinden und einander einladend anschauen begegnen und im Kleinen einander und der Welt beweisen, dass das geht: In Verschiedenheit eine Verbundenheit zu erfahren. Wer, wie in diesen Tagen so oft, zusammen singt und betet und dabei ein Gespür dafür entwickelt, Unterschiedlichkeiten aufheben zu können, der kann auch mehr: Der kann auch zusammen in Frieden leben, nicht nur während eines Gottesdienstes. Wohin will mich diese Feier führen? Dahin, Starrheiten zu überwinden und zur Einladung für andere zu werden.
Wir hören heute, wie zwei Frauen einander begegnen. Die eine hat einen langen Weg zurückgelegt, von Nazareth in das Bergland von Judäa. Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes über Berg und Tal gegangen, das schwangere Mädchen Maria. Sie ist über Höhen gegangen und durch Tiefen des Bewusstseins, des Denkens und Fühlens, des Hoffens und Befürchtens, der Angst und der Zuversicht. Menschen, die zu einer wirklichen Begegnung sind, zu einer wirklichen Begegnung und nicht nur zu einem Date, die erfahren, dass zu einem wirklichen Leben Höhen und Tiefen dazu gehören. Wenn wir hier auch nicht so viel voneinander wissen, so ahnen wir doch, dass auch zu unser aller Leben Höhen und Tiefen gehören, schöne und schwere Stunden. Indem wir hier miteinander feiern, tragen wir all das mit. Und das tut gut. Mir tut es gut und ich hoffe, euch nicht minder.

Die beiden Frauen, Elisabeth und Maria, sind in Hoffnung, sie tragen Leben in sich. Nur, wenn wir Leben in uns tragen, sind wir auch fähig, einander wirklich zu begegnen. Nur, wenn wir daran glauben, fähig zu sein dafür, einander Leben zu schenken, ereignen sich zwischen uns wirkliche Begegnungen. Zu einer wirklichen Begegnung gehört es nämlich, aufgeschlossen zu sein für neues, werdendes Leben.
So kurz vor dem Weihnachtsfest ist das mein Wunsch an uns alle: Dass wir einander so begegnen, dass wir des anderen Fruchtbarkeit erkennen.
Elisabeth sagt es zu Maria: „Selig, die geglaubt hat, dass in Erfüllung geht, was dir vom Herrn versprochen wurde.“ Sie erkennt, dass Maria ein wunderbares Leben in sich trägt: volles Leben, heilbringendes Leben, göttliches Leben. Und ich wünsche uns, dass wir das auch erkennen, wenn wir einander begegnen, dass wir wundersames Leben in uns tragen, das geboren werden möchte in unsere Zeit hinein, in unsere Welt hinein.
Das schönste Geschenk in diesen Tage könnte sein, wenn wir einander zusprechen in unseren Begegnungen: „Du bist gesegnet, denn du trägst neues Leben in dir. In diesem Sinne wünsche ich Euch fruchtbare und heilbringende Begegnungen und ein Leben schenkendes Weihnachtsfest.

Christoph Simonsen

16. Dezember – 3. Sonntag im Advent im Lesejahr C – 2018

Evangelium: Lukas 3,10-18
Da fragten ihn die Leute: Was sollen wir also tun? Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso. Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun? Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold! Das Volk war voll Erwartung und alle überlegten im Stillen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Messias sei. Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen und den Weizen in seine Scheune zu bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen. Mit diesen und vielen anderen Worten ermahnte er das Volk in seiner Predigt.

Ist ja noch was Zeit bis zum Fest
Es gibt Worte, die möchte man nicht hören. Die machen einen widerspenstig, erinnern daran, dass man eben doch ein kleiner Schweinehund ist. Von wegen zwei Gewänder, einen ganzen Schrank voll hab ich, und geteilt wird, was sowieso weg kann. Und was den Sold angeht, da beziehe ich mich doch lieber auf ein anderes Wort der Heiligen Schrift: „Wer arbeitet, hat auch Anrecht auf Lohn“. So wird ein Schuh draus, und dabei geht’s gar nicht in erster Linie um‘s Geld, ich will Anerkennung für das, was ich getan habe. Gehalt muss stimmen, aber die Connection nach oben sind mindestens ebenso wichtig. Kontaktpflege ist unabdingbar; gute Vernetzung ist heutzutage alles. Wenigstens misshandeln tu ich keinen, da bin ich sauber. Trotzdem, wenn die Spreu vom Weizen getrennt wird…. Sicher bin ich mir da nicht, wo ich da landen werde. Könnte so eine erste Reaktion sein auf das gerade Gehörte?
Es gibt Worte, die möchte man nicht hören. Sie erinnern einen an die permanent gelebte Unvollkommenheit und an die Angst vor den Konsequenzen des eigenen Handelns. Das ist nicht nett, so kurz vor Weihnachten den Finger in die Wunden gelegt zu bekommen. Nichts geht über ein sorgenfreies, unbekümmertes Fest. „Frieden den Menschen auf Erden“, wenigstens den eigenen Hausfrieden. Die Vorstellung, im nie erlöschenden Feuer zu verbrennen, die kann einem diesen weihnachtlichen Hausfrieden schon ziemlich madig machen.
Will genau das dieser komische Mann in der Wüste erreichen: den Menschen ein schlechtes Gewissen machen kurz vor Weihnachten? Er muss doch wissen: Drohungen erzeugen Abwehr. Menschen, die mir drohen, denen versuche ich aus dem Weg zu gehen, oder ich gehe in eine unliebsame Verteidigungshaltung hinein. Keine schöne Atmosphäre.
Tauchen wir etwas tiefer in die Geschichte ein, und da wird etwas Bemerkenswertes als Erstes deutlich: Die Leute, die da zu Johannes hingehen, die gehen ja freiwillig da hin; keiner zwingt sie. Es mag vielleicht ein wenig Neugierde da sein: mal gucken, was da für ein komischer Kauz in der Wüste lebt. Aber das allein kann das Interesse der Menschen nicht erklären. Sie hängen ihm ja buchstäblich an den Lippen und das sind sicher nicht alles Masochisten, die sich freiwillig die Seele in Stücke reißen lassen wollen. Johannes ist nicht zimperlich. Was wir heute nicht gehört haben ist, dass Johannes die Menschen vorher ziemlich gehörig zur Schnecke gemacht hat. Als Schlangenbrut hat er sie bezeichnet und dass sie dem Gericht Gottes nicht entkommen können; alle, die die Chancen ihres Lebens vertun, werden umgehauen und ins Feuer geworfen. Ja und das hören wir dann ja heute auch wieder. Johannes ist so richtig geladen. Und trotzdem: Die Menschen hängen an seinen Lippen und fragen dann, was sie tun sollen. Johannes hat den Menschen mehr als deutlich die Leviten gelesen, so richtig Tacheles geredet und sie hätten allen Grund, beleidigt abzuziehen. Wer lässt sich schon gern vor versammelter Mannschaft runterputzen?
Ein Satz im heutigen Evangelium erklärt vielleicht die Situation. „Das Volk war voll Erwartung.“ Das scheint zunächst höchst widersprüchlich. Die Johannes da fragten, das waren alles wohlsituierte Leute, achtsame Bürger, denen es gut ging, die ein sorgenfreies Leben führen konnten: Ehrbare Bürger, Soldaten, Zollbeamte.
So drastisch Johannes in seiner Wortwahl war, so charismatisch muss er gewesen sein. Mit mahnenden Worten ermutigen, das kann noch lange nicht jeder. Johannes ist das gelungen. Und wie? Er hat in den Menschen eine Erwartung geweckt, die in ihnen verborgen schon lebendig war. Sie haben sich nur nicht getraut, sich diese zuzugestehen. Die Menschen hatten ein festes Bild: von Gott, vom Leben, von ihrem Verständnis von Verantwortungsbewusstsein und Gerechtigkeit. Johannes gelingt es, die Menschen mitzunehmen und zugleich ihren Glauben zu weiten, hin zu einem Gottesbild, das unabhängig ist von Ritualen und Traditionen, hin zu einem Gott, der anders ist als je Menschen ihn sich vorstellen können, der anders ist und doch ihnen gleich, hin zu einem Gott, der verbindet, wo sie gewohnt waren, in Klassen und Rassen zu denken, hin zu einem Gott, für den Gerechtigkeit Auftrag ist, den anderen genauso im Blick zu haben wie sich selbst. Johannes bereitet den Weg, dass sich die Menschen von jahrhundertalten Traditionen befreien können und offen werden für die Frage, die allein Zukunft verheißt: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Wer uns wohl in diesen verbleibenden Tagen vor dem Weihnachtsfest mal die Leviten lesen kann, damit wir wieder auf das Wesentliche des Lebens gestoßen werden? Es sind ja noch ein paar Tage Zeit, dass wir in die Wüste gehen können.
Christoph Simonsen

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 09. Dezember – 2. Sonntag im Advent im Lesejahr C – 2018

Evangelium: Lukas 3,1-6
Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajaphas. Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden. So erfüllte sich, was im Buch der Reden des Propheten Jesaja steht: Eine Stimme ruft in der Wüste: / Bereitet dem Herrn den Weg! / Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, /jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, / was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.

Die Frage nach Gott
Da gehen also Menschen hinaus in die Wüste, weil da jemand lebt, der ihnen etwas zu sagen hat. Da – abseits in der Wüste – lebt jemand, der eine große Anziehungskraft auf die Menschen hat. Solche Typen gibt’s heute auch. Aber Achtung: Es gibt auch Blender; Menschen also, die anziehend wirken, aber ihre Botschaft ist – anders als bei Johannes – nur Mittel zum Zweck, zum Zweck nämlich, sich selbst groß machen zu wollen. So war Johannes nicht. Er war für andere Vorbild, geradlinig, unverstellt, ein Mensch mit Charakter, ein Mensch, der bei anderen etwas aufwecken, ja aufrütteln konnte, gerade weil er von sich ablenkte und einen anderen in den Mittelpunkt stellte. Johannes hat den Menschen eine Ahnung davon vermittelt, dass es sich lohnt, auf einen anderen zu warten. Dies nicht in erster Linie, um daraus eigenen Profit zu gewinnen für sich selbst, sondern für das Ganze, für sich und die anderen. Seine Botschaft unterscheidet den Künder Johannes von Blendern heutiger Tage.
Johannes vermochte, den Menschen Unangenehmes zu sagen und sie zugleich zu würdigen, groß zu machen, nicht klein. Er rief sie auf, umzukehren; er traute ihnen zu, eine Kehrtwende machen zu können in ihrem Leben, Neues auszuprobieren und Gewohntes hinter sich zu lassen. Seine Botschaft war sicher nicht bequem, schon gar nicht banal, ganz gewiss war sie herausfordernd, wohl auch befremdlich. Aber trotzdem haben die Menschen ihm großes Vertrauen entgegengebracht; für sie war Johannes ein Mensch, der Vertrauen ausstrahlte und der etwas in ihnen hervorlockte, was in ihrem Leben vielleicht verloren gegangen war: Der Glaube daran, dass der Glaube an das Größere, Geheimnisvolle, Göttliche zum Leben dazu gehört. Glaube ist jedem Menschen einverleibt. Es gibt ohne Zweifel böse Taten, aber es gibt keine rundweg bösen Kreaturen, weil der Mensch als Mensch ein Glaubender ist. Menschen Glauben an das Gute, an die Gerechtigkeit, glauben daran, dass Leben Sinn hat und Sinn schenkt. Glaube zielt auf Gutes, Verheißungsvolles. Glaube ist orientiert auf eine erträgliche Zukunft. Ich kenne keinen, der an das Böse glaubt. Selbst wer Böses tut, der tut es, weil er damit etwas erreichen will, was in seinen Augen gut ist. Johannes sagt es allen Menschen auf den Kopf zu: ‚In Dir ist Glaube! Entdecke ihn neu in dir und lebe, was du glaubst‘.
Das klingt sehr theoretisch, so wie eine Formel. Und Formeln haben in der Regel wenig mit dem konkreten wirklichen und alltäglichen Leben zu tun. Aber vielleicht können wir ja an uns selbst einmal überprüfen, ob wir gläubige Menschen sind, Menschen also, die Gutes im Sinn haben, die eine Ahnung in sich tragen von einem glückenden und gelingendem Leben; Menschen, die Umwelt und Geschöpfe zu ehren vermögen. Ich bin mir felsenfest sicher, dass wir dieser Prüfung standhalten und erkennen, dass wir gläubig sind. Glaube ist, weil wir Menschen sind. Glauben ist so wie auch das Leben ist. Glauben ist in der Welt, so wie das Leben in der Welt ist. Welt ohne Glauben ist nicht. Glauben ist so selbstverständlich, wie das Leben selbstverständlich ist.
Es gibt kein Leben ohne Glauben und Glaube ohne Leben ist widersinnig, denn Glaube kann nur dort sein, wo auch Leben ist. Also gehören Glauben und Leben untrennbar zusammen.
Bei dem bisher Gedachten tut sich jetzt aber eine Frage auf: Wenn Glaube und Leben zwei Seiten einer Wirklichkeit sind, wenn Glaube und Leben in der Welt sind, weil ohne sie die Welt nicht wäre, ist dann nicht die Idee eines Gottes, zumal eines personalen Gottes, überflüssig? Genügt die Welt (sich) nicht, weil in der Welt Leben und Glauben ist, braucht es noch etwas, was außerhalb der Welt ist? Hier ist Johannes nun mehr als eindeutig: Doch: es braucht einen personalen Gott, damit die Menschen sich ihrer Personalität gewiss sein können.
An dieser Frage haben sich damals und scheiden sich heute die Geister. Es gibt die Überzeugung, dass die Welt, so wie sie ist, eine autarke Wirklichkeit ist. Zu Johannes‘ Überzeugung gibt es auch eine gegenteilige Behauptung, nämlich diese: Diejenigen, die mit der Begrenztheit der Welt unzufrieden sind, würden das Ideal eines Gottes erfinden, der vollendet, was in der Welt unvollendet ist, so dass in allem Unsinn doch noch die Hoffnung eines Sinnes liegen könnte. Andere hängen der Überzeugung an, dass Welt und Leben ein Zufallsprodukt innerhalb des Kosmos darstellen mit Anfang und Ende. Wieder andere sind unentschlossen, können sich die Existenz eines Gottes vorstellen, rechnen aber lieber nicht mit ihm.
Faktum bei allen Gedankengängen aber ist, dass der Begriff „Gott“ in der Welt ist. Warum sollte der menschliche Geist einen Begriff und mit diesem verbunden eine Realität ins Wort nehmen, wenn damit nicht eine Verbindlichkeit verknüpft wäre.
Das ist wohl der Grund, warum seit Anbeginn der Welt die Frage nach Gott wach ist. Dass die Frage nach Gott im Raum ist, ist immer wieder Anlass dafür, die Existenz Gottes beweisen oder widerlegen zu wollen. So gibt es viele Bemühungen, die Existenz Gottes für unabdingbar zu halten. Der bekannteste Beweisversuch ist der ontologische Gottesbeweis des Thomas von Aquin. Und von ihm gibt es eine Reihe von Erläuterungen. Eine davon ist die Deutung durch den Bewegungsbeweis. Diese sagt: In der Welt ist überall Bewegung. Alles Bewegte wird von einem anderen bewegt, d.h. nichts kann sich selbst die erste Bewegung geben. Die bewegte Welt setzt einen von ihr verschiedenen Beweger voraus. Diese Gottsuche kann Naturwissenschaftler nicht unberührt lassen. Gott in der Stringenz menschlicher Logik beweisen zu wollen hat etwas Überzeugendes an sich, zumindest etwas nachdenklich Stimmendes. Die Existenz Gottes mit menschlichem Geist nachweisen zu wollen, das hat etwas. Aber es hat auch einen Haken: Denn wenn ich Gott mit meinem Geist beweisen kann, dann ist Gott unweigerlich ein Produkt meines Verstandes und damit unumgänglich auch an die Gesetze der Welt gebunden. Was aber an die Gegebenheiten dieser Welt gebunden ist, das kann doch nicht Gott sein. So widerlegen sich alle Gottesbeweise selbst. Gott zu beweisen beraubt ihn zugleich seiner Göttlichkeit, denn göttlich ist nur, was nicht menschlich ist.
Obwohl also der Begriff „Gott“ in der Welt ist, kann seine Wirklichkeit doch nur außerhalb dieser Welt liegen, denn Weltliches kann nicht göttlich sein. Einzig die Tatsache, dass die Begrifflichkeit „Gott“ in der Welt ist, weist in der Welt auf die Existenz Gottes hin. Gott muss also außerhalb dieser Welt sein. Alles, was in der Welt ist, vermag auf Gott hinzuweisen, ist Verweis auf Gott, aber niemals Gott selbst. Dass wir Menschen glauben, dass wir zum Guten und Heilen streben, dass wir von Sehnsucht erfüllt sind, dass wir nach Höherem und Größerem streben, all das verweist auf Gott und macht uns ein Leben lang zu Gott-Suchern. Johannes weckte in den Menschen damals diese Hoffnung neu, dass sie diesen Gott, diesen personalen Gott, diesen menschwerdenden Gott finden werden, wenn sie sich selbst wieder erkennen als erwartungsvolle Menschen, die aus eben dieser Erwartung heraus zu Unerwartbarem fähig werden, nämlich menschlich Mensch zu sein.

Christoph Simonsen

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02. Dezember – Erster Advent im Lesejahr C- 2018

Evangelium: Lukas 21,25-28
Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen; denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen sehen. Wenn (all) das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe.

Lerne zu leben
Von wem lernen wir, wie Leben geht? Wir lernen viel, wenn der Tag lang ist; wir lernen sogar, wie man am effektivsten lernt, wenn man sich zum Beispiel auf Klausuren oder Prüfungen vorbereiten muss. Aber leben zu erlernen, dazu ist mir bisher keine Methode mit Erfolgsgarantie bekannt. Reingeworfen werden wir ins Leben, ungefragt, so wie wir gezeugt werden, ungefragt. Der Beginn, der allererste Beginn unseres Lebens mag Liebe gewesen sein, aber die Welt, in die hinein wir geboren werden, die ist so wirr und so verstörend, wie es eben im heutigen Evangelium beschrieben ist. Realistischer kann ein Bibeltext kaum sein. Die Meere toben, Völker sind bestürzt und Menschen sind von Angst getrieben. In dieser Unordnung, in diesem Chaos sollen und müssen wir leben. Von wem lernen wir, uns in dieser Welt zurecht zu finden? Wer bringt uns bei, in dieser Welt nicht nur zu überleben, sondern wahrhaftig und erfüllend zu leben?
Die Botschaft des Evangeliums heute zu Beginn der Adventzeit hat es in sich. Und – ich kann es nicht anders sagen – sie lädt nun wirklich nicht ein zu Rorate Gottesdiensten bei Kerzenschein oder zu gemütlichen Glühweintreffen auf dem Weihnachtsmarkt. Sie beschreibt zum einen die Welt in einer Weise ungeschönt, wie man es deutlicher nicht schreiben könnte und sie macht zum anderen ernst mit der Tatsache, dass alles Leben an ein unwiderrufliches Ende kommt. Sich dieser Wirklichkeit zu stellen, dazu sind wir aufgefordert. Besinnliche Worte hören sich anders an. Advent ist nicht in erster Linie eine Wohlfühlzeit; es ist vielmehr eine Zeit, in der sich existentielle Fragen in den Vordergrund drängen: Was erwarten wir vom Leben und von wem erwarten wir Hilfe und Beistand, der uns das Leben lehren könnte? Eine weitere Frage schließt sich an: Was ist das Ziel meines/ unseres Lebens und wie geh ich/ gehen wir auf dieses Ziel zu? Diese lebens- und sterbenswichtigen Fragen gilt es herunter zu brechen in das konkrete Leben.
Am vergangenen Dienstag habe ich einen lieben alten Freund getroffen. Meistens läuft das zwischen uns so ab: Ich bekomme eine Mail mit der unmissverständlichen Frage „Bierchen?“ Und ich antworte direkt hinterher: „Klar gern, wann und wo?“ Wir kennen uns schon ewig aus Zeiten, wo ich noch Kaplan war, und das ist 35 Jahre her. Dann haben sich unsere Wege in ganz verschiedene Himmelsrichtungen verzweigt und jetzt wohnt er mit seiner Familie – was für ein Zufall – auch in Aachen. Und so alle halbe Jahre treffen wir uns dann auf ein besagtes Bierchen. Wir stellen uns im Gespräch dann die Fragen, die Menschen sich oft stellen: ‚Wie geht es dir? Was machst du so? Womit beschäftigst du dich gerade? Wie sehen deine nächsten Pläne aus?‘ Eigentlich sind das Allerweltsfragen, die man sich so im Vorübergehen auf der Straße stellt. Aber hier in unserem Gespräch entfalten sie einen ernst nachdenklichen Tiefgang. Von wem lernen wir das Leben? Von Menschen, die uns die richtigen Fragen stellen und die wirklich neugierig und interessiert auf unsere Antworten sind. Von Menschen, die in die Seele und das Herz schauen möchten, ohne darin mit Gewalt einbrechen zu wollen. Von Menschen, die nicht weglaufen vor der Wirklichkeit, sich aber auch nicht von ihr beherrschen lassen wollen. So geht mir ein Gedanke nach, der am Dienstag in unserem Gespräch aufgekommen ist: ‚Es ist nicht leicht, in unserer Zeit heute positiv zu denken.‘
Und wir zählten auf, woran wir uns gerade reiben, was uns fassungslos macht: Mein Freund entsetzte sich über die Präsidentenwahl in Brasilien, wo ein nationalistischer, homophober, radikaler und die Gesellschaft spaltender Kandidat die Wahl gewonnen hat. Er selbst ist sehr vertraut mit diesem großen und wunderbaren lateinamerikanischen Land und seine Erklärung war so einfach wie verstörend: die Reichen und die Mittelschicht des Landes können einfach nicht ertragen, dass die Kleinen und die Armen auch ihre Rechte einfordern. Das zu verhindern, dazu sei der neue Präsident gerade der Richtige. Ein anderes Thema, das einen den Pessimismus lehren könnte, war die Stimmungslage in Europa, hier vor unserer Haustür und die Angst vor nationalistischen Strömungen, die auch hier zu spüren sind. ‚Es ist nicht leicht, in unserer Zeit positiv zu denken‘. Viel leichter ist es, in Jammern und Klagen, auch Anklagen zu verfallen.
Wir könnten die nächste Zeit nutzen, unser Denken und Fühlen genauer anzuschauen und uns fragen, ob und wie es uns gelingt, in unseren Begegnungen konstruktiv, positiv, wohlwollend und zugleich doch auch realistisch ins Gespräch zu kommen. Zu leben lernen wir, indem wir das Leben zu unserem Thema machen.
Deshalb ist Gott Mensch geworden, um uns zu lehren, positiv auf das Leben zuzugehen, auch und gerade, weil es uns immer wieder Lügen straft und zerreißend und zerstörend ist. In der Menschwerdung seines Sohnes hat er es vorgemacht. Kalt war es damals, düster und scheinbar aussichtslos und fake News gab es damals wie heute. Um Gott zu gefallen leben wir, sagt Paulus. Also um dem zu gefallen, der positiv, zuversichtlich und menschenfreundlich auf das Leben in dieser Welt geschaut hat. Vollkommener zu werden darin, in dieser Weise Gott zu gefallen, dazu sollen und können wir einander behilflich sein. Und dann wären wir zweifelsohne gute Lehrmeister des Lebens.
Christoph Simonsen

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25. November – Fest Christkönig im Lesejahr B – 2018

Evangelium: Johannes 18,33-37
Pilatus ging wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben es dir andere über mich gesagt? Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier. Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.

Shitstorm anno dazumal
Wir müssen heute einem Schlagabtausch beiwohnen, wie er heutzutage leider keine Seltenheit ist. Der Tatort vom vergangenen Sonntag ist der beste Beweis dafür. Wer den Film nicht gesehen hat: Nachbarn tun sich zusammen, um einer Einbruchsserie in ihrer Siedlung entgegenzuwirken. Und da ist ihnen jedes Mittel recht, unter anderem auch ein Aufruf im Internet, der mit falschen Informationen Hass und Hetze schürt und die harmlose Einbrecherin, die selbst als osteuropäische minderjährige Frau unerwünschte Person im Land ist, zum gejagten Tier stempelt. Worte verkommen zur Waffe, Worte verletzen, vernichten, stellen Menschen ein für alle Mal bloß.
Menschen beäugen sich einander. Fremdbilder vom anderen werden zum alleingültigen Maßstab erhoben. Vorurteile werden zu Urteilen und alle Kraft wird darauf verwendet, eine Strategie zu entwickeln, die/den anderen auszuschalten. Begegnungen sind dann nicht mehr ergebnisoffen, sie sind nur noch Mittel zum Zweck.
Pilatus will eigentlich gar nicht mit Jesus reden. Das Gespräch ist ihm aufgedrängt worden. Die ganze Situation ist ihm unangenehm, er will eigentlich nur mit heilem Kopf aus dieser ganzen Geschichte herauskommen und das möglichst schnell und unauffällig. Ihm ist dieser Jesus zwar auch irgendwie suspekt, er versteht ihn nicht. Die Hohenpriester mögen ihren Streit mit diesem Jesus haben, und das Volk (wer ist eigentlich „das Volk“?) mag sich an ihm reiben, aber was hat er, Pilatus, damit am Hut? Für ihn ist dieser Jesus irgendwie ein religiöser Spinner, einer, der zu gut ist für diese Welt, einer der vielen, die nicht in das System hineinpassen; ihn aber deshalb verurteilen: wenn er damit anfangen würde, dann hätte er ja viel zu tun den lieben langen Tag. Aber der Shitstorm der Masse nimmt im letzten auch ihn gefangen. Er macht mit, ohne eigenständig zu denken, geschweige denn zu handeln.
Jesus ist das Gespräch mit Pilatus aufgenötigt worden. Er ist der Angeklagte, Pilatus ist der Richter. Von vornherein ist Jesus in der schlechteren Position. Er hätte allen Grund, auf der Hut zu sein, mit Bedacht zu reden. Ihm w eine Strategie gegönnt, aus dieser Lage wieder heil herauszufinden. Denn er kann sagen, was er will, er wird keine Chance bekommen. Und genau so ist es: Jesus hat keine Chance. Was immer auch passieren wird, er wird der Verlierer sein. Was immer er sagen wird, es wird ihn den Kopf kosten, bzw. das Genick brechen.
Zwei Menschen in einem sinnlosen Gespräch; deshalb sinnlos, weil der eine gelangweilt ist und der andere chancenlos. Es ist kein Gespräch auf Augenhöhe. Es ist ein Gespräch der ungleichen Verhältnisse. Es ist ein zutiefst sittenloses Gespräch.
In Pilatus und Jesus begegnen sich zwei Welten. Es ist wirklich so: Die Welt des Pilatus ist nicht die Welt des Jesus. Jeder ist in seiner Welt König. Sie stehen sich gegenüber, können einander berühren, wenn sie wollten, stehen auf demselben Grund, sind umgeben von den gleichen Mauern, atmen die gleiche Luft, hören die gleichen Geräusche um sich herum. Es bedarf keines Beweises, um sicher zu sein, dass sie in einer Welt leben; und doch trennen sie Welten. Pilatus ist König aus der Gnade des Kaisers, Jesus ist König aus der Gnade des Schöpfers. Der eine hat womöglich ein Zertifikat, unterschrieben vom Kaiser, der andere steht mit leeren Händen da. Der eine könnte mit Garnisonen sein Machtpotential unter Beweis stellen, der andere kämpft einsam und allein im ungleichen Wortgefecht.
Begegnungen dieser Art sind bis heute keine Seltenheit. Gespräche dieser Art sind an der Tagesordnung dieser Welt. Wir gestalten – seien wir doch ehrlich – auch solche Begegnungen. Wir entwickeln solche Schlagabtausche, führen Gespräche in ungleichen Welten, gleichwohl wir im gleichen Raum stehen. Die Frage ist, ob wir dem Anspruch genügen, Zeuginnen und Zeugen der Wahrheit zu sein. Der Wahrheit, die sich ohne Garnisonen und Machtkalkül behaupten kann. Legen wir Zeugnis ab für die Wahrheit, die sich auf Gott berufen kann. Wenn ja, dann wären auch wir Königinnen und Könige: nicht von dieser Welt, aber für diese Welt.
Christoph Simonsen

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18. November 2018 – 33. Sonntag im Jahreskreis B

Evangelium Mk 13, 24-32:
Aber in jenen Tagen, nach der großen Not, wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen. Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr (all) das geschehen seht, dass das Ende vor der Tür steht. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.

Heute beginnt der Weltuntergang
Am vergangenen Sonntag haben wir ja bereits des Heiligen Martin gedacht, diesem Edelmann, der zwar hoch zu Ross gesessen ist, sich aber nicht zu schade war, herabzusteigen, um einem Bettler die Hälfte seines Mantels zu schenken. So konnte der arme Mann sich wärmen – mitten im kalten Winter. Und ohne ein Geheimnis zu verraten, gleich nach unserem Gottesdienst dürfen wir uns noch einmal in unsere Kindheit zurück beamen, Sankt Martin Lieder singen und uns gemeinsam an der Erkenntnis erfreuen, wie schön es sein kann, wenn Menschen miteinander teilen, was sie haben. „Wenn jeder gibt, was er hat, dann werden alle satt“ und auch das ist wahr: dann wird allen warm. Könnten wir dann nicht dankbar und zufrieden sein, wenn wir das erreicht haben: Eine Welt, in der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Hand in Hand miteinanderwalten und alle Menschen ohne Klassen- und Rassenunterschiede in Eintracht miteinander auskommen?

Sich dieser Aufgabe zu widmen ist doch Herausforderung genug angesichts einer Welt, in der so viele Menschen buchstäblich erfrieren, verhungern, verdursten und auf vielerlei Weise ausgestoßen am Rande stehen? Diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit zuerst überhaupt einmal als einen Makel wahrzunehmen und sich verpflichtet zu fühlen, dem mit allen Kräften entgegenzuwirken, hätten wir damit nicht genug zu tun und eine Lebensaufgabe aufgetragen bekommen – buchstäblich für ein ganzes Leben? Sollen wir uns dann auch noch mit Fragen beschäftigen, die unseren Horizont übersteigen und ins Unendliche führen?

Im ersten Zuhören erscheint es so, als würden uns die heutigen Worte Jesu nicht nur in eine andere Welt führen, sondern darüber hinaus auch in eine Mauer aus Angst und Bitterkeit einengen wollen. Wenn Himmel und Erde sowieso vergehen, was soll uns dann der arme Mann auf der Straße noch kümmern? Wenn sowieso alles Zugrunde geht, was Menschen sich füreinander aufbauen, warum sich dann noch mühen und anstrengen, dann soll doch jede und jeder machen was er und sie will. Zum Schluss werden doch eh alle in einen Topf geschmissen. Wenigstens bis dahin will man sich das Leben so angenehm wie möglich machen.
Weltuntergangsstimmung macht entweder zynisch oder ängstlich, und beide Befindlichkeiten werfen einen auf sich selbst zurück. Ein „Du“ oder sogar ein „wir“ findet keinen Platz mehr im Kopf und im Herzen; was einzig zählt ist die eigene Haut; nur so kann das Leben für einen noch Sinn machen. Weltuntergang, der ein absolutes Ende bedeutet, macht das Leben zu einem Überlebenskampf. „Nur die Harten kommen durch“. Das einzige, was wir brauchen, sind Schutzanzug und Boxhandschuhe.

Klar, dieses Szenario erschreckt uns alle. Aber spiegelt es nicht doch ein Stück unserer Wirklichkeit wieder? Vielen in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft gleicht das Leben doch einem Kampf, Erster, Bester, Größter, Erfolgreichster, Intelligentester zu sein oder zu werden. Die Qualität des Lebens misst sich an dem Platz, auf dem man steht: vorne oder hinten. Nichts gegen eine gesunde Portion Ehrgeiz und Selbstbewusstsein und auch nichts gegen ein gutes Quantum Leistungsbewusstsein. Aber wenn die Triebfeder all dessen ist, hier und heute deshalb das Beste herauszuholen, weil nur das hier und das heute zählt, dann bleibt nicht aus, dass unsere Erde zu einem einzigen Schlachtfeld wird, wo jeder gegen jeden kämpft.

Der Weltuntergang, den Jesus zeichnet, hat ein anderes Gesicht. Er malt nicht ein Bild vom Ende, sondern von der Voll-Endung. Nicht, dass das Leben an ein unweigerliches Ende kommt, ist vorrangig, sondern dass das Leben vollendet wird. Ohne die letzte Begrenztheit des Lebens zu verschweigen, verheißt Jesus aber darüber hinaus, dass alles Leben eben nicht nur endet, sondern voll-endet im wahrsten Sinn des Wortes. Das Leben endet voll. Nicht aus eigener Kraft, sondern aus verheißener und geschenkter Zu-Gabe. So, wie der Feigenbaum nicht aus sich selbst heraus Frucht tragen kann, sondern nur, wenn er gepflegt wird, wenn er bewässert und beschnitten wird, so wird auch unser Leben Frucht bringen, wenn wir erkennen, dass wir bei all unseren Fähigkeiten immer auch bedürftige und auch abhängige Wesen sind und wir dann Frucht bringen, wenn wir unsere eigenen Möglichkeiten zu ergänzen bereit sind mit dem, was außerhalb unserer Kraft liegt. Voll-Endung ist kein Endpunkt, den man mit einem Datum benennen könnte; Voll-Endung ist Lebensaufgabe. Wer der Verheißung der Voll-Endung vertraut, der sieht das Leben als Gabe und Aufgabe. Voll-Endung ist Leben hier und jetzt; aber eben nicht einzig darum, das Leben für sich zu krallen und anzuhäufen, sondern um Frucht zu bringen. Frucht, die der Welt, die den anderen schmeckt und die Welt und die Menschen sättigt.
Deswegen sind nicht die Boxhandschuhe und der Schutzanzug die Garanten des Lebens, sondern die offene Hand und das offene Herz.
Der heilige Martin hat dem armen Mann seinen Mantel, mehr noch aber seine offene Hand und sein weites Herz geschenkt. Mir ist der heilige Martin nicht nur eine träumerische Kindheitserinnerung, mit ist er bis heute lebendiger Verweis darauf, dass ein Mensch, der auf die Voll-endung durch Gott vertraut, sich den Menschen und der Welt verpflichtet weiß.
Christoph Simonsen

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11. November – 32. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Markus 12,38-44
Er lehrte sie und sagte: Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Straßen und Plätzen grüßt, und sie wollen in der Synagoge die vordersten Sitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Aber um so härter wird das Urteil sein, das sie erwartet. Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.

Als Mensch sind wir einander verpflichtet
„Lasst uns froh und munter sein und uns heut im Herrn erfreu’n. Lustig, lustig tralalarallalla; heut ist Martins Abend da“. Ich bin mir sicher, dass sich viele an dieses Lied erinnern. Ja, heute ist Martin’s Abend. Und ich hoffe, ihr habt heute frohe Augenblicke erleben dürfen. Dennoch: nein! Das Leben ist nicht lustig. Der Bettler, dem Martin ja bekanntlich einen Teil seines Mantels geschenkt hat, ist mehr als ein Sinnbild dafür, dass sich in unserer direkten Umgebung Menschen aufhalten, denen – um eine Erfahrung der Lesung wiederzugeben – die Vorräte des Lebens ausgegangen sind. Wir brauchen nur vor der eigenen Haustür der Khg zu schauen, da schlafen jede Nacht auf der Veranda des Chico zwei obdachlose Männer. Die Witwe aus Sarépta hat ein vergleichbar aussichtsloses Leben, sie und ihr Sohn: Einmal noch etwas essen, die allerletzten Lebensmittel, die letzten Mittel zum Leben also, genießen – und dann sterben, weil nämlich nichts mehr da ist, was leben lässt. Ob ein halber Mantel auf die Dauer das Leben sichert, ist da mehr oder weniger eine rhetorische Frage. Und auch der Kaffee, den Fr. Wolf oder Eveline oder Beate unseren beiden Übernachtungsgästen früh morgens ab und zu reicht, ist nicht mehr als ein Wermutstropfen, die kalte und ungemütliche Nacht zu beenden. Kurz nach neun, wenn das Chico öffnet, sind die beiden längst verschwunden und während des Tages machen sie sich im wahrsten Sinn des Wortes unsichtbar. Elend und Not will keiner gern sehen. Elend ist unappetitlich, schmutzig und ich selbst musste mich dabei ertappen, dass ich im Gespräch mit anderen zu der Überzeugung gelangt bin, dass die beiden Männer ihre wenige Habe – eine Schaumgummimatratze und einen Müllsack mit ein wenig Kleidung nicht einfach so über den Tag im Gebüsch liegen lassen dürfen. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr schäme ich mich dafür. Diese verdammten Güterabwägungen, was zählt mehr: Das Verständnis für das Einlagern dessen, was den beiden gehört und was das Gelände der Khg hinter dem Chico unschön aussehen lässt, oder eine geordnete Umgebung um unser Zentrum herum, was nicht abschreckend wirkt für unsere Gäste. Was zählt mehr: Der offene Blick auf das Elend unserer Gesellschaft oder eine vorgetäuschte Reinheit, die jeden Mitarbeiter des Ordnungsamtes das Herz höher schlagen lässt? Ich habe mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen für letzteres entschieden – und–dafür schäme ich mich heute, gleichwohl ich weiß, dass es wohl nicht anders geht, wenn wir nicht Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen wollen.

Über die beiden Texte des heutigen Tages ließe sich viel nachdenken und reflektieren. Mir ist heute eines wichtig: Elija und nicht anders Jesus haben etwas revolutionär Wichtiges gesehen und gewürdigt, was alle anderen wohl übersehen haben und auch nicht sehen wollten. Diese Frau hat sich in ihrer würdelosen Lebenssituation eine Menschlichkeit bewahrt, die beispiellos ist: Selber am Rande des Existenzminimums bewahrte sie sich trotzdem einen Blick für die Not anderer. Sie hätte allen Grund gehabt in sich zu versinken, aber sie bewahrte sich einen Blick für die Welt. Elija und auch Jesus haben alle anderen entlarvt, die sich für was Besseres gehalten haben, weil ihr Leben zwar äußerlich sauber und geordnet erscheint, im Inneren aber von Selbstüberschätzung zugemüllt ist.

So viele Gesellschaftssysteme und Ideologien haben sich schon daran versucht, die Armut zu besiegen und nur zu oft ist daraus neues Unrecht erwachsen. Es bleibt wohl die unbeantwortbare Frage im Raum stehen, ob wir je die Armut aus der Welt schaffen können. Was wir aber können: wir können ihr anders begegnen. Wir schließen von der Lebenssituation eines Menschen auf seinen Charakter, auf seinen Bildungsgrad, ja sogar auf seinen Wert in unserer Gesellschaft. Wenn wir in Erwägung ziehen, dass sich hinter der Fassade der sichtbaren Armut ein bewundernswerter Mensch verbirgt, ein Mensch, der sich seine Menschlichkeit bewahrt hat, ein Mensch, der nicht anders als man selbst Teil eines Ganzen ist, einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft und der in sich die gleiche Sehnsucht trägt wie man selbst, nämlich wahrgenommen und beachtet zu werden, dann, ja dann ist der erste Schritt getan, Armut nicht als ein Schicksal wahrzunehmen, das den einen ereilt und die andere – Gott sei Dank – nicht, sondern Armut als das anzusehen, was sie ist: ein menschliches Unrecht, dem jeder Mensch entgegenwirken kann, indem er tut, was menschlich ist. Und menschlich ist es, immer im anderen den Menschen zu sehen. Diese Menschlichkeit hat sich die Witwe aus Sarepta bewahrt und auch der Bettler am Straßenrand, der in Martin nicht zuerst den Ritter, den ‚hoch-zu-Ross-Sitzenden‘ gesehen hat, sondern auch den Menschen. Die Bereitschaft, die Fähigkeit zu teilen beginnt mit dieser Erkenntnis: Als Mensch sind wir einander verpflichtet, nicht mehr und nicht weniger.

Christoph Simonsen

 

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28. Oktober  – 30. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Markus 10,46b-52

Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.

Es braucht eine andere Kirche
Wozu braucht es Glaubensgemeinschaften? Welchen Zugewinn an Lebenssinn und Lebensqualität hat ein Mensch, der sich einer Gemeinschaft von Glaubenden anschließt? Als erstes würde man vielleicht sagen: Ein solcher Mensch ist nicht allein; er darf sich aufgehoben wissen in einer solidarischen, einander tragenden Gemeinschaft. Als zweites wäre wohl der Gedanke da: Jeder und jedem ist der Zuspruch gewiss: da ist ein Gott, der ihr und ihm vorbehaltlos zugetan ist.
„Schön wär’s“, sagen allerdings heute viele andere, die sich enttäuscht, entsetzt, angewidert abwenden, weil sie genau gegenteilige Erfahrungen gemacht haben oder leidend immer noch machen. Gründe dafür gibt es genügend: Eine Minderheit von mehr oder weniger im Leben stehenden Männern sieht sich von Gottes Gnaden her berechtigt, über Privatestes der Menschen urteilen zu können. Das Gebaren der Hirten, die ihr Dien-Amt in einer Weise verstehen, dass hinter dem Amt der Mensch total verschwindet, trägt auch nicht gerade dazu bei zu erkennen, dass sich das Göttliche gerade im Menschlichen offenbart. Was im Augenblick in unserer Kirche passiert, ist mit Worten eigentlich gar nicht mehr zu beschreiben. In Rom entscheiden 280, die Lebensmitte zumeist schon längst überschrittene Männer – und nur Männer – über das, was Jugendliche und junge Erwachsene zu interessieren hat; eine päpstliche Behörde, die sich „Bildungskongregation“ nennt, verweigert ein offenes und verantwortetes Forschen in der Theologie und bezeugt damit eindringlich, dass ihr die Bildung von Menschen schnurzpiep egal ist; ein deutscher Bischof setzt private Beziehungen zur Landesregierung ein, um einen Mann – wieder also ein Mann – seines Vertrauens (der auch noch aus seinem Bistum kommt) in einer theologischen Fakultät einzuschleusen und diskreditiert damit nicht nur einen anderen Wissenschaftler sondern auch das Entscheidungsgremium einer ganzen theologischen Fakultät. Das alles wird dann zugekleistert mit Sonntagssprüchen wie, man müsse sich vom Klerikalismus verabschieden und weltoffener den Lebenswirklichkeiten der Menschen entgegenschauen.
Ihr seht, ich rege mich maßlos auf und ehrlich gesagt, macht mir diese Kirche, die doch eine einfühlsame und auf Gott vertrauende Religionsgemeinschaft sein möchte, heute nicht nur Bauchschmerzen, sie bereitet mir geradezu Magengeschwüre. Da wundert man sich, dass die katholische Kirche immer überflüssiger wird in einer Gesellschaft, die so viele existentielle Fragen umtreibt und jede Unterstützung gebrauchen könnte, in der Sorge, das Menschliche nicht zu verlieren. Eine Religionsgemeinschaft: offen, einladend, zur Suche einladend, was Leben lebenswert macht, ist heute notwendiger denn je. Menschen zu verbinden, sie zu stärken in ihrer Persönlichkeit, ihnen in der Sinnsuche begleitend, nicht bevormundend zur Seite zu stehen. Auch in der Wissenschaft ist die Kirche alles andere als überflüssig. Sie könnte ermutigen, frei zu fragen und zu suchen, was dem Menschen wohl tut, was die Schöpfung Gottes lebendig hält; sie könnte vorangehen in der Gewissheit, dass wir keine Angst zu haben bräuchten im Blick auf die Zusage Gottes, mit uns zu gehen. Aber was macht unser Verein? immer genau das Gegenteil von dem, was ihre Stärken sein könnten. Sie isoliert sich selbst, bevormundet Gott und die Welt und kreist selbstverliebt um die, die sich Hirten nennen.
Ich erlaube mir heute, so impulsiv zu schnauzen und zu kritisieren, weil mich Bartimäus dazu ermutigt. Er schreit hinter Jesus her, und dabei ist ihm die wohlfeine Gemeinschaft der Jünger völlig egal. Was die von ihm denken, wird schnell klar; ruhig soll er bleiben, seiner Rolle gemäß am Rand stehen bleiben. Aber Bartimäus ist sich sicher, dass er dazu gehört, zur Gemeinschaft der von Gott Geliebten. Da mögen die etablierten Jünger sich noch so sehr darüber aufregen und versuchen, ihn mundtot zu machen. Bartimäus lässt sich nicht rauskicken. Blind, wie er ist, weist er die Gemeinschaft der Getreuen zielstrebig darauf hin, woran es ihnen mangelt: An dem Selbstverständlichsten, was Gott dieser Welt geschenkt hat, dass nämlich alle in gleicher Weise teilhaben an seiner Gnade und dass diese Teilhabe verpflichtet zu einer von jeglicher Rangordnung befreiten menschlichen Gemeinschaft. Sehvermögen, Hörvermögen, Mobilität ist wesentlicher Bestandteil dafür, teilhaben zu können am Ganzen. Und Bartimäus ist sich gewiss, als einzelner zur Gesamtheit dazuzugehören. Die Jünger Jesu bezweifeln das. Sie wollen ihn mundtot machen; erst durch die Intervention Jesu lassen sie sich eines Besseren belehren. Das muss man ihnen immerhin lassen: sie sind lernfähig. Jesus macht den Jüngern unmissverständlich klar: Der Schreihals gehört dazu, ohne ihn ist die Gemeinschaft nicht komplett. Der Aufschrei des Bartimäus: „Ich will wieder sehen können“ und der darin beinhaltende Wunsch, teilhaben zu können an der Gemeinschaft, verhallt nicht ins Leere. Jesus hört ihn und die Jünger müssen ihn respektieren.
Diese Glaubensbotschaft ermutigt mich, aufzuschreien. Aber einer allein genügt nicht. All die bisher still-Gestellten, die Abgewandten, die außen-vor-Stehenden, die von der Gemeinschaft Ausgesonderten: Sie müssen aufschreien, damit die zur Jüngerschar gehörenden aufmerken und umdenken, umschwenken. „Hab Mut, steh auf, er ruft dich“. Die Glaubensgemeinschaft muss erkennen, dass genau die auch dazu gehören, die von ihnen bisher links liegen gelassen wurden. Ansonsten… Aber das will ich mir gar nicht vorstellen. Irgendwie vertraue ich dann doch auf den, dessen Frage mich bis heute bewegt und berührt: „Was willst du, das ich dir tun soll,“ und geb die Hoffnung nicht auf, dass die inzwischen so blind gewordene Kirche den Mut hat, die Bitte auszusprechen: „Herr, ich will wieder sehen können“.
Christoph Simonsen
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21. Oktober  – 29. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Lesung aus dem Hebräerbrief 4,14-16
Da wir nun einen erhabenen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat. Lasst uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit.

Gebt dem Tod seine Würde zurück
Es kommt nicht oft vor, dass man von einem Theaterregisseur zu einer Premiere eingeladen wird. Deshalb kann ich mich auch bis heute noch so gut an diesen grandiosen Abend im Bochumer Schauspielhaus erinnern. Heiner Müller’s Drama „Germania Tod: Berlin“ wurde aufgeführt. Ich hab mich an diesen unvergesslichen Abend diese Woche auch deshalb erinnert, weil ja gerade im Fernsehen die große Serie „Babylon Berlin“ gezeigt wird. Die Fernsehserie wie auch das Theaterstück ermöglichen einen düsteren Blick in die deutsche Geschichte.
in dem Drama von Müller sind einzelne aufeinanderfolgende Szenen aufgereiht, die jeweils unabhängig voneinander sind und Augenblicke der deutschen Geschichte interpretieren. Und in all diesen unterschiedlichen Szenen gibt es eine verbindende Persönlichkeit, die immer wieder in Erscheinung tritt – manchmal ganz leise, unauffällig, dann wieder plötzlich unerwartet mit großem Getöse, aber auch heiter und spielerlisch, dann wieder sarkastisch und plump. Immer wieder betritt er die Bühne, mal von vorn, mal von hinten, von rechts oder links, einmal sogar mit einem Seil von oben: der Sensemann. Der Tod ist ständig präsent auf der Bühne. Die politische Botschaft des Schriftstellers, der ja der linken Szene der ehemaligen DDR entstammte, war eindeutig: Deutschland hat immer wieder den Tod in die Welt hinausgetragen, angefangen beim tödlichen Streit der Nibelungen über die Kleinstaatenkriege hin zu den beiden Weltkriegen, ja sogar bis zu den politischen Auseinandersetzungen während des Nato-Doppelbeschlusses in den siebziger und achtziger Jahren. Der Tod spielt immer mit.

Und der Schriftsteller hat Recht damit. Der Tod ist nicht nur biologisch unausweichlich, er ist nicht nur schicksalhaft, viel zu oft ist er auch schuldbeladen. Es ist wie in dem Schauspiel: Irgendwie spielt er immer eine Rolle; man mag ihn in die Ecke stellen, man mag ich durch Siegesgeschrei überbrüllen wollen, man mag ihn sich zuweilen wegtrinken, man mag ihn aufs Mittelmeer verbannen, wo keine Kameras ihn dokumentieren können, man mag ihn an den Rand der Großstädte verbannen in noble Seniorenresidenzen, man mag ihn umbenennen dadurch, dass die Krankenkasse jetzt Gesundheitskasse heißt: Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen den Tod anderer zu verantworten haben. Er mag noch so schnell wieder vergessen sein, wir können sicher sein, dass er uns wieder einholt.

Jonas, der Student, der sich Anfang dieses Jahres das Leben genommen hat: ich hab seiner im März hier im Gottesdienst gedacht. Wenn auch konkret kein anderer seinen Tod zu verantworten hat, so ist doch unzweifelhaft, dass er gestorben ist, weil ihm das Leben in dieser konkreten Welt zu schwer geworden ist. Wer erinnert sich heute noch an ihn? Der Journalist, der im Hambacher Forst ums Leben gekommen ist: auch seiner wurde hier im Gottesdienst bedacht. Gar nicht lange her, ein paar Wochen erst, aber wer hätte ihn heute noch im Gedächtnis? Zwei junge Iraner, die im Winter letzten Jahres in ihrer Heimat gehängt wurden wegen ihrer Homosexualität. Längst vergessen! Die ermordeten Männer, Frauen und Kinder der muslimischen Minderheit der Rohingya in Bangladesch. Weiß jemand heute noch von Ihnen? Die Christinnen und Christen in Saudi Arabien die bis heute verfolgt und aus fadenscheinigen Gründen hingerichtet werden. Ein Dreizeiler wert und vergessen. Der Tod ist immer dabei und so tragisch er ist, so vermeidbar ist er oft auch, weil er von uns Menschen zu verantworten ist. Natürlich nicht von uns persönlich, aber wenn ich so sagen darf, von unserer Spezies: der Menschheit an sich. Ich will hier sicher nicht einer kollektiven Schuld das Wort reden, worauf ich hinaus möchte, ist etwas anderes. Es bedarf heute und eigentlich immer so etwas wie einer kollektiven Scham. Scham und Ehrfurcht braucht es, damit der Tod wieder den Stellenwert im Leben erhält, den er verdient: Der Tod ist der Moment im Leben, in dem sich alles Leben verdichtet und in Würde seinen Höhepunkt findet als Hinübergang auf Gott hin. Die Toten, jeder einzelne und die unzähligen Vielen sind unserer Ehrfurcht würdig und wir Lebenden müssen uns dank einer ehrlichen Scham immer wieder neu unserer Verantwortung bewusst werden. Aber was noch wichtiger ist: in solch einer Ehrfurcht hätte Gott eine Chance. Er hätte die Chance, uns berühren zu können. Menschen, die sich der Hybris hingeben, über Leben und Tod entscheiden zu können, kann Gott nicht berühren.

„Lass uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit“. Diese Offenheit auf Gott hin ermöglicht es, die Chance der menschlichen Schwäche zu erkennen. Diese Offenheit auf Gott hin ermöglicht es, dem Tod Würde und Respekt entgegenzubringen und ihn nicht mehr als Mittel eigenen Machterhalts wahrzunehmen. Gott zeigt Mitgefühl dem gegenüber, der schwach ist.

Der Hebräerbrief ist wohl in der Sprache wie auch in seinen Gedanken der schwierigste Text in der Heiligen Schrift. Er gilt als der Text, der am tiefsten die Menschwerdung Gottes reflektiert. Gott ist immer der Andere, der Unbegreifliche, der außerhalb alles Weltlichen Existierende. Und zugleich ist er der Nächste, der Solidarischste, der Vertrauteste. Er ist der, der dem Menschsein am nächsten kommt und zugleich ist er der, der dem Menschen am wahrhaftigsten zeigt, wie unmenschlich er – der Mensch – ist, indem er – Gott – uns in vollkommener Weise das Menschsein vor Augen führt. Jedem Lebewesen möchte Gott ein unverwechselbares Leben wie auch ein nicht fremdbestimmtes Hinübergehen in die Himmel schenken. Jeder Tod, jedes Sterben, das verursacht ist durch Menschenhand aufgrund von Machtüberschätzung, Besitzanspruch und Egoismus ist ein Eingriff in die Hoheit Gottes. Jeder Tod aber, der würdevoll und dankbar ein Leben an sein Ende bringt, ist ein Hinweis auf das Erbarmen und die Gnade Gottes, und den Lebenden die Hilfe gewährt, dem Leben wie dem Tod mit Ehrfurcht und Respekt zu begegnen. Die Geschichte der Welt schenkt uns auch dafür konkrete Beispiele: Zum Beispiel das Leben und Sterben des Erzbischofs Oscar Romero, der in diesen Tagen heiliggesprochen wurde. Er ist erschossen worden von Soldaten, weil er die Würde der Ärmsten in seinem Dienst hervorgehoben hat. Die vielen unwürdigen Tode, die die Menschheit zu verantworten hat: Sie mögen uns heute Mahnung sein, Leben und Tod in gleicher Weise die Ehre zu erweisen, die sie verdienen.
Christoph Simonsen

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14. Oktober – 28. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Lesung: Buch der Weisheit 7,7-11
Daher betete ich und es wurde mir Klugheit gegeben; ich flehte und der Geist der Weisheit kam zu mir. Ich zog sie Zeptern und Thronen vor, Reichtum achtete ich für nichts im Vergleich mit ihr. Keinen Edelstein stellte ich ihr gleich; denn alles Gold erscheint neben ihr wie ein wenig Sand und Silber gilt ihr gegenüber so viel wie Lehm. Ich liebte sie mehr als Gesundheit und Schönheit und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt. Zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir, unzählbare Reichtümer waren in ihren Händen.

Fragen: Was und wie und wo?
(kurze Stille)
Da ging der Mann „traurig weg“. Und ich geh am besten gleich hinterher. Denn auch, wenn ich kein großes Vermögen habe, so besitze ich doch einiges: Kunstwerke zum Beispiel, von denen ich mich nie trennen würde; zudem fahre ich zweimal im Jahr in Urlaub, ich liebe gutes Essen und besuche gern ausgezeichnete Restaurants. Wenn ich auch nicht viel auf der hohen Kante habe, arm bin ich auf jeden Fall nicht und wenn ich sicher auch nicht geizig bin, so habe ich dennoch nicht den Ehrgeiz, meinen Lebensstil grundsätzlich ändern zu wollen. Die Konsequenz scheint also klar: Ich muss draußen bleiben, ich Kamel bin zu groß und zu behäbig für den Weg ins ewige Leben. Was ich hier sage, das meine ich sehr ernst, das ist jetzt kein Stilmittel für diese Predigt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Der Auftrag Jesu, alles zu verkaufen und es den Armen zu geben, überfordert mich. Versteht mich bitte nicht falsch, ich geb gern, aber ich vermag nicht, alles zu geben und es gibt Dinge, die würde ich nie freiwillig hergeben. Was also bleibt anderes, als zu Schweigen zu diesem Evangelium?
Andererseits habe ich vor diesem Mann eine sehr hohe Achtung. Sein Mut, nach den eigenen Lebenszielen zu fragen, seine Ehrlichkeit, mit den Tatsachen wahrhaftig umzugehen, die berühren mich. Ihn muss die Frage schon sehr unter den Nägeln gebrannt haben, man spürt geradezu seine Not. Er will wirklich seinem Leben Tiefe geben und Perspektive: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ Er läuft auf Jesus zu, rennt, kann es kaum abwarten, eine Antwort zu bekommen; fällt vor Jesus auf die Knie, es bleibt offen, ob als Zeichen der Demut oder weil er einfach aus der Puste ist. Von der Beantwortung dieser einen Frage scheint alles abzuhängen: sein Leben, seine Zukunft, einfach alles. Er ist wirklich beseelt von dieser einen Frage: Was gibt meinem Leben Zukunft.
Wir wissen, wie die Begegnung mit Jesus endet: traurig und zerknirscht geht der Mann weg. Er war doch so guten Mutes, die Begegnung mit Jesus zu suchen. Die erste Antwort Jesu hat ihn noch bestärkt: Er hat vieles richtig gemacht; er hat ein verantwortungsvolles Leben geführt bisher und untadelig gelebt. Aber dann trifft es ihn knüppelhart: „Verkaufe alles, was du hast und geb es den Armen…“ „Da ging er traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen“.

So unbefriedigend die Begegnung endet, so sehr bin ich doch davon überzeugt: Die Haltung dieses Fremden könnte so etwas wie ein Semesterprogramm werden für uns: Die Erzählung des heutigen Evangeliums ruft uns dazu auf, uns an die Frage heranzutrauen, wie wir dem eigenen Leben Sinn geben können und wie wir eine Perspektive in unserem Leben finden können, die dankbar werden lässt gegenüber dem Leben. Natürlich stellen wir auch immer wieder Fragen, suchen immer wieder nach Antworten. Wir forschen nach dem, was unser Leben sicherer, nachhaltiger werden lässt. Aber stellen wir wirklich die richtigen Fragen. Stellen wir die Fragen, die uns bewegen, das Wertvolle, das Schöne, das Unvergängliche und Ewige des Lebens suchen? An den Hochschulen ist das Fragen und Suchen Alltagsgeschäft. Aber sind die Hochschulen alleine die richtigen Orte, um die richtigen Fragen zu stellen?
„Ich betete, und es wurde mir Klugheit gegeben; der Geist der Weisheit kam zu mir. Ich zog sie Zeptern und Thronen vor“. Wir hörten eben diese Worte aus dem Buch der Weisheit. Nun tragen Rektoren und Professoren sicher heute keine Zepter mehr und sitzen auch nicht auf Thronen. Aber es ist glaub ich nicht abwegig zu behaupten, dass sie manchmal so tun als ob. Wissenschaftliches Arbeiten ist nicht Vielen das wesentlichste Lebenselixier, aus dem heraus sie ihr persönliches wie ihr öffentliches Leben gestalten. Und derer gibt es noch viele andere innerhalb und außerhalb unserer Hochschulen: Menschen, die uns Ratschläge geben, welche Fragen zu stellen sind. Dabei bleibt doch virulent, ob dies die wirklich richtigen Fragen sind.
Weisheit und Klugheit sei notwendig, die Fragen aufkommen zu lassen, die wirklich wichtig sind. Weisheit und Klugheit ist aber etwas grundsätzlich anderes als Effizienz und Erfolgsversprechungen. Die Fragen, die uns wirklich in die Tiefe des Lebens führen, die erwachsen in der Stille – das Buch der Weisheit sagt ‚Gebet‘ dazu. In der Stille, in der Konzentration auf sich selbst und auf Gott hin, da finden sich die Fragen, die uns helfen das zu entdecken, was wirklich leben lässt. Die wirklich wichtigen Fragen entwickeln sich in uns selbst, wenn wir – wie es so schön heiß – in uns gehen. In der zweckfreien Zeit, wo nichts getan, nichts gedacht, nichts gesagt werden muss, wo ich einfach nur bin, wo ich vor Gott bin und bei mir bin, da tun sich die Fragen auf, die Leben in Bewegung bringen, nach vorne bringen.
Dieser außergewöhnliche Mensch Jesus, der in so außergewöhnlicher Weise aus der Beziehung zu Gott gelebt hat, dass sein Leben immer nur Vorbild sein kann im Wissen darum, dass kein anderer so konsequent zu leben vermag wie er: Dieser Jesus nun gibt dem Mann einen Ratschlag, der jeden überfordern muss, so wie er diesen wohlmeinenden Mann und mich und uns überfordert. „Geh verkauf alles, was du hast und geb es den Armen“. Aber er tut dies, so heißt es ausdrücklich, weil er ihn liebte. Weil er ihn liebte, überfordert er den Mann maßlos mit dieser Aufforderung, wohlwissend, dass diese maßlos ist. Nun geht der Mann traurig weg; aber wo geht er hin? Einfach so zurück in sein bisheriges Leben? Das glaub ich einfach nicht. Die maßlose – wenn auch liebevolle – Herausforderung Jesu wird diesen Mann begleitet haben. Er wird ins Nachdenken gekommen sein, vielleicht ins betende Nachdenken. Und er wird – da bin ich mir sicher – zweierlei erkannt haben: Zum einen: Haben bedeutet nicht automatisch leben. Zum anderen dann: Vertrauen und Liebe schenken eine grenzenlose innere Freiheit. Mit diesen beiden Erkenntnissen werde ich nun weggehen, in diesen Gottesdienst hinein und in das neue Wintersemester 2018/2019 und schauen, welche Fragen sich daraus für mich erschließen werden: Fragen aus mir heraus, Fragen, die meinem Leben eine Richtung geben auf die hin, die auch leben wollen, so wie ich.

Christoph Simonsen

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07. Oktober – 27. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Lesung: Genesis 2,18-24
Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein / und Fleisch von meinem Fleisch. / Frau soll sie heißen, / denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.

Schönheit, die zählt
Unsere Welt ist wunderschön. Leider wird die Schönheit und die Größe all dessen, was es in der Welt gibt, nur zu oft beschmutzt. Vieles ist alles andere als schön. Tragisch muss einem die Welt oft erscheinen, auch in unseren Tagen wieder angesichts der vielen Toten und Verletzten nach dem Tsunami in Indonesien. Wie sollen wir das Schöne wahrnehmen können angesichts dieser Zerstörungswut, die ein Sturm auslösen kann? Ist es in unserer Zeit nicht zynisch, von der Schönheit der Welt zu reden, wo sich doch so vieles als ein Zerrbild dessen darstellt, was im Anfang der Schöpfung so wunderbar war: Meere, die Berge und Täler, die Vielfalt der Tiere – und der Mensch? Im ersten Schöpfungsbericht, da hieß es noch, nachdem Gott sein Werk beendet hatte: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Und es war sehr gut“. Ja, am Anfang, da war vielleicht alles gut. Aber heute? Macht sich nicht unglaubwürdig heute, wer von einer schönen Welt spricht? Oder vielleicht sogar mitschuldig all denen gegenüber, denen das Leben in dieser Welt eine Qual ist?
Von der Welt, wie sie einmal war, hören wir heute auch in der Lesung aus dem Buch Genesis. Wir hören den zweiten Schöpfungsbericht. Vielleicht wissen gar nicht alle, dass in der Heiligen Schrift zwei Erzählungen, zwei Legenden aufgeschrieben sind, die von den Anfängen der Welt berichten. Aber es ist tatsächlich so. Auch dieser zweite Schöpfungsbericht klingt geradezu paradiesisch. Die Welt ist schön, alle Lebewesen sind aufeinander bezogen und hegen ein großes Bedürfnis, einander wahrzunehmen und tiefer kennenzulernen. Während in dem ersten und wohl bekannteren Schöpfungsbericht allein Gott der Handelnde ist, der Schöpfer – in sieben Tagen erschafft er der Reihe nach die Gestirne, die Landschaften und die verschiedenen Lebewesen – so überträgt er in dem zweiten Schöpfungsbericht dem ersten Menschen – wir hörten es eben –eine Mitverantwortung und eine Mitgestaltung, um eine erste Ordnung in der neuen Welt vorzunehmen und durch eine Namenswahl zu allen Lebewesen eine Beziehung aufzubauen. Ja, das ist wirklich wahr: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Wenn Gott auch der Schöpfer aller Dinge bleibt, so zeigt sich zugleich, dass er den Menschen eine Mitverantwortung übertragen hat, von Anfang an.

Wir alle wissen, aller Anfang hat ein Ende und was ist dann, wenn das Neue Abnutzungserscheinungen zeigt, sozusagen ‚in Gebrauch‘ gekommen ist? Was ist, wenn – auf das Evangelium bezogen – die erste Liebe verflogen ist, das Gegenüber nicht mehr nur schön und unverwechselbar ist, sondern auch gekannt ist mit all seinen Fehlern und Schwächen. Was am Anfang so schön und jetzt so gebraucht erscheint, die Liebe zur Partnerin/ zum Partner: Wird einfach ein neuer Anfang gesucht, um diesen Zauber des Anfangs noch einmal neu erleben zu können?
Überall können wir es wahrnehmen: Das Leben zeigt Gebrauchsspuren. Überall in der Welt kann man es beobachten. Die Welt hat ihren Zauber verloren. Die Makel und Mängel können nicht einfach übertüncht werden. Schuld kann nicht einfach entschuldigt, Verbrechen nicht einfach verharmlost, Zerstörung nicht einfach wiederhergestellt werden, und verloren gegangene Liebe kann nicht einfach durch Alltagstrott überspielt werden. Die Spuren der Unvollkommenheit – sie sind überall zu sehen.
In diesen Tagen wird des Geschehens vor 100 Jahren gedacht, an dem der 1. Weltkrieg beendet wurde. Und was folgte, wissen wir: der 2. Weltkrieg. Und was folgte dem? Teilung und Zerrissenheit. Als diese endlich überwunden schien und sich die Hoffnung auf Frieden in Europa manifestierte und die deutsche Wiedervereinigung nach sich zog, die wir ja in dieser Woche gefeiert haben, da stehen wir heute – gerade mal ein viertel Jahrhundert später – wieder an einem Scheideweg, weil der Mensch sich scheinbar so sehr an die Zerrissenheit gewöhnt hat, dass er gar nicht anders kann, als sich zu streiten. Die Welt ist doch verrückt, die Menschen sind offenbar nur glücklich, wenn sie unglücklich sind. Je entfremdeter sie einander werden, um so enthemmter und rücksichtsloser werden sie auch. Wir sehen nur die Gebrauchsspuren des Lebens und sind der Überzeugung, Sorgfalt und Behutsamkeit gegenüber allen und allem aufgeben zu können, weil, was eh schon so lange in Gebrauch ist, keiner Schonung mehr bedarf.
Die Texte des heutigen Tages bitten flehentlich, die Achtsamkeit vor dem Leben nicht zu verlieren. Drei Hinweise geben sie uns: Das Leben, alles Leben ist aufeinander bezogen; kein einziges Leben verdankt sich sich selbst. „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“, freut sich der erste Mensch. Wir sind alle miteinander verwandt, verschwistert, da alles Leben sich einer einzigen Quelle verdankt. Wer sich dessen bewusst wird, der führt gewiss keine Kriege mehr.
Der zweite Hinweis: Wer einen Namen trägt, dem ist eine unauslöschbare Würde inne. Der Mensch durfte allem, was Gott geschaffen hat, einen Namen geben, der Pflanze, dem Tier und auch sich selbst. Wenn wir uns dieser Tatsache wieder bewusst werden, dass alles, was einen Namen trägt, einmalig ist, einmalig schön und einmalig würdevoll, dann bleibt uns doch gar nichts anderes, als allem achtsam und liebevoll zu begegnen; auch dem Schwein, das geschlachtet wird und nach einem Gesetzt von dieser Woche immer noch ohne Betäubung kastriert werden darf. Was für eine würdelose Entscheidung!
Und schließlich der dritte Hinweis: Jesus stellt ein Kind den Großen als Vorbild hin. Die Schutzbedürftigkeit eines Kindes ist der Maßstab für all unseres Redens und Handelns.
Hinter allen Gebrauchsspuren des Lebens das Schöne und Würdevolle wahrzunehmen, dazu rufen uns die heutigen Worte der Heiligen Schrift auf. Unsere Welt ist wirklich wunderschön, auch heute noch und Gebrauchsspuren sind nicht unbedingt hinderlich. Hinderlich ist unser Anspruch, dass nur das Neue schön ist und wir in der Gefahr stehen, zu einer Wegwerfgesellschaft zu mutieren.
Christoph Simonsen

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30. September –  26. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Lesung: Numeri 11,25-29

Der Herr kam in der Wolke herab und redete mit Mose. Er nahm etwas von dem Geist, der auf ihm ruhte, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Sobald der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in prophetische Verzückung, die kein Ende nahm. Zwei Männer aber waren im Lager geblieben; der eine hieß Eldad, der andere Medad. Auch über sie war der Geist gekommen. Sie standen in der Liste, waren aber nicht zum Offenbarungszelt hinausgegangen. Sie gerieten im Lager in prophetische Verzückung. Ein junger Mann lief zu Mose und berichtete ihm: Eldad und Medad sind im Lager in prophetische Verzückung geraten. Da ergriff Josua, der Sohn Nuns, der von Jugend an der Diener des Mose gewesen war, das Wort und sagte: Mose, mein Herr, hindere sie daran! Doch Mose sagte zu ihm: Willst du dich für mich ereifern? Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!

Morgen beginnt heute
Ich glaube, ich muss heute zunächst einmal Abbitte leisten; die beiden vergangenen Sonntage waren stimmungsmäßig sehr geprägt von übergroßen Forderungen, vielleicht sogar übermenschlichen Forderungen. Die Heilige Schrift ist wahrlich keine leichte Kost. Und unsere momentane Welt- und Kirchenwirklichkeit ist momentan, das kommt dazu, alles andere als zufriedenstellend. Welt und Kirche zu gestalten aus der Überzeugung heraus, dass Gott uns diese eine Welt ans Herz gelegt hat, ist und bleibt also eine wahnsinnige Herausforderung und sie führt uns Menschen nicht selten an die Grenze unserer Möglichkeiten. Gleichwohl unser Glaube immer auch eine herausfordernde Botschaft in sich trägt, die eine gestalterische Konsequenz einfordert, so hat dieser gleiche Glaube doch auch eine beflügelnde Leichtigkeit, sich des Lebens zu freuen und sich den unbeschwerten Erlebnissen des Augenblicks hinzugeben. Ja: den Augenblick des Lebens, das gerade Hier und gerade Jetzt zu spüren und sich dankbar dem hingeben, auch das gehört zu unserem Glauben, es gehört existentiell zu unserem Glauben. Gott schenkt nicht nur Zukunft, er schenkt vor allem auch Gegenwart.

Eldad und Medad geraten in Verzückung. Sie sollten Lagerwache halten, während Moses mit den 70 Ältesten mit Gott sozusagen in Konferenz geht. Und wie Gott so ist, er hat immer ein give away in der Tasche, er lässt keinen mit leeren Händen und leeren Herzen nach Hause gehen; Moses, wie auch die anderen werden beschenkt – mit seinem guten Geist. Schön finde ich die Bemerkung, dass Gott ihnen „etwas von dem Geist, der auf ihm ruhte“ schenkte. Ein bisschen Geist Gottes genügt scheinbar schon, um Menschen glücklich zu machen und zu befähigen, weltbewegendes zu entwickeln. Jetzt sind aber die beiden Lageraufpasser genauso verzückt von diesem guten Geist Gottes, wie Moses und die Ältesten es sind, obwohl sie bei der Begegnung mit Gott dabei waren. Und da wird wohl klar, dass Gott nicht nur die beschenkt, die demonstrativ zu ihm hingehen. Nein, auch die Zurückgebliebenen, die Fernstehenden werden beschenkt. Und das kann doch wohl nicht mit rechten Dingen zugehen. Geist Gottes kann schließlich nur da drin sein, wo der auch überprüfbar von Gott verteilt wurde.
Wer so denkt, der Diener des Moses nämlich, den überrascht Moses dann mit der Bemerkung, er würde sich wünschen, dass alle Menschen, das ganze Volk, zu Propheten würden, zu Geistbegabten also. Wer im Hier und Jetzt Gutes tut, Gutes sagt, wer verzückt ist davon, dass ihm Leben geschenkt ist und wer sich sichtbar, spürbar seines Lebens freut, der muss Gottes Geist in sich tragen. Das ist für Moses evident – und für Jesus auch, das heutige Evangelium belegt dies.

Jetzt ist uns heute das Wort „Verzückung“ eher fremd. Aber es weckt unweigerlich meine Phantasie, eure vielleicht ja auch. Was völlig verrücktes machen, mal ganz aus sich raus gehen, mitten am Tag zu tanzen beginnen, und dann – man stelle sich das vor – ganz man selbst sein, echt, frei von jeder konventionellen Rolle, die man sich so oft überstreift. So unverstellt, so unbedarft, so frei, da kann kein böser, kein ausgrenzender, kein diskriminierender Gedanke mehr in einem sein. In solchen Augenblicken, wo der Moment einer Ewigkeit gleicht, wo das Jetzt nicht aufhört und einfach nur Lebendigkeit, Dankbarkeit und Glück in einem ist, da muss Geist Gottes sein und da wird einem klar, dass der Glaube Berge versetzen, Grenzen verschieben und Mauern erweichen kann. Und somit sogar unsere heutige Lebenssituation aus aller Enge zu befreien vermag.

Christoph Simonsen


Lesung: Jakobusbrief 3,16-4,3

Wo nämlich Eifersucht und Ehrgeiz herrschen, da gibt es Unordnung und böse Taten jeder Art. Doch die Weisheit von oben ist erstens heilig, sodann friedlich, freundlich, gehorsam, voll Erbarmen und reich an guten Früchten, sie ist unparteiisch, sie heuchelt nicht. Wo Frieden herrscht, wird (von Gott) für die Menschen, die Frieden stiften, die Saat der Gerechtigkeit ausgestreut.

Woher kommen die Kriege bei euch, woher die Streitigkeiten? Doch nur vom Kampf der Leidenschaften in eurem Innern. Ihr begehrt und erhaltet doch nichts. Ihr mordet und seid eifersüchtig und könnt dennoch nichts erreichen. Ihr streitet und führt Krieg. Ihr erhaltet nichts, weil ihr nicht bittet. Ihr bittet und empfangt doch nichts, weil ihr in böser Absicht bittet, um es in eurer Leidenschaft zu verschwenden.

Von den höheren Interessen

Es sind immer die höheren Interessen, die einen zu bestimmten Entscheidungen drängen. In der Politik wird ein hoher Beamter wegen nachweisbarer Verfehlungen entlassen – und an anderer Stelle höher dotiert wieder eingestellt, um die Koalition und damit ein geordnetes politisches Handeln nicht zu gefährden. In der Wirtschaft wird ein Machtkampf zwischen Bevölkerung und Polizei geduldet, um vermeintlich die Energieversorgung nicht zu gefährden. Dass erst durch die Tragik eines tödlichen Unfalls ein Nachdenken und Innehalten erkennbar wird, stimmt mich persönlich sehr traurig. In der Kirche wird die Kluft zwischen Klerikern und Laien theologisch überhöht, ausschließlich um dem Willen Gottes zu entsprechen.

Und welche höheren Interessen leiten uns? Ist es der Blick auf die zukünftige Familie, die wir gründen wollen, weshalb wir um eines sicheren Arbeitsplatzes willen Kompromisse zu machen bereit sind und da forschen, wo die Grauzone zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit verschwimmt? Ist es der Ehrgeiz, uns mittels guter Klausuren einen guten Platz in unserer Gesellschaft zu sichern, ohne den wir uns unsicher fühlen, weshalb wir Körper und Geist in der Vorbereitung bis ultimo quälen, selbst mit Aufputschmitteln. Oder ist es das hohe Gut eines gefälligen Burgfriedens im persönlichen Umfeld, weshalb wir jeder Diskussion und Auseinandersetzung aus dem Weg gehen? Oder ist es der verdiente Anspruch auf Freizeit und Vergnügen, weshalb wir uns jeglicher Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft entziehen?

Vielleicht erscheint das einigen doch ein bisschen überzogen und vielleicht fühlt sich die andere auch durch diese Unterstellungen provoziert. Das ist natürlich nicht meine Absicht. Vielmehr geht es mir darum zu verdeutlichen, wie egoistisch wir im Globalen und im Einzelnen sein können. Wir stehen jeden Tag in der Gefahr, um eines vermeintlich anspruchsvollen Zieles willen in einen billigen und durchsichtigen Egoismus zu verfallen, der ein Umdenken und alternatives Handeln unmöglich macht.

„Woher kommen die Kriege bei euch, woher die Streitigkeiten? Doch nur vom Kampf der Leidenschaften in eurem Innern“, so behauptet der Jakobusbrief. Was ist da los in unserem Innenleben, dass wir so besessen sind davon, all unsere Sorge auf Zukunft und Sicherheit nur auf uns selbst auszurichten? Ich möchte keinem auf die Füße treten, aber prüfend – mich selbst und auch euch – möchte ich mich dieser Frage stellen, ob dem tatsächlich so ist. Haben wir wirklich nur noch uns selbst im Blick: Unser Wohlergehen, unseren Wohlstand, unseren kleinen und begrenzten Horizont? Verschwenden wir unsere Leidenschaft ausschließlich darauf, unseren eigenen Bedürfnissen nachzukommen? Jakobus ist davon überzeugt, dass diese bösen Absichten nur leere Hände und leere Herzen hinterlassen. „Ihr erhaltet nichts“, so sagt er. Und diese Erkenntnis verleitet Jesus dann später zu der wunderbaren Alternative: Wer die Bedürfnisse der anderen in den Blick nimmt, der sieht Gott. „Wer ein solches Kind aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat“.

Für die Politik hieße das, den Fremden aufnehmen, anstatt ihn zu verteufeln; für die Wirtschaft hieße es, Nachhaltigkeit höher zu bewerten als kurzsichtige Energiesicherheit und unumkehrbare Zerstörung der Natur; für die Kirche hieße das, Gleichberechtigung aller in der Kirche und ein Aufgeben der hierarchischen Machtstruktur des Klerus.

Ich maße mir jetzt nicht an zu sagen, was das für euch bedeutet, das muss sich jede und jeder von euch selbst fragen. Wenn wir aber diese Frage in uns zulassen – und jetzt spreche ich ausdrücklich wieder von „wir“, nehme mich also wieder dazu und verbünde mich mit euch – wenn wir also diese Frage in uns zulassen, dann kann – davon bin ich überzeugt – keine und keiner von uns beruhigt nach Hause gehen gleich. Die Frage nach den eigenen Absicherungen im Leben ist verklausuliert die Frage der Jünger, die sich darüber unterhielten, wer von ihnen der Größte sei. Wann verzichten wir – jede und jeder aus eigener Lebensperspektive – auf Vorrangstellung und Größenwahn und reihen uns ein in eine solidarische Weltgemeinschaft?

Ich will jetzt keiner Politikverdrossenheit nachlaufen oder in ein allgemeines Draufhauen auf die Wirtschaft verfallen; ich will auch unser kirchliches System nicht rundweg verteufeln; aber mein Vertrauen in diese selbstverliebten menschlichen Sammelbecken ist erheblich beeinträchtigt. Weshalb ich der Überzeugung bin, dass eine Veränderung von mir aus, von uns aus seinen Anfang nehmen muss und zwar nicht losgelöst nach dem Motto: „Jeder für sich und Gott für uns alle“, sondern gemeinsam. Gemeinsam können wir uns einbringen in Politik, Wirtschaft und Kirche und gemeinsam können wir Sorge tragen dafür, dass – im Bild des Evangeliums – der kleine Junge nicht übersehen wird. Der kleine Junge, das sind heute in meinen Augen die Geflohenen, die in ihren Booten im Mittelmehr Land und Leben suchen; das sind die, die heute auf den Bäumen sitzen und versuchen zu retten, was zu retten ist; und das sind schließlich die, die Kirche als communio der Verschiedenen sehen und nicht als Glaubensverwaltungssystem.

Um noch einmal auf die höheren Interessen zurückzukommen: Ob es uns wohl gelingt, unsere Interessen abzugleichen mit den Interessen des kleinen Jungen, sprich: der vielen Kleinen um uns herum? Wenn meine höheren Interessen sich ausrichten an den Interessen der Kleinen, dann käme unsere Welt ganz neu in Bewegung.

Christoph Simonsen


Evangelium: Mk 8, 27-35

Jesus ging mit seinen Jüngern in die Dörfer bei Cäsarea Philippi. Unterwegs fragte er die Jünger: Für wen halten mich die Menschen? Sie sagten zu ihm: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen von den Propheten. Da fragte er sie: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete ihm: Du bist der Messias! Doch er verbot ihnen, mit jemand über ihn zu sprechen. Dann begann er, sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen. Und er redete ganz offen darüber. Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe. Jesus wandte sich um, sah seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. Er rief die Volksmenge und seine Jünger zu sich und sagte: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.

3677

Wovon erzählt man am liebsten, wenn man gerade aus dem Urlaub zurückkommt? Vom Urlaub natürlich. Das möchte ich heute auch gern tun, wenngleich in dem, was ich erzählen möchte, auch ein unübersehbarer Wermutstropfen offenbar wird. Aber davon dann später.

Im Urlaub lernt man ja die interessantesten Menschen kennen. Ich saß also abends in einer Kneipe, hatte was zu essen bestellt und hörte die Gäste am Nachbartisch auch deutsch sprechen mit einem unüberhörbaren Ruhrpott Slang, der mir sehr sympathisch ist. Wir kamen schnell ins Gespräch, hörte ich doch, dass sie ihre Hunde im Wohnmobil alleine zurückgelassen hatten mit Rücksicht auf die Gaststätte, wo ja gewiss das Mitbringen von Hunden untersagt sei. Und beim Stichwort „Hunde“ kann ich natürlich meinen Schnabel nicht halten und mischte mich ein. Es kam, wie es kommen musste, dass wir uns für den nächsten Tag für einen gemeinsamen Hundeausflug verabredet haben. Fürs erste aber hatten wir einen wunderschönen entspannten Abend, der dann später in einer Kneipe am Hafen mit einem Glas Wein sein Ende fand. Schlussendlich begleitete ich die beiden noch zum Parkplatz. So weit, so gut.

Und jetzt der weniger urlaubsmäßige Teil dieser Begegnung. Irgendwann an dem Abend kam die unausweichliche Frage: „Und was machst du so beruflich?“ Meine selbstverständliche Antwort: „Ich bin Pfarrer und leite die katholische Hochschulgemeinde in Aachen“. Reaktion meines Gegenübers Lilly: Schallendes Gelächter. Und in das breite Lachen hinein die klare und unmissverständliche Frage: „Willst du uns verarschen?“

Nun bin ich mir schon bewusst, dass nicht jeder gleich in mir einen Monsignore erkennen kann und das ist mir auch ganz recht so. Dennoch aber hat mich diese Reaktion verunsichert. Ist es wirklich für andere so unvorstellbar, dass ich in einem kirchlichen Dienstverhältnis stehe?

Seit Mittwoch schwebt eine Zahl wie ein Damoklesschwert über der deutschen Kirche: 3677. 3677 Missbrauchsfälle in 68 Jahren. 3677 Menschen, die von Vertretern der Kirche misshandelt und missbraucht wurden. Und das ist nur die offiziell bekundete Zahl: 3677. Schändlich, sträflich, unentschuldbar. Diese Zahl schlug mir einige Tage nach dem besagten Gespräch ins Gesicht. Und ich kann nicht verstehen, dass nun Offizielle unserer Kirche sich darüber entrüsten, dass der besagte Bericht frühzeitiger als gedacht in die Öffentlichkeit geraten ist. Vertreter der Bischofskonferenz, ja sogar der Präsident des Zentralrates der Katholiken – ein Laie – beklagt sich über diese mediale Indiskretion. Anstatt froh zu sein, dass nun alles ans Licht kommt, so deutlich und so rasch wie möglich, beweinen sich diese Vertreter wieder einmal selbst, dass sie nicht das Heft des Handelns in der Hand haben. Ja, die Kirche ist ein System, das auf Macht aufbaut, und eben nicht auf die Macht der Liebe und des Vertrauens, sondern auf der Macht der Stärke und der selbstgemachten Strukturen, und wer diese hinterfragt, der wird gerügt. Genau hier liegt das Übel: Man gibt sich zerknirscht, will aber sich selbst und die eigenen Strukturen und Lebensmaßstäbe nicht hinterfragen. Vom personalen „ich“, sind die Vertreter der Kirche zum majestätischen „Wir“ übergegangen: „Wir müssen besser hinschauen; wir müssen um Entschuldigung bitten; wir müssen beten und büßen…“. Wer ist denn dieses „Wir“? Es sind zum einen konkrete Menschen, die unschuldige, ja oft sogar unmündige Menschen seelisch und körperlich geschändet haben und es sind zum anderen konkrete Vorgesetzte, die Akten haben verschwinden lassen, die gehört, und dann doch überhört haben, die den Mantel des Schweigens über schändliche Taten gelegt haben. Und das alles, um den Systemerhalt der Kirche zu sichern. Das System ist wichtiger als der Mensch, selbst wenn dieses System Menschen zu Opfern macht.

Es scheint, ich sei von meinen Urlaubserzählungen abgewichen. Aber mitnichten! Das Lachen und das Staunen meiner neuen Bekannten mit Namen Lilly über meinen Beruf klingt in mir nach und aus ihrem Lachen wird in mir innerlich ein Weinen. Mir klarer als je zuvor, dass ich mich schäme für meine Kirche und fast selbst den Glauben daran verloren habe, dass in dieser Kirche der Gott gelebt und gepredigt wird, der eben keine hierarchischen Strukturen, keine Uniformen, überhaupt keine Vorrangstellung, welcher Art auch immer, für sich selbst in Anspruch genommen hat. Gott, der aufruft, nicht nur die Schuld beim anderen anzuprangern, sondern immer auch – und das zuerst – bei sich selbst.

Ein Blick auf das heutige Evangelium bringt mich noch mehr zum Nachdenken. „Für wen halten die Menschen mich“, fragt Jesus seine Freunde. Und die ersten Antworten müssen ihn sehr enttäuscht haben. Du bist wie…, du gehörst zu der Gruppe, zu der Glaubensgemeinschaft, zu der Sorte von Menschen. Und weil du dich dort einbindest, deshalb bist du unser Freund, unser Vertrauter. Das war nicht die Antwort, die Jesus hören wollte. Die Jünger hatten im Sinn, ihr Freund Jesus sei so abgehoben, heiligmäßig, außerordentlich, so wie es die großen Propheten waren. Aber selbst die waren nicht so, sie wurden erst in der Tradition dazu gemacht. Mit diesen Antworten ist Jesus unzufrieden und sie machen ihn traurig; und er ist noch unzufriedener mit seinen Freunden, denn auch sie wollen ihn, Jesus, in eine Schublade stecken. Erst Petrus erkennt die Bedeutung dieser Frage. „Du bist der Sohn Gottes“. Jesus ist ein Kind Gottes, weil er so ist, wie er ist, und nicht, weil er anderen ähnelt oder anderen nachgeeifert hätte, sondern nur, weil er seinem Vater sein ganzes Vertrauen schenkt. Und mit diesem Vertrauen aus eigener Verantwortung und mit ganzer Überzeugung redet und handelt. Er ist kein Paragraphenreiter, kein Moralist, er ist nicht mal Priester, er ist einfach nur Mensch, ein ganz und gar menschlicher Mensch.

Die ersten Stellungnahmen vieler Verantwortlicher unserer Kirchen nach der Veröffentlichung des Berichtes über die Missbräuche sprachen davon, dass die entsprechenden Gewalttäter das Bild der Kirche beschmutzt hätten. Nein und noch einmal nein! Sie haben die Seelen von Menschen zerstört. So lange die Kirche sich selbst wichtiger nimmt als die Menschen, so lange ist sie auf dem Holzweg. Nicht nur die Täter tragen Schuld in sich im Blick auf die missbräuchlich benutzten Menschen; ebenso trägt die Kirche Schuld. So lange sie Menschen in einer Art bevormundet, dass sie sich nicht frei entfalten und entwickeln zu können, der oder die zu sein, die sie in ihrem Wesen sind und deshalb auch z.B. in ihrer sexuellen Entwicklung fehlgeleitet sind, so lange sollte die Kirche lieber schweigen und sich selbst prüfen, als den Stab über andere zu brechen.

Und was heißt das für uns, für euch und für mich? Wir sollten uns selbst immer die Frage stellen, wer wir wirklich sind und ob wir wirklich die oder der sind, die Gott im Herzen tragen; den Gott, der jedem Menschen die Freiheit und die Verantwortung gibt, erfüllt und befreit zu leben.

Christoph Simonsen, 16. Sept 2018


19. August  – 20. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr B-2018

Lesung: Buch der Sprichwörter 9,1-6
Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen. Sie hat ihr Vieh geschlachtet, ihren Wein gemischt und schon ihren Tisch gedeckt. Sie hat ihre Mägde ausgesandt und lädt ein auf der Höhe der Stadtburg: Wer unerfahren ist, kehre hier ein. Zum Unwissenden sagt sie: Kommt, esst von meinem Mahl und trinkt vom Wein, den ich mischte. Lasst ab von der Torheit, dann bleibt ihr am Leben, und geht auf dem Weg der Einsicht!

Urlaub: Nicht nur entspannend, sondern auch noch lehrreich
Heute in einer Woche sitze ich, so Gott will, an dem kleinen Yachthafen von Rovinj und schaue auf ein betörend schönes Altstadtszenario. Jenseits des Hafenbeckens erstreckt sich ein wunderschöner Platz im Halbrund, umgeben von verwittert erscheinenden alten Häusern, deren Putz in allen Grauschattierungen bei der untergehenden Sonne zu strahlen beginnen. Im ebenen Bereich laden kleine Restaurants und Bars zum Verweilen ein, in den oberen Stockwerken wohnen Menschen; die Fensterläden stehen alle offen, überall sind Leinen angehängt, in kürzester Zeit ist die frisch gewaschene Wäsche wieder trocken. Entspannung und Alltag berühren sich nahtlos aneinander. Hier ist das Leben mit Händen zu greifen. Jedes Haus, jedes Fenster bekunden, dass hinter den Fassaden ganz viel gelebt wurde und wird und die Bewegtheit des Lebens kann man nahezu mit den Augen aufsaugen. Und auch, wenn ich keinen der Menschen kenne, die dort wohnen, so kann man die Geschichte und die Geschichten leibhaftig spüren, die in diesen Häusern gelebt und erzählt werden. Häuser sind eben mehr als Wohnstätten; Häuser sind Lebensräume. In ihnen wird geliebt und gestritten, da wird gegessen und geschlafen, da wird erzählt und geschwiegen; und jedes Haus, mögen sie auch äußerlich uniform wirken, jedes Haus ist ein Unikat, weil die Bewohner*innen es einrichten auf ihre ganz verschiedenen Bedürfnisse hin mit je ganz verschiedenen Geschmäckern und ästhetischen Ansprüchen. Und wenn ich dann nach einem Glas Wein durch die engen Gassen schlendere, dann weiß und spüre ich, dass ich umgeben bin von einer unendlichen Fülle von Lebenserfahrungen und Lebensweisheiten.

Wundert es, dass die Lesung uns heute die Weisheit als einen Architekten vorstellt, der ein Haus baut, auf sieben Säulen gebaut. Natürlich ist die Zahl 7 ein bekannter symbolischer Hinweis: In sieben Tagen hat Gott der Legende nach die Welt erschaffen. In einem Haus, das die Weisheit baut, da ist volles und vielfältiges Leben und eine liebenswürdige Gastfreundschaft ist selbstverständlich. Auch den Unerfahrenen steht die Tür offen, denn im Innern kann jede und jeder gute Lebenserfahrungen sammeln.

Mit solch einem Anspruch der Vollkommenheit wäre wohl jeder menschliche Architekt überfordert. Deshalb hat wohl auch jedes Haus, das von Menschen gebaut ist, seine Tücken. Wir brauchen nur auf unser Khg Zentrum in der Pontstraße schauen: Was hat sich der Architekt wohl dabei gedacht, als er solch ein üppiges Foyer geplant hat, das erst mit zwei Höhenunterschieden von außen erreichbar ist und für Gehbehinderte Menschen eine absolute Überforderung darstellt? Dazu ist dieser Raum heute als Fluchtweg für inhaltliche Belange überhaupt nicht zu gebrauchen. Bei allem Bemühen, ein Haus zu bauen, das in Form und Nutzbarkeit vollkommen sein soll, wird dies wohl keinem Architekten gelingen. Dieser kleine eben gehörte Abschnitt aus dem Buch der Sprichwörter deckt sich in seiner Aussage mit dieser nüchternen Erfahrung menschlicher Unvollkommenheit: Aus eigener Kraft vermögen wir Menschen sicher Tolles und Schönes herrichten, aber so ganz ohne Fehler wird das nie sein.

Das Buch der Sprichwörter ist von seinem Wesen her ein poetisches Buch. Die Weisheit ist weniger eine menschliche Eigenschaft, die man sich mittels Wissen und Erkenntnis aneignen könnten; nein: Die Weisheit ist hier viel mehr ein Synonym für Gott selbst. Er persönlich ist der Architekt des Lebens; er schafft Raum zum Leben. Er lädt ein, er stärkt die Gäste, er beschenkt sie mit seinen Gaben. Gott selbst ist die Weisheit. Wer zu ihm kommt, wer seine Gastfreundschaft annimmt, der darf Anteil nehmen an den Gaben, die Gott zu eigen sind.

Ein guter Gastgeber vermittelt seinen Gästen, König zu sein. Der Gast ist König und der Gastgeber möchte den Gästen zu Diensten sein. Menschlich geradezu verrückt, ist eben das das Erkennungszeichen Gottes: dass er gibt, was er hat und sich gleichzeitig zurücknehmen kann. Wer sich von Gott einladen lässt zum Fest des Lebens, wer die Gastfreundschaft Gottes annimmt, der erkennt sehr bald seinen eigenen Wert und darf erfahren, wie würdevoll eigenes und anderes Leben ist. Die Bibel zeichnet immer wieder in anderen Bildern und Farben einen Menschen, der gerade in Gott Freiheit und Achtung findet. Wer sich in solch einer wunderbaren Achtung im Spiegel Gottes sieht, der erweist sich auch als ein dankbarer Mensch. Dankbare Menschen sind auch immer zufriedene Menschen und können ohne viel Aufsehen und Aufregung ihre Gaben und Fähigkeiten entfalten, ohne sich aufblähen zu müssen. Dankbare Menschen wissen um ihre Grenzen aber auch um ihre Gaben. So können wir im Blick auf Gott auch selbst in Anerkenntnis der eigenen Unvollkommenheit wunderbare und kreative Architekten des Lebens sein. In der Betriebsamkeit des Lebens mag das manchmal vergessen werden. Da ist es doch schön, dass es Zeiten des Urlaubs gibt, wo man sich dessen neu bewusst werden darf. Und noch schöner ist es, dann auch wieder dieses Gottesgeschenk der Würde und der Achtsamkeit mit anderen bewusster teilen zu können.

Christoph Simonsen

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12. August  –  19. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Johannes 6,41-51
Da murrten die Juden gegen ihn, weil er gesagt hatte: Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Und sie sagten: Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel herabgekommen? Jesus sagte zu ihnen: Murrt nicht! Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt; und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag. Bei den Propheten heißt es: Und alle werden Schüler Gottes sein. Jeder, der auf den Vater hört und seine Lehre annimmt, wird zu mir kommen. Niemand hat den Vater gesehen außer dem, der von Gott ist; nur er hat den Vater gesehen. Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt.

Brot ist für alle(s) gut
Zum dritten Mal nacheinander ist wieder von „Brot“ die Rede; wir haben in den beiden vergangenen Wochen den hohen Wert von Brot schon miteinander bedacht. Keinem Menschen darf ein Anrecht auf Brot als Grundnahrungsmittel verwehrt werden. Ein Mangel an Brot ist sozusagen ein Indiz dafür, dass unsere Welt gerechter und solidarischer werden muss, wenn sie denn dem Auftrag Gottes nachkommen möchte. Am vergangenen Sonntag haben wir uns miteinander daran erinnert, dass Gott selbst das Grundnahrungsmittel für uns sein möchte; Gott schenkt sich als Brot, er möchte unserem Leben Geschmack einverleiben, denn er möchte nicht nur irgendwie mitlaufen in unserem Leben, er möchte uns Kraftquelle sein. Heute hören wir im Evangelium, dass Jesus von sich sagt, er sei das lebendige Brot, das in Ewigkeit leben ließe; dafür würde er sich sogar selbst hingeben. Wieder ist also vom Brot die Rede; und wieder geht es um’s überleben, dieses Mal weniger im sprichwörtlichen als im übertragenen Sinn. Brot nährt nicht nur den Körper, schenkt nicht nur eine Zukunft hier auf der Erde; Brot weist auch über das Leben im Hier und Jetzt hinaus. Überleben alleine ist kein Leben, Leben braucht Sinn und Ziel; Leben braucht Perspektive: Perspektive über alles Machbare, Denkbare, Glaubbare hinaus. Davon zumindest ist Jesus überzeugt. Und noch etwas treibt ihn um: Der leibliche Hunger wie auch der seelische Hunger bedingen einander. Das ist bis heute offensichtlich, wenn religiöser Fanatismus schnurstracks in Verelendung und Vereinsamung führt. Ein Glaube, der Leib und Seele nicht in gleicher Maße sättigt, davon ist Jesus überzeugt, führt unweigerlich in Egoismus. Für einen angstfreien Glauben, für einen Glauben, der den Nöten der Menschen entgegenwirkt, dafür gibt er sein Leben hin.

Und dennoch: so klar wie unmissverständlich diese Botschaft auch ist, mir bereitet sie Kopfzerbrechen. Wie kann ich Ewigkeit ins Wort bringen, wenn schon die Zukunft hier auf der Erde im Dunkeln liegt? Als ich noch im Krankenhaus gearbeitet habe, da bin ich immer wieder von Menschen gefragt worden, die sich einer schweren Krankheit stellen mussten, ob ich ihnen denn sagen könnte, wie es nach dem Tod weitergehen würde. In dieser Zeit habe ich gelernt zu akzeptieren, dass es schwerer ist, eine Frage still im Raum stehen zu lassen, als rasch eine – womöglich sogar nur angelesene – Antwort weiterzugeben. Und ebenso sicher bin ich mir geworden, dass alle theologischen Antwortversuche solch einer existentiellen Frage nie gerecht werden könnten. So berechtigt diese Frage eines Lebens nach dem Tod ist, so gewiss ist, dass keine Antwort ihr angemessen wäre. Fragen solcher Art nach dem Leben und nach dem Tod durchziehen eine tiefe Sehnsucht; die Sehnsucht nämlich, dass das eigene Leben Wert hat und Wert bewahrt, dass es jenseits menschlicher Vorstellungskraft seine Würde behält. Kurzum: Bin ich irgendwann vergangen, weil ich vergänglich bin?

Ich habe sehr großes Verständnis für diese Sehnsucht, weil es nämlich für viele Menschen unerträglich ist, mit der Angst zu leben, vergessen zu werden, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. Bis zum heutigen Tag zum Beispiel sucht meine Familie nach dem Grab meines Onkels, des Bruders meiner Mutter, der nicht aus dem Krieg zurückgekommen ist: An wen sich erinnert wird, der ist geliebt.

Unser christlicher Glaube, nein ich bin mir sicher, aller Glaube zielt auf zwei wesentliche Eigenschaften: Der Gerechtigkeit in der Welt zu dienen und die Würde jedes einzelnen Menschen wie seine Liebesbedürftigkeit über alles andere hinaus wahr- und ernst zu nehmen. So ist dies die große Hoffnung, die uns der Glaube schenkt: Von Gott gerufen zu sein, diese Welt in seinem Namen zu gestalten und in gleicher Weise von Gott geliebt zu sein mit einer Liebe, die stärker ist als der Tod. Liebe allerdings, die eines Beweises bedarf, ist schon vom Wesen her fragwürdig und deshalb ist auch der menschlich sicher berechtigte Wunsch eines Beweises der Ewigkeit vom Kern her schon bedenklich. Allein das Wagnis der Liebe vermag eine Möglichkeit zu eröffnen, hinter die Tür des Lebens zu schauen. Von Gottes Seite aus ist diese Offenheit der Liebe uns allen zugesprochen in der Liebestat Jesu. Eben dem Jesus, der in der Liebe zum Vater sein Leben gibt für das Leben der Welt.

Christoph Simonsen
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05. August 18. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Johannes 6,24-35
Als die Leute sahen, dass weder Jesus noch seine Jünger dort waren, stiegen sie in die Boote, fuhren nach Kafarnaum und suchten Jesus. Als sie ihn am anderen Ufer des Sees fanden, fragten sie ihn: Rabbi, wann bist du hierher gekommen? Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird. Denn ihn hat Gott, der Vater, mit seinem Siegel beglaubigt. Da fragten sie ihn: Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen? Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. Sie entgegneten ihm: Welches Zeichen tust du, damit wir es sehen und dir glauben? Was tust du? Unsere Väter haben das Manna in der Wüste gegessen, wie es in der Schrift heißt: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen. Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben. Da baten sie ihn: Herr, gib uns immer dieses Brot! Jesus antwortete ihnen: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.

Die Feier der Eucharistie ist eine immer wiederkehrende Herausforderung
Wir müssen so manches schlucken in unserem Leben, was uns nicht schmeckt. Jede und jeder von uns kennt das und keinem bleibt das erspart. Das mag uns ärgern und vielleicht sogar auch wütend machen, aber es gibt auch andere Runter-Schluck-Erfahrungen, wenn ich das so nennen darf. Wir schlucken unendlich viel runter und merken es nicht mal mehr, geschweige denn, dass wir es schmecken. Morgens schlucken wir unseren Tee oder unseren Kaffee zum Beispiel runter und nehmen den Geschmack gar nicht mehr in seiner Eleganz wahr. Das Zeug soll uns wach und fit machen, Geschmack ist nebensächlich.
Und jetzt stelle ich die unverschämte Frage: Schlucken wir auch Gott einfach so runter wie selbstverständlich? Er ist da, er gehört dazu, er wird von Generation zu Generation tradiert. Das ist ok, denn er ist ja ein ähnlicher Kraftspender und Fithalter, wie eben der Tee oder der Kaffee, eben nur nicht im physischen Sinn, sondern im geistigen. Aber schmecken wir Gott eigentlich noch wirklich? Nehmen wir ihn bewusst als Lebensnahrung für uns wahr?
Was glauben wir eigentlich, wenn wir – wie gleich auch wieder – die Schale mit Brot einander reichen und das Brot in die Hand nehmen, von dem es heißt, es sei das Brot des Lebens? Was heißt das, dass Gott gegenwärtig ist in dieser kleinen symbolischen Scheibe Brot und wieso soll darin eine Kraft liegen, die so stark ist, dass wir davon erfüllt leben können? Was schmecken wir eigentlich, was fühlen wir, wenn wir dieses Brot des Lebens herunterschlucken? Bei diesen Fragen geht es mir nicht um konfessionelle Spitzfindigkeiten, ob Gott real präsent ist in diesem Brot oder nur symbolisch. Hier geht es um die Frage, was ihr und ich glauben, wenn wir dieses Brot essen und den Wein schmecken. Was schmecken wir, wen schmecken wir? Sind das blöde Fragen, überflüssige Fragen, sind es vielleicht zu intime, persönliche Fragen? Wenn wir einen Menschen lieben, dann gibt es da welche, die sagen, der Freund oder die Freundin sei süß. Schmeckt Gott süß oder doch bitter? Ist Gott eher ein Grundnahrungsmittel oder ein Dessert?

Sich solchen grundsätzlichen Fragen zu stellen, finde ich anstrengend. Solche Fragen halten oft auf und nicht selten verunsichern sie auch und bringen das alltägliche Geschehen des Lebens gehörig durcheinander.
Die Menschen, denen Jesus im heutigen Evangelium begegnet, stellen auch Fragen. Über ihre Absichten mag man zweifeln, ob sie wohlwollend gemeint sind oder eher hinterhältig. Aber dass sie diese Fragen stellen und nicht einfach alles an sich und über sich ergehen lassen, sehe ich zunächst einmal positiv. „Wann bist du hierhergekommen? Welches Zeichen tust du?“. Es ist so: Jesus wirft Fragen auf. Die Art und Weise wie er lebt, wie er redet, wie er vor allem von Gott redet. Das übersteigt den Horizont vieler. Wer kann das auch in aller Tiefe verstehen, wenn er sagt: „ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern.“? Ich erinnere mich einer analytischen Aussage Freuds, dass die Psyche des Menschen niemals zufrieden zu stellen sei. Der Glaube an Gott ist eine menschliche Überforderung und muss jedem denkenden Menschen eine Herausforderung sein. Jedes Mal, wenn ich dieses Brot des Lebens in der Hand halte, spüre ich diese Herausforderung, darüber nachzusinnen, was Leben für mich ist. Alles im Leben dreht sich doch um Brot. Zwei Drittel der Menschheit hungert, weil es ihnen am Brot fehlt. Das heißt doch, es ist zu wenig Brotsubstanz in der Welt. Wenn ich das im Blick habe, dann wird mir ein wenig klarer, weshalb Jesus das Symbol des Brotes gewählt hat, um mir und uns zu zeigen, dass er sich und sein Leben an diese Welt verschenken möchte. Brot ist etwas Ungeheures. Es verweist auf die tiefste unerfüllte Sehnsucht des Menschen, auf seinen Hunger nämlich. Brot aus sich heraus allein ist schon heilig. Jedes Mal, wenn ich hier dieses Brot in der Hand halte und sehe, wie auch ihr dieses Brot ehrfürchtig in der Handfläche aufbewahrt, wird mir dies offenbar, dass wir alle hungrig sind nach einer letzten Hoffnung, die über alle Hindernisse des Lebens hinweg trägt. Und jedes Mal, wenn ich während der Kommunionfeier in die Runde schaue, wird mir wohltuend bewusst, dass wir alle den Ort gefunden haben, an dem dieser Hunger gestillt werden kann, nämlich in einer Gemeinschaft von Menschen, die es einander gut meinen.
Vielleicht geht diese Wahrnehmung manchmal verloren. Vielleicht wird – wie so vieles in unserem Leben – dieses Zeichen des gemeinsamen Mahles zu sehr zur Routine. Vielleicht schlucken wir Gott, wie anfangs behauptet, wirklich manchmal so herunter, ohne uns der Überforderung des Glaubens bewusst zu sein. Dieses Gottesgeschenk des Brotes ist für mich jedes Mal aufs Neue eine Überforderung. Und genau das ist die darin sich offenbarende Herausforderung: Das Brot, das ich in der Hand halte und dann esse, ist ein Gottesgeschenk. Dieser Gedanke fordert mich heraus, hinter die vordergründigen Wahrheiten des Lebens schauen zu wollen, und die überragende Wahrheit dahinter zu suchen, dass nämlich Gott das Leben für alle will. Wenn es Gottes Wunsch ist, meinen Hunger zu stillen und meine Hoffnung zu stärken; wenn es sein Wunsch ist, sich mit mir zu vereinen, dann offenbart sich in dieser den menschlichen Geist überfordernden Wahrheit die Herausforderung, genau dies auch zu versuchen, den Nächsten zu sättigen, seine Hoffnung zu stärken und die Menschen zu vereinen. Mit diesem Wunsch aus dem Gottesdienst herauszugehen in den Alltag, ist für mich eine große Herausforderung, auch wenn es immer eine bedrängende Überforderung bleiben wird. Jedes Mal aufs Neue.
Christoph Simonsen

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29. Juli – 17. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Johannes 6,1-15
Danach ging Jesus an das andere Ufer des Sees von Galiläa, der auch See von Tiberias heißt. Eine große Menschenmenge folgte ihm, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder. Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe. Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wusste, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll. Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm: Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele! Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer. Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen. Als die Menge satt war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brotstücke, damit nichts verdirbt. Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Stücken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren. Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.

Hunger grenzt aus
Um es auf den Punkt zu bringen: Es geht darum, dass die Menschen satt werden sollen, viele Menschen, und im Kontext der beiden gehörten Geschichten soll es sogar darum gehen, dass alle Menschen satt werden sollen. Keiner soll hungern, alle sollen bekommen, was sie zum Leben brauchen. Und es ist auch genug da, aber zu Vieles ist in zu wenigen Händen, was will ein kleiner Junge mit 5 Broten und zwei Fischen.
Das ist eine nüchterne, aber realistische Beschreibung unserer Welt: Da sind Menschen, die hungrig sind, andere die genug haben und wieder andere, die diesen Zwiespalt wahrnehmen und etwas daran ändern wollen.
Es gibt wohl einen gewichtigen Unterschied im Blick auf unsere Lebenswirklichkeit und dem, was in den beiden Schriftworten des heutigen Sonntags dargestellt wird: In der Heiligen Schrift arbeiten alle Hand in Hand zusammen: die Bedürftigen, die Besitzenden und die, die wahrnehmen, was ist in der Welt los ist. Daran müssen wir arbeiten heute, hier und jetzt. Dieses Wunder des Achthabens aufeinander, das müssen wir stärken und die Aufgabe muss uns in Kopf und Herz geschrieben sein: Alle sollen satt werden, alle haben ein Anrecht darauf, menschenwürdig zu leben. Die Geschichten der Heiligen Schrift sind eben nicht in erster Linie heilig, es sind reale Lebensgeschichten. Und sie laden uns ein, nein: fordern uns heraus, unseren Standpunkt in dieser Welt zu finden: Wie wollen wir uns dazu verhalten, dass es Unrecht gibt in dieser Welt? Wir haben die Verantwortung zu schauen, wo wir stehen. Eines ist gewiss: Wir, die wir hier heute beisammen sind, stehen nicht auf der Seite der Hungrigen, vielleicht auf der Seite der Besitzenden, ganz gewiss aber auf der Seite derer, die sich einen Überblick darüber verschaffen können, wie es in unserer Welt aussieht. Wer unter uns hat den Mut zu sagen, dass genug für alle da ist; und wer unter uns lädt ein, alle mögen sich setzen, um zu essen und zu trinken, allgemeiner: um menschenwürdig zu leben?

Am vergangenen Wochenende sind Menschen in München auf die Straße gegangen, Menschen aller Couleur, die ihrer Sorge Ausdruck verleihen wollten, dass unsere Welt an einer neu aufbrechenden Form des Egoismus leidet und darunter zu zerbrechen droht. Sie haben unter anderem Claus-Peter Reisch zugehört, dem Lifeline-Kapitän, der Menschen mit seinem Schiff zur Lebensrettung geworden ist und der nun in Malta vor Gericht steht, weil er unrechtens gehandelt haben soll dadurch, dass er – und jetzt wird es sprachlich ganz gruselig – „ fremdes Menschenfleisch“ an Land gebracht habe. Dieses Wort ist dem italienischen Innenminister aus dem Mund gefallen. Bitterböser kann es nicht versichtbart werden: Weil wir nicht mehr Hand in Hand arbeiten, weil wir immer mehr auseinanderdriften in unserer Welt, weil jede und jeder einzelne nur noch damit beschäftigt ist, ihren/seinen eigenen Hunger zu stillen, deshalb ist unsere Welt so, wie sie sich heute zeigt: halbiert in einen Teil, der hungert und einen anderen Teil, der übersatt ist. Immer mehr wird es bis in unsere Sprachwahl hinein offensichtlich, dass Menschen zu einem Sachverhalt degradiert werden, die notwendigerweise verwaltet und abgewickelt werden müssen.

Ich komme noch mal auf den kleinen Jungen mit den fünf Broten und den zwei Fischen zurück. Er erkennt wohl, dass er zu viel hat für sich alleine und er stellt
ohne viel Aufhebens zur Verfügung, was er hat. Der Text gibt keinen Hinweis darauf, wie er reagiert, als er angesprochen wird: ob er sich genötigt fühlt, von seinem Abendbrot herzugeben oder ob er es aus freien Stücken tut. Auf jeden Fall gibt er her, ohne viel Aufsehens und ohne Widerstand. Er wird gefragt, und er reagiert offenherzig. Dass, was da ist, wird einfach gesegnet – und es genügt. Alle werden satt. Zu der Notwendigkeit eines heilsamen Zusammenspiels der Menschen gehört also noch ein weiteres, wichtiges Merkmal, damit unsere Welt heute wieder für alle zu einem guten Lebensort werden kann. Die Erkenntnis nämlich, Lebens-Mittel sind etwas Kostbares, sie sind des Segens würdig.

In kaum einem anderen Wort der Heiligen Schrift wird es offenkundiger als in diesem: Menschenwürde und Umweltschutz, das sind keine Hobby-Unternehmungen einiger grün-angehauchter Einzelkämpfer, vielmehr sind es die Wesensmerkmale unseres Glaubens. In der Erzählung heißt es dann weiter, dass alle sich hinsetzen. Alle ausnahmslos hatten Vertrauen darin, dass sie nicht sich selbst und ihrem Schicksal überlassen würden, hungrig ihre Wege gehen zu müssen. Das muss unsere Aufgabe sein: So zu reden, zu handeln, zu leben, dass Menschen Vertrauen finden, sich zu uns zu setzen. Wir alleine können sicher nicht alle Erwartungen erfüllen; aber wie gesagt, wenn wir ehrlich und kreativ Hand in Hand arbeiten, dann geht was. Dann kann der Hunger derer, die heute darben ein wenig mehr gestillt werden. Gemeinsam kreativ sein, dem sind keine Grenzen gesetzt. Hunger grenzt aus, teilen verbindet.
Christoph Simonsen

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22. Juli – 16. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Markus 6,30-34
Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus. Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen. Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein. Aber man sah sie abfahren und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an. Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange.
„Erneuerung“ will ernst gemeint sein
Ab und zu, da tut es gut, Bilanz zu ziehen; sich etwas Zeit zu nehmen, zur Ruhe zu finden, sich einen Überblick zu verschaffen, wo man denn so gerade steht. Die Frage mag dann in einem aufkommen, ob die Werte noch tragen, nach denen man zu leben versucht, oder ob es überhaupt noch die richtigen Werte sind. In der Wirtschaft nennt man es Inventur, im Berufsleben Coaching, in der Glaubensgemeinschaft Exerzitien. Das tut dem einzelnen gut, aber auch den verschiedenen Gemeinschaften, in denen man so lebt und sich bewegt, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft. Und klar: Das tut auch der Kirche gut. Da passiert im Augenblick ja auch ganz viel. Das ist mir am vergangenen Sonntag bewusst geworden, nach dem Gottesdienst, als ich mit einigen Studierenden ins Gespräch kam. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie es sich ergeben hat, aber plötzlich stand so ein Satz im Raum, wie: „So kann es doch eigentlich nicht weitergehen“. Und diese Aussage bezog sich auf den Zustand unserer Kirche. Da hat sich ein System verselbständigt, so empfinden viele; mit der Wirklichkeit des Lebens der Menschen hat die Kirche nur noch wenig Kontakt, wenn überhaupt. Da ist auf der einen Seite das Mühen von Papst Franziskus, der Kirche neues Leben einzuhauchen durch synodale Strukturen. Er ist der Überzeugung, dass wir Rücksicht nehmen müssen auf die kulturelle Vielfalt unserer Weltkirche, in der an einem Ende der Welt die Menschen eben anders ticken als am anderen; ganz andere Lebenserfahrungen prägen zum Beispiel einen jungen Menschen, der in Nairobi wohnt als den, der in London zuhause ist. Dieses Ansinnen, den einzelnen Regionen der Welt mehr Eigenständigkeit zu verschaffen, stößt auf gehörigen Widerstand vieler, denen die Angst im Gesicht geschrieben steht, jegliche Veränderung könne die vielbeschworene Einheit der Kirche gefährden. In unserem Gespräch spürte ich so eine gewisse Traurigkeit, aber auch Enttäuschung und auch Zorn angesichts der Frage, ob die Kirche denn in der Tat auch nur ein Machtsystem sei, in dem jeder sein Süppchen kochen will. Und in all dem Gemenge führt Papst Franziskus einen Kampf gegen Windmühlen.
„So kann es doch nicht weitergehen!“ In diesem Augenblick ist mir spontan der Gedanke herausgerutscht: ‚Es wird sich nur etwas ändern, wenn wir uns von der hierarchischen Struktur einer klerikalen Kirche verabschieden und wir uns als Volk Gottes, wir alle also gemeinsam, gleichberechtigt auf den Weg machen. Wir sind viel zu sehr fixiert auf die Ämterstruktur der Kirche und freuen uns viel zu wenig über die große Vielfalt der glaubenden Menschen, die unserer Kirche ein Gesicht geben.
Nun hat in unserem Bistum der Bischof ja gerade einen synodalen Prozess eingeleitet, der denen Gehör verschaffen möchte, die bisher nicht gehört wurden. Ich bin sehr gespannt und neugierig, wie sich dieser Gesprächsprozess entwickeln wird und ob er wirklich etwas zu verändern vermag.
Ja, es muss sich was tun; so wie es ist, so hat unsere Kirche keine Zukunft. Nicht wenige sind ja der Überzeugung, um ihren Glauben zu leben, bräuchten sie gar keine Kirche mehr; dies nicht, weil die Kirche ihnen gleichgültig geworden wäre, sondern weil sie ihnen nicht mehr glaubwürdig erscheint. Das muss uns doch zu denken geben. Ja, es muss sich etwas ändern, grundsätzlich, radikal, von den Wurzeln her.
Was wäre zum Beispiel, wenn nicht ich euch, sondern ihr mir von eurem Glauben erzählen würdet – mir und uns untereinander. Ich bin mir ganz sicher: Das würde ein sehr lebendiges Gespräch werden. Einander zuwenden und erzählen, wie wir unser Leben meistern, was wir erlebt, überstanden, gelernt haben in unserem Leben, und wie in all dem Gott vorgekommen ist – oder eben auch nicht. Da würde die Stunde nicht reichen, die wir uns sonntags Zeit nehmen, um Gottesdienst zu feiern. Gottesdienst verbindet ja immer zwei ganz wesentliche Momente unseres Glaubens miteinander: Zum einen hören wir Gottes Wort und feiern sein Liebesmahl, zum anderen tragen wir eben unser Leben vor Gott und voreinander in den Gebeten, in den Fürbitten. So geht das zusammen: Wort Gottes und Leben von uns Menschen! Im Hören und Erzählen, im Mit-Teilen eben. Glaubensvermittlung ist keine Einbahnstraße; wir können und wir müssen einander von unseren Glaubenserfahrungen erzählen.
Wir hören heute im Evangelium davon, wie Jesus einlädt, von den eigenen Lebenserfahrungen und Lebensentwürfen zu erzählen. Von Dorf zu Dorf sind die Jüngerinnen und Jünger gewandert und sind vielen Menschen begegnet, haben viel gehört und erfahren von den Lebensentwürfen der Menschen. Glaube geschieht in Begegnung. Von diesen Begegnungen haben sie nun einander erzählt.
Ich meine, diese Ermutigung passt gut in unsere Situation und in unsere Zeit. Jesus sendet die Jüngerinnen und Jünger aus, um Erfahrungen zu sammeln, wie die Menschen leben, wessen sie bedürfen, woraus sie leben, und demgegenüber haben sie erzählt von ihren Erfahrungen mit einem Freund, der ganz aus Gott lebt und sie so tief im Herzen reich macht. Ich bin mir sicher, dass da eine ganz große Schatzkiste gefüllt worden ist mit Lebens- und Glaubensgeschichten. Und dann hieß es eben wieder aufzubrechen, weil die Fragen, die Bedürfnisse, die Nöte der Menschen so bedrängend nahe gekommen sind.
Es mag paradox klingen, so schön es ist, sich – wie auch hier heute – der Ruhe hinzugeben, so gewiss ist es auch, dass wir wieder genötigt werden zum Aufbruch. Kirche ist ein Ort, auszuruhen, ganz sicher, Kirche ist ein Ort des Gebetes, mindestens genau so selbstverständlich, Kirche ist aber ebenso wichtig ein Ort der Auseinandersetzung über Grenzen und Schwierigkeiten hinweg. Wessen wir uns heute und morgen noch sicherer werden müssen: Kirche ist nicht Selbstzweck; sie darf niemals sich selbst genügen. Schon gar nicht ist sie Sklavin ihrer eigenen Geschichte. Sie ist Ort, wo Glaube und Leben, wo Gott und Welt einander berühren und einander bereichern. Wo immer sie diesen Auftrag nicht erfüllt, bedarf sie der Erneuerung. Und sie bedarf immer der Erneuerung, weil nämlich wir Kirche sind; und wie würde es um uns stehen, wenn wir stehen blieben? Leben und Glauben muss immer bedeuten: Fort-Schritt, nie Still-Stand, zu viele warten darauf, ernst genommen zu werden mit ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen.
Christoph Simonsen

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15. Juli – 15. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Lesung: Amos 7,12-15
Zu Amos aber sagte Amazja: Geh, Seher, flüchte ins Land Juda! Iss dort dein Brot und tritt dort als Prophet auf! In Bet-El darfst du nicht mehr als Prophet reden; denn das hier ist ein Heiligtum des Königs und ein Reichstempel. Amos antwortete Amazja: Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehzüchter und ich ziehe Maulbeerfeigen. Aber der Herr hat mich von meiner Herde weggeholt und zu mir gesagt: Geh und rede als Prophet zu meinem Volk Israel!

Hören und Berühren
„Ich will hören, was Gott redet:
Frieden verkündet der Herr seinem Volk
und seinen Frommen, den Menschen mit redlichem Herzen.
Sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten.
Seine Herrlichkeit wohne in unserem Land.
Es begegnen einander Huld und Treue;
Gerechtigkeit und Friede küssen sich.
Treue sprosst aus der Erde hervor;
Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder.“ (aus Psalm 85)

Das sind prophetische Worte; wohltuende Worte in einer Zeit, in der Worte viel zu oft zu Waffen werden. Es sind alte Worte des Psalms 85, den die Liturgie heute als Antwortgesang nach der eben gehörten Lesung vorsieht. Mich berühren diese Worte; von ihnen geht eine Wärme aus, die keinen kalt lassen kann. Sie versetzen mich in eine innere Dankbarkeit, wie schön Leben sein kann – und sie lassen – für einen Augenblick – vergessen, dass alles ganz anders ist.
Und da sind wir mittendrin im Problem: Prophet*innen reden immer in einer Welt, die grundsätzlich anders ist, als sie eigentlich sein sollte. Die nächste Tragik folgt auf dem Fuß, denn in der Regel bewirken sie auch nicht wirklich etwas, was die Welt besser macht. Prophet*innen sind auf den ersten Blick hilflose Weltverbesserer in einer Welt, die nicht besser wird. Wie mag man sich da wohl fühlen als Prophet*in, wenn der übertragene Auftrag zu nichts führt, man immer wieder die Erfahrung macht, dass die Welt keinen Zoll friedlicher, warmherziger, göttlicher wird.
Prophet*innen wollen gar nicht die Welt verändern, sie wollen die Herzen der Menschen erreichen. Prophet*innen haben kein Interesse an Weltsystemen, wohl aber haben sie Interesse am Wohlergehen der Menschen, und zwar des einzelnen Menschen. Dieser Blick auf den einzelnen Menschen geht uns viel zu oft verloren weil wir uns festbeißen an und in Systemen. Viel zu sehr arbeiten wir uns an Systemen ab, während Prophet*innen im Hören auf das Wort Gottes ihren Blick dem einzelnen Menschen zuwenden. Wenn es dem Menschen gut geht, dann findet auch die Welt ihr Gleichgewicht wieder. Prophet*innen sind erfüllt, oder anders: sie sind randvoll von dieser Überzeugung: In Gottes Welt gibt es keine Feindbilder. Von dieser Überzeugung erfüllt, finden sie sich dann allerdings wieder in einer Welt, in der Feindbilder in immer neuen Varianten geprägt werden – von uns Menschen, nicht von Gott. Und das nur deshalb, weil wir Menschen uns unterscheiden wollen untereinander, nicht in unserem Sein, vielmehr in unserer Wertigkeit. Anders sein, das ist für die Vielzahl der Menschen gleichgesetzt mit wertvoller sein wollen bzw. minderwertiger sein müssen. Bezeichnungen werden zu Kampfmitteln. In der Vergangenheit war es der Nigger, heute ist es der Flüchtling, oder der Schwule, oder der Arbeitslose. Die einzige Intention dieser Klassifizierung liegt darin, sich selbst abzugrenzen von dem anderen.
Mir liegt noch sehr im Magen ein Erlebnis in diesem zu Ende gehenden Semester, wo wir mit einigen Studis belegte Brötchen an markanten Stellen unserer Stadt Obdachlosen gebracht haben, einfach nur so. Am Kaiserplatz kam dann ein Polizeiwagen angerauscht und ein Polizist fragte in einer sehr überheblichen Art, was wir denn da machen würden und ob wir nicht wüssten, dass dies Drogenabhängige wären und es gefährlich sei, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich war sprachlos und entsetzt. Weil jemand auf der Straße sitzt, ist er gefährlich. Weil eine Not, welcher Art auch immer, ihn der gewohnten Bürgerlichkeit entrissen hat, müssen wir uns vor ihm schützen. Getreu dem Motto: „Kennst du einen, kennst du alle“. Ein anderes Beispiel: Am vergangenen Wochenende hat der Rektor eines Theologenkonviktes die Studierenden mit einem Grundsatzpapier konfrontiert, wo Homosexuelle als „psychologische Fehlentwicklung“ bezeichnet werden, weshalb sie für den pastoralen Dienst ungeeignet seien. Zwei Beispiele – ein Wesensmerkmal: Wir Menschen zerreißen uns selbst an der Verrohung unserer Sprache, die eine Zerrissenheit der Welt unweigerlich nach sich zieht.
Einer solchen Wort-Gewalt und einer solchen Gefühls-Kälte begegnen Prophet*innen mit ihrem konkreten Leben, das badet im Meer der Erkenntnis Gottes, wie es bei Jesaja heißt. „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander… Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.“ In diesem Meer der Gotteserkenntnis sollen wir mitschwimmen. Dazu rufen die Prophet*innen Gottes auf. Dieses Meer der göttlichen Erkenntnis fragt nicht, bist du Flüchtling oder Obdachloser oder Schwuler oder erfolgreicher Wissenschaftler oder Aktienbesitzer; dieses Meer fragt nur: Bist Du ein Hörender? Ein Hörender, der es vermag, mit seinem Leben die vielen Worte zu einem Friedenswort zusammenzubinden? Prophet*innen sind keine Weltverbesserer, sie sind Friedenswortfinder. Gott interessiert nicht, was ein Mensch ist, sondern wer sie oder er ist. Infolge dessen bewerten Prophet*innen das Leben nicht, sie wollen es berühren und zusammenführen, indem sie in jeder und jedem die Friedenssehnsucht suchen.
Mir geht eine Begegnung nicht aus dem Sinn. Wer mich kennt, weiß um meinen zuweilen sehr nüchternen Realitätssinn und meine Art, manchmal zornig, zuweilen ironisch, nicht selten auch zynisch Stellung zu beziehen. Nun sagte mir jemand vor kurzem, dass meine bissigen Anmerkungen, die vielleicht in der Sache gar nicht unberechtigt sein mögen, manche Gesprächsgegenüber niederdrücken und im Letzten in ihrem Frust alleine zurücklassen. Da wurde mir bewusst, dass mir noch ganz viel fehlt, um mich Prophet nennen zu dürfen. Wirkliche Prophet*innen leugnen die Wirklichkeit nicht, nennen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit auch bei ihren Namen, aber was sie – wie gesagt – nicht tun: sie bewerten nicht, sie berühren mit ihrem Leben.
Ja: wir leben in bewegten und auch gefährlichen Zeiten. Unsere Zeit braucht Prophet*innen. Ich wünsche mir und uns genügend Sensibilität, mehr zu hören und zu berühren, und weniger zu klagen und zu schimpfen. So könnten wir vielleicht Prophet*innen werden in unserer Zeit.
Christoph Simonsen

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24. Juni – 12. Sonntag im Jahreskreis B

Evangelium: Markus 4,35-41

Am Abend dieses Tages sagte er zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; einige andere Boote begleiteten ihn. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?

„Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da“

Jede und jeder von uns hat wohl so etwas, was man gemeinhin einen persönlichen Lebensrhythmus nennt. Der eine ist eher der Morgenmuffel und drückt frühestens um 11.00 Uhr die innere Powertaste, die andere versprüht in der Frühe so viel Energie, dass dem anderen angst und bange wird. Aber wie immer wir gestrickt sein mögen und selbst wenn wir die Nacht zum Tag gemacht haben, irgendwann ist auch die tollste Fete mal zu Ende und es kommt der Zeitpunkt, wo man sich fallen lassen möchte –und zwar nicht nur ins Bett, vielmehr auch in eine innere Abständigkeit von allem, was einen am Tag beschäftigt hat. Für die meisten von uns ist das der Abend, wo Körper und Geist sich darauf freuen, zur Ruhe kommen zu dürfen. Spätestens wenn dieser Augenblick vor dem Einschlafen gekommen ist und man der Partnerin oder dem Partner eine gute Nacht gewünscht hat (wenn man nicht alleine schläft), dann ist man wirklich ganz bei sich und nur noch für sich da. Dann fallen einem die Augen langsam zu, und wenn der Tag gut gelaufen ist, spürt man vielleicht einen Hauch von Dankbarkeit oder auch Wehmut, dass etwas Schönes zu Ende gegangen ist oder – ganz anders – hindert einen eine Unzufriedenheit oder eine gemachte Dummheit, ruhig zu werden. Irgendwann aber überfällt einen auch dann der Schlaf, den wir alle brauchen und der die Hoffnung auf einen neuen Tag wachsen lassen kann.

Nun, das ist heute in der Erzählung des Evangeliums ganz anders. Und wieder einmal wird offensichtlich, dass die Botschaft Jesu ziemlich verwirren kann. Den Jüngern ist keine Ruhe vergönnt und die ersehnte Bettruhe fällt aus. Entgegen aller Erfahrung fordert Jesus sie auf, noch mal aufs Meer hinaus zu rudern, neuen Ufern entgegen.

Auch unter der Gefahr, dass ihr es langsam einfältig findet, möchte ich heute wieder auf Bilder zurückgreifen, wie in den vergangenen Wochen, aber dieses Mal auf imaginäre Bilder, auf Bilder im Kopf.

Da ist zunächst das schon angesprochene Bild der Abendstimmung. Ja, es ist so: Ich freue mich         für jede Nacht, in der ich gelassen schlafen kann, den vergangenen Tag zurücklassend und den Kommenden erwartend. Gewiss geht es euch ähnlich. Aber so ist es halt nicht immer. Wer kennt nicht die schlaflosen Nächte, die entsetzlich lange sein können, in denen man sich schweißgebadet herumwälzt und einem tausend Gedanken durch den Kopf gehen; Lebensperspektiven geraten ins Wanken, Freundschaften werden zu einer bedrängenden Frage, ursächliche Sinnfragen bringen einen in Rage – und das alles, obwohl der Schlaf so sehr Not tut.

Jesus mutet das seinen Freundinnen und Freunden zu; er überfällt uns mit seiner Erwartung, dass wir uns am Abend doch noch einmal aufmachen sollen, um dem Leben einen tragfähigen Sinn abzuringen. Vielleicht sind diese nervenden schlaflosen Nächte ja gar nicht so sinnlos, wie wir meinen. Vielleicht bergen sie ja auch die Chance in sich, Lebensenergie, Lebensmut, Lebenssinn einzufangen und einen unerwarteten Fang zu machen, der mein Leben sättigt.

Das zweite Bild ist nicht weniger verwirrend: Die Jünger sollen sich in der Nacht aufs Meer begeben. Seit Menschengedenken steht das Bild des Meeres in den Kulturen für eine chaotische, nicht kontrollierbare Welt. Wir wollen alles immer im Griff haben, den Überblick behalten und das Leben kontrollieren. Die vielen Diskussionen in unserer Gesellschaft, die uns einreden wollen, das Leben sei unsicherer geworden, weil die globale Welt alles mit allem verknüpft, sie suggerieren uns, dass Leben früher sicherer war und wir wieder dahin zurückkommen müssten. Aber das ist doch Unsinn, im wahrsten Sinn des Wortes: Es ist das Gegenteil von Sinn. Sinn macht es, sich dem Leben zu stellen und das Unerwartete als eine Herausforderung anzusehen. Was nutzte es, wenn wir allein ans andere – rettende Ufer kämen? Wir blieben allein. Im Letzten kann ich das Leben nur bewältigen, wenn ich in der jeweiligen Situation das Beste daraus mache und nicht krampfhaft versuche, die Gegenwart auszuradieren. Wenn ich neue Ufer erreichen möchte, dann darf ich nicht stehenbleiben.

Ja, ich muss mich auf den Weg machen. Das Bild des Weges kommt in unserer heutigen Geschichte auch vor. Keiner von uns ist schon angekommen; das andere Ufer ist noch nicht erreicht. Aber es gibt ein Ziel; es gibt eine Hoffnung, dass wir nicht ziellos umherirren müssen. Und ist es da nicht plausibel, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Sich mit Weggefährt*innen auf den Weg zu machen ist doch allemal heilsamer, als alleine loszuziehen. Und auf dem Weg Fremde zu Freunden werden zu lassen allemal schöner als sich zu bekriegen.

Das alles ist nicht illusorisch, nicht weltfremd. Illusorisch wäre es, sich in Traumwelten zu verwickeln. Lieber eine schlaflose Nacht, in der ich mir der Mühe des Lebens bewusst werde und mir meines Auftrages bewusster werde, wie ich mein Leben anpacken möchte, als eine verschlafene Nacht, in der ich vergesse, dass Gott mir eine Aufgabe übertragen hat, mich auf den Weg zu machen zu neuen Ufern.

Christoph Simonsen


10. Juni 2018 – 10. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Markus 3,20-35
Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen. Die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er ist von Beelzebul besessen; mit Hilfe des Anführers der Dämonen treibt er die Dämonen aus. Da rief er sie zu sich und belehrte sie in Form von Gleichnissen: Wie kann der Satan den Satan austreiben? Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. Und wenn sich der Satan gegen sich selbst erhebt und mit sich selbst im Streit liegt, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen. Es kann aber auch keiner in das Haus eines starken Mannes einbrechen und ihm den Hausrat rauben, wenn er den Mann nicht vorher fesselt; erst dann kann er sein Haus plündern. Amen, das sage ich euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften. Sie hatten nämlich gesagt: Er ist von einem unreinen Geist besessen. Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben vor dem Haus stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.

‚Ja, aber…‘, oder: Warum das kleine Wort ‚aber‘ so viel kaputt macht
Das kommt schon mal vor, dass einen die eigenen Leute für bekloppt halten: manchmal sogar die eigene Familie. Ab und zu macht man ja auch bescheuerte Sachen, wo andere nur den Kopf schütteln können. Problematisch wird es, wenn nahestehende Menschen einem die Zurechnungsfähigkeit absprechen, davon überzeugt sind, man müsse einen im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Verkehr ziehen. „Er ist von Sinnen“. Mit Gewalt wollte seine Familie ihn – Jesus – aus seinen konkreten Lebensgefügen herausholen. Andere legten noch nach, besessen soll er sein, von Beelzebul befallen, sogar der Satan wird ihm angedichtet. Da geht’s nicht um einen dummen Jungenstreich, da geht’s um Grundsätzliches; da geht’s um Gewissenhaftigkeit, da geht’s um bewusstes, reflektiertes Leben. Da geht’s darum, wen man liebt und wie man liebt, wenn ich da zum Beispiel an die Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena denke oder an die biblische Information, die zur Diskussion anregen kann, dass der Jünger, den Jesus liebte, an seiner Seite saß. Dieser Jesus, ist er wirklich verrückt? Ist er so anders, dass er hinter verschlossene Riegel gehört? Was werfen ihm die anderen vor? In dieser Perikope wird nicht klar, was er dieses Mal ‚angestellt hat‘. Es wird nur berichtet, wie er in ein Haus geht und dass ihm viele folgen, mehr wird nicht gesagt. Dennoch wird der Anschein erweck, als müsste Jesus geradezu vor sich selbst geschützt werden. Aber es ist ganz anders, und das stellt sich ganz schnell heraus: Sie wollen nicht Jesus schützen, es geht ihnen einzig um sie selbst. Sie haben nicht Angst um Jesus, sie haben Angst, sich selbst in Frage stellen zu müssen, wenn sie diesen Jesus tatsächlich ernst nehmen; sie haben Angst vor Veränderung, vor Systemveränderung, vor Traditionsbrüchen. Es soll alles so bleiben, wie es war und Jesus bringt halt den ganzen Laden – salopp gesagt – durcheinander. Jesus aber will einen Systemwechsel: Von der Fremdbestimmung weg, hin zu einem neuen Selbstbewusstsein jeder und jedes einzelnen Menschen: Der Mensch ist geliebt – von Gott, der Mensch als Subjekt, nicht als ein zusammengesetztes Wesen verschiedener Eigenschaften und Wesenheiten. Der Mensch in seiner Ganzheit ist von Gott unteilbar angenommen.
Bei einer Tagung in der vergangenen Woche hat uns ein Theologieprofessor sprachlos gemacht: Er zitierte aus einem kirchenrechtlichen Papier über die Ehe, in dem aufgelistet ist, was vorauszusetzen ist, damit eine Ehe im kirchlichen Sinn rechtsverbindlich geschlossen werden kann, und fragte dann, welches Wort wohl fehle in diesem Text. Wir grübelten alle und keiner kam drauf. Es war das Wort „Liebe“. Voraussetzung für eine vor Gott gültige eheliche Gemeinschaft sollte doch vor allem anderen sein, dass die beiden Menschen sich lieben. Aber das war wohl weniger notwendig, als andere biologische Voraussetzungen, die erfüllt sein mussten. Leben muss zweckerfüllend gelebt werden, selbst Liebe und Zuwendung müssen Ergebnisse aufweisen. Das Kirchenrecht mag eine unverzichtbare Wissenschaft sein, aber darf es so großen Raum einnehmen, dass es die Liebe verzweckt?
Aus der ungeteilten Anteilnahme Gottes heraus, vermag Mut und Offenheit erwachsen, sich in Liebe einem anderen Menschen anvertrauen zu können. Ein Humanwissenschatler hat es uns erläutert: Wer Anteilnahme nie erfahren hat – Anteilnahme Gottes, aber nicht minder Anteilnahme von vertrauten Menschen – der wird der Liebe nie fähig werden. Wem aber ein unbedingtes ‚JA‘ in seiner Lebensgeschichte zugesprochen ist, der wird in seiner Zukunft Liebesfähig und bindungsfreudig sein können. Es braucht ein zugesagtes ‚JA‘, um zu einem anderen ‚JA‘ sagen zu können.
Das ist die Zielperspektive des von Jesus geforderten Systemwechsels: Wer das ‚Ja‘ Gottes in seinem eigenen Leben erfahren hat, der hat ein wertvolles Rüstzeug dafür, im Leben der anderen alles zu suchen, was ihn ‚Ja‘ sagen lassen kann zum anderen. Wir müssen aufhören damit, immer zuerst das Haar in der Lebenssuppe des/ der anderen zu suchen; aufhören, die Defizite der anderen höher zu bewerten als das Wunderbare in ihnen. Weg von einem Leistungsglauben und hin zu Einladungsglauben. Und Jesus lebt es vor: Er lädt ein. Jesus ist nicht verrückt, nicht besessen, weil er das Gute, das Göttliche im Menschlichen sucht. Dass ihm so viele hinterherlaufen beweist doch nur, wie sehnsüchtig die Menschen sind, dass da einer ist, der ‚Ja‘ sagt, statt immer nur ‚Ja, aber…‘. Wer immer das ‚aber‘ hinterherschiebt hinter einem halbherzigen ‚JA‘, bleibt immer ein Fremder, da mag das Verwandtschaftsverhältnis noch so nahe sein. „Vater und Mutter, Bruder und Schwester ist mir, wer den Willen Gottes tut“. Nicht die Biologie, nicht ein Naturrecht entscheidet über Nähe und Distanz zueinander, sondern die Bereitschaft, den Willen Gottes zu tun im Gegenüber zum anderen. Und sein Wille ist es, immer zuerst das Wunderbare im anderen zu suchen.
Dass das eine überfordernde Aufgabe ist, wissen wir alle. Der Systemwechsel beginnt im eigenen Kopf und Herz; aber er muss in der Konsequenz auch einen Systemwechsel in unseren kirchlichen wie auch gesellschaftlichen Strukturen zur Folge haben, sonst verkümmern wir im rein Spirituellen. Das umfängliche ‚JA‘ Gottes, das sich im menschlichen ‚JA‘ verweltlicht, Teil unserer konkreten Welt werden möchte, will diese Welt real erneuern; der Maßstab menschlichen Zusammenlebens musst immer zuerst das ‚JA‘ sein, ohne Wenn und Aber, denn dieses kleine Wort „aber“ bedeutet Starre und Stillstand. Das Leben mit Gott aber verheißt und erwartet Bewegung und Erneuerung.

Christoph Simonsen

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Sonntag, 27. Mai 2018

Lesung: Deuteronomium 4,32-34.39-40
Moses sprach zu seinem Volk: Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses und hat man je solche Worte gehört? Hat je ein Volk einen Gott mitten aus dem Feuer im Donner sprechen hören, wie du ihn gehört hast, und ist am Leben geblieben? Oder hat je ein Gott es ebenso versucht, zu einer Nation zu kommen und sie mitten aus einer anderen herauszuholen unter Prüfungen, unter Zeichen, Wundern und Krieg, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm und unter großen Schrecken, wie es der Herr, euer Gott, in Ägypten mit euch getan hat, vor deinen Augen? Heute sollst du erkennen und dir zu Herzen nehmen: Jahwe ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst. Daher sollst du auf seine Gesetze und seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, achten, damit es dir und später deinen Nachkommen gut geht und du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt für alle Zeit.

Den Blick zurück ins eigene Leben wagen und der Gegenwart ins Auge schauen
Ich hab Euch heute Abend ein Bild von dem Stuttgarter Künstler Hannes Steinert mitgebracht und möchte zu Anfang einfach ein paar Stichworte in den Raum werfen und einen ersten Zugang zu dem Bild eröffnen; anschließend versuche ich eine Deutung und hoffe, ihr könnt mir folgen. Doch zuerst einige meditative Wortketten, angeregt von der Einladung, die uns heute in der Lesung zugesprochen wurde: „Forsche einmal in früheren Zeiten nach…“:
Zurückschauen in die eigene Geschichte:

• In das eigene Leben schauen
• Verweilen
• innehalten
• Genau hinschauen
• Die inneren Augen zur Ruhe kommen lassen
Zurückschauen in die eigene Geschichte:
• Geschichte anschauen
• Eigene Geschichte anschauen
• Vergangenheit in die Gegenwart transponieren
• Geschichte nicht abhaken, sondern wirken lassen
• Erlebtes, Erlittenes, Erstarktes der Verdrängung entreißen
Zurückschauen in die eigene Geschichte:
• Die Augen weiten auf Gewandeltes im Leben
• Geglücktes erkennen aus Gereiftem und Gelerntem
• Wunder erblühen sehen aus dem Gewesenen
• Leben erwachsen sehen aus dem Verblassten.

(kurze instrumentale meditative Musik)

Hannes Steinert malt einfache Bilder. Bleistiftzeichnungen. Es sind nahezu kindliche Bilder; sie geben Einblick in die Träume des Menschen. Zugleich entstehen Bilder von großer Offenheit. Schlicht sind sie, ohne Schnörkel; sie lassen einen unbändigen Lebenshunger nach Weite erahnen. Das Faszinierende: sie scheuen es dennoch nicht, der Undurchsichtigkeit des Lebens Raum zu geben. Sie zeigen Leben in einer Welt, die dem Wind der Wirklichkeit ausgesetzt ist und zugleich wahren sie den Traum eines Lebens in beglückender Freiheit und Erfülltheit.
In die Welt gehen muss nicht immer gleich heißen, weiter zu gehen, voranzugehen. Es kann auch einmal heißen, zurückzugehen. Fortschritt entwickelt sich nicht nur im Blick auf die Zukunft. Auch wer zurückblickt kann Neues entdecken, kann erkennen, dass etwas wächst, was gereift ist aus Vergangenem.

In die Welt gehen, Weite suchen, Leben suchen, sich suchen, Gott suchen. „Forsche einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum anderen Ende.“ Was mögen wir wohl sehen dann? Abgehaktes? Überwundenes? Gottlob Verarbeitetes? Oder hören wir heute im Blick zurück einen Gott aus dem Feuer im Donner zu uns sprechen und erkennen wir, dass er zu uns kommen will, durch alle Prüfungen des Lebens hindurch?

Christoph Simonsen

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Pfingsten 2018

Evangelium: Johannes 15,26-27; 16,12-15

Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. Und auch ihr sollt Zeugnis ablegen, weil ihr von Anfang an bei mir seid. Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.

Was ist Wahrheit?

Jetzt ist aber wirklich lange genug über das Kreuz diskutiert worden; die entsprechenden Politiker*innen und all die anderen, hatten ihren Auftritt, so dass wir uns jetzt wieder dem Wesentlichen zuwenden können. Und das Wesentliche des Glaubens ist nicht das Kreuz, das Wesentliche des Glaubens ist Gott. Und zwar der Gott, der den Menschen nahe sein möchte. Den Menschen vor allen, die in ihrem Leben schwere Kreuze zu tragen haben. Und denen ist wurscht, ob irgendein Schmuckkreuz irgendwo in einem Eingang hängt oder nicht. Goldene, silberne, diamantene Kreuze sind nicht die Kreuze, die die Welt besser machen. Wohl aber die Kreuze, die auf den Schultern und den Herzen der Menschen liegen: diese Kreuze haben Einfluss auf das, was in der Welt geschieht. Es gibt Kreuze, die machen das Leben so schwer, dass Menschen daran zu zerbrechen drohen.

Ich denke an die Familie und die Freunde von Jonas, den wir am vergangenen Freitag zu Grabe getragen haben. Dass die Eltern und Geschwister, ja fast eine ganze Gemeinde an diesem Kreuz der Trauer und des Unverstehens nicht zerbrechen, das gleicht in meinen Augen einem Wunder und ich schau ehrfürchtig auf diesen Glauben der Familie, die versuchen, ihre unsägliche Trauer mit ihrem Glauben zu tragen.

Ich schaue – mit einem ganz anderen Blick – auf die Abgehängten unserer Gesellschaft, die chancenlos sind und sich extremen Überzeugungen zuwenden – aus Not, aus Unwissenheit, aus Angst, und die spät, hoffentlich nicht zu spät erkennen, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch unsere Gesellschaft als Ganzes in Gefahr bringen, der Unmenschlichkeit anheim zu fallen.

Diese existentiellen Kreuze, diese lebensbeeinflussenden Kreuze in den Blick zu nehmen, dazu bedarf es einer Gabe, die uns heute zuteilwird. Wer die wirklichen Kreuze dieser Welt in den Blick nehmen will, der braucht Geist, guten Geist, wahrhaftigen Geist. Gottes Geist möchte in die Wahrheit führen, in die Wahrheit unseres Lebens.

Aber was ist wahr, was ist wahrhaftig? Auf diese Antwort würden wohl Statistiker anders antworten als Juristen, und Soziologen anders als Naturwissenschaftler. Der Begriff „Wahrheit“ ist ein wahrhaftig schwierig Ding. So schwer sogar, Jesus sagt es selbst, dass wir es nicht zu tragen vermögen.

Sollen wir uns jetzt also anderen Dingen zuwenden, die leichter zu fassen sind. Können wir machen, aber wir werden dadurch sicher nicht ruhiger. Denn die Wahrheit ist nicht nur schwer zu tragen, sie ist auch ein Quälgeist, der uns nicht in Ruhe lässt. Die Frage nach der Wahrheit ist so virulent, dass wir von ihr nicht loskommen. Wir wollen wissen, was wahrhaftig ist. Da muss irgendwo in unseren Genen ein Gnom sein, der uns immer wieder anstößt und quält mit dieser drängenden Frage nach der Wahrheit. Ohne den Ehrgeiz, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, würde unser Leben, unser eigenes wie auch unser gesellschaftliches Leben, in Beliebigkeit oder Chaos versinken. Ohne den Anspruch, wahrhaftig zu sein, wäre unser Leben von Misstrauen und Missgunst geprägt und wir würden uns gegenseitig zerfleischen – noch mehr, als wir es sowieso schon tun.

Aber wenn es so schwer ist, die Wahrheit zu finden und sie dann auch zu tragen, damit wir sie im Notfall auch ertragen können, wie kommen wir ihr näher? Indem wir sie suchen – und zwar gemeinsam. Das ist des Pudels Kern. Wahrheit findet sich immer nur im gemeinsamen Suchen. Wahrheit ist nicht individuell, Wahrheit ist sozial. Jesus führt uns auf diesen Gedanken, da er ‚mein‘ und ‚dein‘ und ‚sein ‚zusammenbringt und in ein ‚unser‘ führt: „Vater unser“. Was sein ist, ist unser. „Er nimmt von dem, was mein ist“, und wird es euch geben. Den Geist der Wahrheit nämlich. Wahrheit gibt und nimmt also. Und im Blick auf den, der das sagt, im Blick auf sein Leben, kann das nur heißen: Wahrheit gibt Hoffnung und nimmt das Kreuz.

Der Geist der Wahrheit macht Leben nicht unbedingt leichter, aber auf jeden Fall erträglicher. Im wahrsten Sinn des Wortes so, dass die Schwere des Lebens tragbar wird, lebbar wird. Wo das Leben des einen getragen ist von der Hoffnung der anderen, da wird der Geist der Wahrheit erkennbar.

Pfingsten ist das Fest, das die Menschen in Wahrheit zusammenführt, damit jede und jeder einzelne erkennt und spürt, dass ihr und sein Leben Sinn hat und Sinn macht. Ich denke an Jonas und viele andere, denen sich ihr Lebenssinn nicht erschlossen hat. Vielleicht auch deshalb nicht, weil sie sich nicht einzubringen vermochten in die gemeinsame Suche nach der Wahrheit und nicht die Kraft fanden, ihr durchkreuztes Leben als wertvoll genug anzusehen in einer Welt, in der Wahrheit zu oft mit Gewissheit gleichgesetzt wird. Dass Wahrheit eine immer zu Suchende ist, und jede und jeder beizutragen vermag, der Wahrheit Gottes näher zu kommen, das braucht wohl noch ein wenig mehr Geist. Gut, dass er uns heute geschenkt wird.

Christoph Simonsen


13. Mai – 7. Sonntag der Osterzeit – Lesejahr B

Wo ‚Liebe‘ drauf steht, ist ‚Gott‘ drin

„Freiheit ist, wenn dein Datenvolumen so groß ist wie eure Liebe.“ Das ist der neue Slogan eines Telefonanbieters. Jetzt versteht ihr vielleicht, was ich letzten Sonntag meinte, als ich sagte, wie schwer es mir fällt, diese großen und wunderbaren wie wundersamen Worte wie ‚Liebe, Freiheit, Glück‘ überhaupt in den Mund zu nehmen, geschweige denn, sie zu deuten. Worte sind eben nicht nur Schall und Rauch. In Worten verbergen sich Überzeugungen; in Worten verbirgt sich Menschliches – und Göttliches. Worte können aufrichten, sie können aber auch in den Dreck ziehen. Was aber mindestens genau so schlimm ist: Worte können ihrer Bedeutung und ihres Geheimnisses beraubt werden und so banalisiert werden, dass man sich schämen muss. Wer ‚Liebe‘ sagt, und ‚Verkaufsoffensive‘ meint, vergreift sich nicht nur gewaltig im Ton, er vergreift sich, was viel tragischer ist, an allem, wonach Menschen sich sehnen und was so oft von den gleichen Menschen aufs Spiel gesetzt wird.

Man kann Worten auch Leid zufügen, denn es gibt Worte, in denen liegt Verletzliches, Zerbrechliches. Eines der Worte, die einer tiefen Behutsamkeit bedürfen, ist das Wort ‚Liebe‘. Und heute in der Lesung hören wir, warum das so ist: Gott ist die Liebe. Neben der Offenbarung an dem brennenden Dornbusch, wo Gott sich dem Moses als Jahwe vorstellt, ist die Botschaft, Gott sei die Liebe, wohl der einzige Hinweis auf den Namen Gottes. Der Name Gottes sagt, wie er ist. Ein wenig erinnert mich das an meine kindliche Zeit, wo ich die Karl May Filme im Kino gesehen habe und die Indianer dort eben auch Namen trugen, die auf ihr Wesen schließen ließen. Wenn ich also das Wort ‚Liebe‘ in den Mund nehme, so muss mir bewusst sein, dass ich dann zugleich immer auch Gott meinem Gegenüber vermittele. Wo Liebe gesagt wird, ist Gott drin. Und eines dürfte sicher sein: In einem Handy ist Gott mit Gewissheit nicht drin.

Wo Liebe gesagt wird, ist Gott drin. Diese Aussage führt mich zu einem anderen Gedanken. Nicht nur, dass wir achtsam mit so großen Worten wie eben ‚Liebe‘ umgehen sollten; wir sollten uns auch bewusst werden,  wie weit und vielfältig Gott ist. Überall, wo Liebe ist, ist Gott. Und wo Liebe nicht ist, da fehlt Gott. Lieben kann jede und jeder, weil nämlich in jeder und jedem Gott ist. Die eine Perspektive klingt einleuchtend dabei, vielleicht ein wenig einleuchtender als die andere: Wo Gott ist, ist Liebe. Ja! Das erschließt sich aus den Heiligen Schriften, das lernen wir in unseren christlichen Kirchen. Aber auch das andere gilt: Wo Liebe ist, ist Gott. Und diese Wahrheit fordert uns wahrlich mehr heraus, denn sie verdeutlicht, dass Gott oft auch dort ist, wo wir ihn womöglich zunächst gar nicht vermuten oder wo wir bis heute mit theologischer oder geistlicher Überzeugung behaupten, da könne er nicht sein. Zum Beispiel in der Liebe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern. In einem Monat darf ich an einer Fachtagung für pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der katholischen Akademie Hamburg teilnehmen, wo die Frage gestellt wird, ob man die Liebe zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts segnen darf. Ich bin gespannt, wie die Diskussionen verlaufen werden. Auch in der Liebe zwischen zwei Menschen, die aus verschiedenen Konfessionen oder sogar verschiedenen Glaubensüberzeugungen herkommen und doch gemeinsam Gottesdienst feiern möchten, da ist der eine Gott. Unsere Kirche kommt dieser Sehnsucht, gemeinsam zu feiern, leider nicht angemessen nach. Es wird heute diskutiert, aber einladende Antworten stehen bis heute aus. Ich bin mir sicher, auch in der Liebe eines einsamen Menschen zu  seinem Haustier, einem Hund, einer Katze, einem Vogel, da ist Gott. Meine Mutter zum Beispiel, die seit über 30 Jahren Witwe ist, spricht mit ihrem Papagei und teilt manche Gedanken mit ihm, vor allem aber teilt sie ihre zuweilen auftretende Einsamkeit, weil wir drei Kinder immer zu wenig Zeit haben. Alle Liebe ist immer auch ein Gottesbekenntnis, bewusst oder unbewusst.

Deshalb ist das Wort Liebe, aber auch manch anderes Wort, so unendlich wertvoll, weil, wer immer es ausspricht, zum Gottesboten wird, völlig egal, wem er oder sie das Wort ‚Liebe‘ zuträgt. Und auch völlig egal, ob ein reflektiertes Glaubensbekenntnis damit verbunden ist oder nicht, ob jemand überhaupt an einen Gott glaubt oder nicht. Karl Rahner, mein geschätzter Lehrer als Dogmatiker, sprach immer wieder vom „anonymen Christentum“; und er meinte damit wohl, genau das: Wer das Wort ‚Liebe‘ einem anderen Menschen schenkt, zuspricht, der schenkt das, was gläubige Menschen ‚Gott‘ nennen, ohne es zu wollen oder zu wissen. So groß ist Gott, Vereinnahmung ist ihm fremd, denn er liebt immer zuerst…                                 Predigt am 13. Mai

Christoph Simonsen


15. April 3. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr B – 2018

Evangelium: Johannes 21,1-14
Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal. Es war am See von Tiberias und er offenbarte sich in folgender Weise. Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus (Zwilling), Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen. Simon Petrus sagte zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sagten zu ihm: Wir kommen auch mit. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot. Aber in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas fangen. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr sei, gürtete er sich das Obergewand um, weil er nackt war, und sprang in den See. Dann kamen die anderen Jünger mit dem Boot – sie waren nämlich nicht weit vom Land entfernt, nur etwa zweihundert Ellen – und zogen das Netz mit den Fischen hinter sich her. Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot. Jesus sagte zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr gerade gefangen habt. Da ging Simon Petrus und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht. Jesus sagte zu ihnen: Kommt her und esst! Keiner von den Jüngern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch. Dies war schon das dritte Mal, dass Jesus sich den Jüngern offenbarte, seit er von den Toten auferstanden war.

Gute Zeiten – schlechte Zeiten
Hinter manch vertrauter Erzählung verbergen sich gern nüchterne, aber nicht weniger wertvolle Lebenserfahrungen. So auch in unserem heutigen Evangelium, das wir zu Beginn des neuen Sommersemesters 2018 hören. Mir scheint, da wird so einiges angesprochen an Grundsätzlichem und auch bedeutsame Lebensfragen kommen zur Sprache, die wir uns genauer anschauen sollten. Ich will jetzt nicht behaupten, die Heilige Schrift sei ein Lebensratgeber. Was sie aber ist: Ein Buch voller menschlicher Lebenserfahrungen, die im Licht des Glaubens reflektiert werden. Darauf möchte ich mich euch heute Abend schauen.

• „In dieser Nacht fingen sie nichts“. Menschen, die Ostern hautnah erlebt haben, die doch eigentlich wissen müssten, dass Sinn und Wert eines Lebens sich nicht misst an Erfolg oder Misserfolg, bleiben vor Enttäuschungen nicht verschont und lassen sich so richtig runterziehen von einem missglückten Arbeitstag. Jammern und Klagen, gehört wohl zum Leben dazu, auch wenn das keiner gerne zugibt. Auch österliche Menschen dürfen, können, müssen, wenn es denn angebracht erscheint, laut das Wort mit sch brüllen dürfen, ohne dass sie gleich vom Blitz erschlagen werden. Ich verrate meinen Glauben nicht, wenn ich auch mal an mir oder anderen verzweifele. Nicht Perfektion ist ein Kriterium für ein gelungenes Leben, nicht Geradlinigkeit, sondern die Bereitschaft zur Ehrlichkeit, sich selbst zu sagen: Es ist, wie es ist; und heute ist es eben sch… Misserfolg ist menschlich. Das zuzugeben und anzuerkennen verlangt ein hohes Maß an Selbstreflexion. Wir sind doch meist viel besser darin geübt, die Maske des Erfolgsmenschen aufzusetzen und so zu tun, als ob alles easy sei. Lieber „Gute-Laune-Bär“ als „Jammerlappen“. Und genau so will es ja auch unser System. Styling und Erfolg ist gefragt; letztens stellte eine gute Bekannte für sich fest, dass sie den Eindruck habe, in den Aachener Unis würden nur Nerds rumlaufen. Aber Erfolg macht Menschsein nicht aus. Weil wir aber meist darauf aus sind, Erfolgsmenschen sein zu wollen oder zu müssen, setzen wir Misserfolg mit Scheitern gleich. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigt ein tieferer Blick in das heutige Evangelium.

• „Die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war“. Sie trauen sich aber auch nicht zu fragen, wer der Fremde am Ufer denn sei. Diese Scheu vor dem Fremden erzeugt Distanz und Unsicherheit. Selbst das vertraute Zureden von Jesus ändert nichts an der Tatsache, dass der Fremde ihnen fremd bleibt. Trotzdem tun sie, was er ihnen rät. Das finde ich sehr bemerkenswert. Wer verlässt sich, gerade wenn er mies drauf ist, darauf, was ihm ein Fremder sagt? Den Jüngern ist scheinbar trotz dieses Debakels eines nicht verloren gegangen: ein Urvertrauen darin, nicht ausgenutzt zu werden von anderen, und eine unverbrüchliche Überzeugung darin, dass der Mensch wohlmeinend ist, so fremd er auch sein mag. Das klingt in unseren Zeiten nicht nur befremdlich, sondern geradezu gefährlich. Ich vermag nicht zu sagen, ob es den Jüngern eher schwerer oder doch leichter gefallen ist, sich der Aufforderung des Fremden anzuvertrauen; aber sie haben es getan, und sie wurden nicht enttäuscht. Im Gegenteil, sie wurden reich beschenkt. Ist ihr Verhalten nun eher waghalsig gewesen oder schlicht nur menschlich. Das mag jede und jeder von uns selbst entscheiden. Für mich ist wichtig: Fremdheit muss nicht Befremdlichkeit nach sich ziehen; Fremdheit kann auch überraschend reich machen. Darauf zu bauen und zu vertrauen, dass ein Mensch gut ist und Gutes will, so fremd er auch sein mag, das spornt mich an, mein Grundvertrauen in unsere Welt und in unser Zusammenleben neu zu überprüfen.

• Und ein Letztes: „Meine Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen“. Jesus erbittet etwas zu essen von seinen Jüngerinnen und Jüngern. Wenn die Begrifflichkeit auch sicher vermessen ist, die Auferstehung Jesu als Karrieresprung wahrzunehmen, so sehe ich doch darin einen Funken Wahrheit; wenn denn Karriere besagt, dass jemand etwas Gutes und Weiterführendes aus seinem Leben macht oder gemacht hat. Jesus hat etwas aus seinem Leben gemacht, weil er als ein auf Gott vertrauender Mensch gelebt hat und sich der Aussichtslosigkeit des Todes gestellt hat – auch in diesem Vertrauen auf Gott. Klaus Hemmerle nannte das mal: „Karriere nach unten“. Jesus zeigt sich den Menschen, seinen Freundinnen und Freunden als ein Bedürftiger; er setzt sich nicht ab von den Menschen, er erhebt sich nicht über sie. Er bleibt ihnen auf Augenhöhe verbunden; er bleibt einer von ihnen. Und er bekundet, dass er ihrer Unterstützung und ihres Beistandes bedarf, um satt und heil leben zu können. Jesus distanziert sich nicht von seiner Lebensgeschichte, weil er ja jetzt nach der Auferstehung ein anderer ist. Ganz im Gegenteil: Obwohl er den Jüngern voraus ist, geht er ihnen nach. Die Parallele zu unserer Zeit liegt nicht allzu fern. Wie nahe bleiben wir, auch wenn wir vorangekommen sind in unserem Leben? Wie verbunden bleiben wir, wenn uns Titel und Leistungen voneinander trennen?

Wenn das Evangelium ein Spiegel alles Menschlichen im Widerschein Gottes ist, dann sind wir nicht außen vor, sondern mittendrin in dem, was wir heute gehört haben. Niederdrückend Enttäuschendes, überraschend Belebendes und solidarisch Verbindendes machen unser Leben aus. Und diese ganze Vielfalt unseres Lebens dürfen wir auch im beginnenden Sommersemester zeigen, teilen. Wenn es uns gelingt, in dem, was geschieht, was wir erleben, woran wir teilhaben, den Widerschein Gottes zu entdecken, dann wird es eine gute Zeit werden. Das wünsche ich uns.

Christoph Simonsen

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08. April  –  2. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr B – 2018

Evangelium: Johannes 20,19-31
Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert. Thomas, genannt Didymus (Zwilling), einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder versammelt und Thomas war dabei. Die Türen waren verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.

Frieden im Kleinen wie im Großen
„Die letzten Paradiese werden angepriesen und angeflogen:
Wasser, das noch nicht gechlort ist;
Auf Bali eine Palme, die nicht im Kübel steht;
Im Ruhrgebiet verkauft man Stille und Luft, garantiert nicht aus Leverkusen;
Im Rhein soll man bei St. Augustin einen Fisch gesehen haben.
Die Leute werden immer anspruchsvoller: Jetzt wollen sie sogar Frieden haben und miteinander Brot essen.“
Ja, das ist wirklich so, selten war die Sehnsucht nach Frieden so groß wie in unseren Tagen; seit langen Zeiten hatten die Ostermärsche in diesem Jahr mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer als in den Jahren zuvor. Selten aber auch war die Verzweiflung so groß darüber, dass unsere Welt sich so unendlich verstrickt in Widersprüche und Egoismen, dass die Suche nach Frieden darüber in Vergessenheit geraten ist.

Dieses Gedicht aus den 70iger Jahren von Lothar Zenetti, einem Frankfurter Gemeindepfarrer, bringt dieses Erstaunen darüber sehr treffend auf den Punkt, dass Frieden scheinbar eine unerreichbare Utopie und gemeinsam Mahl zu halten wahrlich unvorstellbar ist. Die Welt in all ihrer Einmaligkeit und Schönheit geht vor die Hunde, so dass wir Menschen uns mit Kleinigkeiten zufrieden geben, wie eben in dem Gedicht beschrieben.
Das große Stichwort des heutigen Evangeliums heißt auch: Frieden. Und Frieden ist eben keine Kleinigkeit. Frieden mag im Kleinen anfangen, aber wirklich Frieden ist erst, wenn keiner mehr auf den anderen schießt, alle einander die Mittel zum Leben gönnen und niemand mehr unter die Räder kommen muss weil andere an ihrem Reichtum ersticken. In der Politik wird gerade ein neues Reizwort diskutiert: Grundeinkommen. Ein Einkommen also, dass das Leben sicher macht und keiner von Almosen leben muss, auch nicht von gesetzlich festgesetzten Almosen wie Hartz IV. Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, aber warum sollte das eigentlich in unserer reichen Gesellschaft nicht möglich sein, dass allen ein Einkommen sicher ist, ohne dass Neid und Missgunst das gesellschaftliche Miteinander vergiften?
Das heutige Evangelium ermahnt uns, Frieden als einen unersetzbaren Wert zu erkennen sowohl für mein persönliches als auch für unser gemeinsames Leben. Was bedeutet das? Darüber lohnt ein Augenblick des Nachdenkens und Nachspürens. Vielleicht bedeutet es: In mir einen nachhaltigen Hauch von Zufriedenheit und Dankbarkeit zu spüren; mich nicht gleich bei jeder öffentlichen Erschütterung gehen lassen, so als seien die Grundfeste meines Lebens ins Wanken geraten; nicht gleich mitschwingen auf der Empörungswelle, wenn irgendwer bei Facebook oder sonstwo einen Pups loslässt, wie schrecklich dieses oder jenes doch ist: Sind das vielleicht Anzeichen eines inneren ausgeglichenen Friedens? Ruhe bewahren und Ruhe ausstrahlen, das sind gewiss gute Merkmale, die auf einen inneren Frieden hinweisen können. Aber diese Ruhe darf nicht verwechselt werden mit einer Grabesruhe. Jesus, der das Grab überwunden hat, und der nun als der Auferstandene seinen Freundinnen und Freunden den Frieden wünscht, ruft zu einem sehr konkreten Frieden auf. Zu einem Frieden, der zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Freude und Sünde zu unterscheiden vermag. Das Kriterium aber, dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist kein Katalog, kein Gesetzbuch, sondern die Persönlichkeit Jesu selbst. Sein Geist ermöglicht diesen Frieden.
Heutzutage versuchen alle, die Mitte, anders gesagt, den möglichst schmerzfreien Ausgleich, zu finden, der keinem weh tut und so tut, als könnte man es allen und jedem Recht machen, ohne dass jemand sich wirklich verändern müsste. Politiker mühen sich um eine Politik der Mitte; Wissenschaftler suchen den Ausgleich zischen Schöpfungsverantwortung und Technologie. Wenn aber alle die Mitte suchen, dann ist es – bildlich gesprochen – dort ziemlich voll. Die Gefahr, sich gegenseitig auf die Füße zu treten und neue Aggressionen zu erzeugen, ist ziemlich groß. Das Mühen um Kompromisse gerät schnell an Grenzen der Glaubwürdigkeit. Jesu Geist, seine Persönlichkeit, sein Wesen weisen Weg und Ort auf, von wo aus Frieden ausgehen kann. Es ist den Weg der Verwundbarkeit. Gefährlich wird das Leben eher an den Rändern der Gesellschaft als in der Mitte, wo alles kuschelig warm und sicher ist. Wobei auch die Ränder ihre Tücken haben, die rechten wie die linken Ränder. Da gilt es, an Jesu Maßstab zu erinnern. So lange auf dem Weg die Frage nach Gott lebendig ist, nach dem Gott, der einlädt und nicht ausgrenzt, nach dem Gott, der Leben verheißt und nicht Tod, so lange ist der Weg ein Friedensweg. Frieden fängt im Kleinen an, aber mit Kleinem alleine sollten wir uns als österliche Menschen nicht zufrieden geben.

Christoph Simonsen

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Ostern 2018

Markus 16,1-7

Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß. Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.

 

Heimat ist irgendwo anders:

Das Volk Gottes hat es schwer; es kommt nicht zur Ruhe – bis heute nicht. Es wurde und es wird bis heute entführt, besiegt, erniedrigt, ja sogar der Vernichtung sollte es ausgeliefert werden. Und fast wäre es gelungen: Sechs Millionen Juden wurden – es ist gerade mal 75 Jahre her – wie Abfall behandelt und entsorgt. Das Volk Gottes kommt nicht zur Ruhe – bis heute nicht. Es ist umzingelt von Menschen, von Völkern, die in Lauerstellung sind, es wieder zu vertreiben, wieder zu verjagen, wieder der Vernichtung preis zu geben. Heute aber: Heute ist das Volk Israel anders vorbereitet als zu vergangenen Zeiten; es hat – anders als damals -mächtige Verbündete und es hat Waffen, Atomwaffen, die ein Höchstmaß an Sicherheit gewähren sollen. Und es hat heute einen angestammten Ort; das Volk Israel hat ein Land, das ihm gehört: ein Heimatland mit Namen Israel. Wer könnte ihnen verdenken, dass sie ihr Heimatland hüten und verteidigen? Jeder Mensch, jedes Volk hat doch ein verbrieftes Recht auf Heimat.

Über das, was Heimat bedeutet, wird gerade viel geschrieben und diskutiert. Die einen verlieren ihre Heimat, die anderen verteidigen ihre Heimat. Um der Heimat willen werden Kriege geführt. Um der Heimat willen werden Grenzmauern hochgezogen. Um der Heimat willen werden Rüstungsetats aufgestockt. Um die Heimat zu schützen, werden sogar Gesinnungen aus der Erinnerung hervorgeholt, die längst überwunden schienen; völkische Gesinnungen werden wieder salonfähig. Und hier beginnt es, brandgefährlich zu werden, weil nämlich Volk und Heimat auf Gedeih und Verderb verknotet werden: Ein Volk – eine Heimat. So leiden heute das Volk der Palästinenser darunter wie ebenso das Volk der Juden, da sie doch an einem Ort dieser Erde gemeinsam leben müssen; die Kurden leiden darunter wie ebenso die Türken; Schiiten und Sunniten leiden darunter. Und auch wir leiden darunter, weil auch in unserem Land immer mehr Unfrieden herrscht ob der Frage, wer dazu gehören darf und wer nicht. Die ganze Welt darunter leidet, weil wir Heimat als etwas verstehen, was ausschließlich in einem abgeschotteten Zustand Wert besitzt. Kann ein Ort ‚Heimat‘ sein, vertrauter Lebensort, wenn er nur durch Gewalt, verbal oder sogar mit Waffen, aufrechterhalten werden kann? Und muss per Definition ein Ort immer nur einem Volk Heimat bieten?

„Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel ihre Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“, so beschrieb Jesus einmal seine Heimatlosigkeit. Nun also lag sein Haupt buchstäblich in einer Höhle; die Frauen waren auf dem Weg zu ihm. Der, der immer unterwegs war, hatte nun wenigstens im Tod seine Heimat, ewige Heimat gefunden, einen Ort der ewigen Ruhe. Und die wurde auch noch einem anderen genommen, wurde er doch in ein fremdes Grab gelegt Wenn die Frauen auch seinen Tod zu beklagen hatten, so gab es doch zumindest einen sicheren Ort, wo Trauer und Klage sich entfalten konnten. Aber wieder weit gefehlt: „Er geht euch voraus nach Galiläa“.

Es ist an der Zeit, dass wir uns vergewissern, was Heimat im Eigentlichen ist. Viele von uns sind sich gewiss, es muss eine irdische Heimat wie auch eine himmlische Heimat geben. Wir Menschen brauchen einen Ort, an dem wir verwurzelt sind, wo sich alles zusammenfügt, was wir zum Leben benötigen, wo wir ungefragt und wohlgemeint sein dürfen. Es braucht einen solchen Ort für die Zeit und auch für die Ewigkeit. Was aber ist, wenn Jesus dieses für uns Menschen scheinbar so wichtige, ja lebenswichtige Fundament in Frage stellt? „Ihr sucht Jesus von Nazareth? Er ist nicht hier“. Da, wo man ihn vermutet, wo er daheim ist im Tod, da ist er nicht. „Nun aber geht und sagt seinen Jüngern: er geht euch voraus nach Galiläa“. Dieser Dreischritt scheint eine neue Lebensdimension aufzuzeigen: Gehen – kommunizieren – suchen. Lebenssinn, ja sogar Lebensglück vollzieht sich nicht in einer Verortung, sondern vielmehr in einer neuen Bewegung und also in letzter Konsequenz auch in einer essentiellen Unruhe. Gott gönnt seinem Sohn auch nach seinem grausamen Tod keine ewige Ruhe. Der gern gewählte Trost ‚requiescat in pace‘ (Ruhe in Frieden) ist ein Trugschluss. Leben ist und bleibt immer in einem Unruhezustand und bleibt mit der Verantwortung verbunden, in Beziehung zu treten mit Neuem, Unvertrautem, Unverhofftem, Fremdem.

Wir sind das Volk Gottes, nicht ausgrenzend wir, als Christen, sondern wir, als Menschheit, und wir werden es auch in Zukunft nicht leicht haben, auch nicht leichter. Ostern, das Lebensfest, macht das Leben nicht ruhiger, gewisser, bequemer schon gar nicht. Denn wir sind gerufen, um zu gehen, uns im Austausch zu vergewissern und gemeinsam Ausschau zu halten, wo heute der Ort ist, wo wir ihm begegnen können. Unsere jüdischen Geschwister im Glauben feiern heute, da wir das Osterfest begehen, ihr jüdisches Pessachfest; sie erinnern sich an den Tag der Befreiung aus ägyptischer Gefangenschaft. Freiheit ist ein wunderbares Gottesgeschenk; jedoch ist dieses Gottesgeschenk verknüpft mit der Verantwortung, suchend wagend auf dem Weg zu bleiben. Der Weg aufeinander zu ist das Ziel: Juden und Christen, Palästinenser und Israelis, Schiiten und Sunniten, du und ich. Gott ist die Heimat, nicht ein Ort, ein Landstrich.

„In Galiläa werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat“. Diese Verheißung ist uns gewiss, aber wo unser Galiläa ist, das müssen wir schauen. Was wir auf diesem Weg gut gebrauchen können, das sind wohlmeinende Verbündete; was wir ganz gewiss nicht brauchen werden, das sind Waffen, welcher Art auch immer.

Christoph Simonsen

Ostern 2018

Markus 16,1-7

Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß. Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.

Heimat ist irgendwo anders:

Das Volk Gottes hat es schwer; es kommt nicht zur Ruhe – bis heute nicht. Es wurde und es wird bis heute entführt, besiegt, erniedrigt, ja sogar der Vernichtung sollte es ausgeliefert werden. Und fast wäre es gelungen: Sechs Millionen Juden wurden – es ist gerade mal 75 Jahre her – wie Abfall behandelt und entsorgt. Das Volk Gottes kommt nicht zur Ruhe – bis heute nicht. Es ist umzingelt von Menschen, von Völkern, die in Lauerstellung sind, es wieder zu vertreiben, wieder zu verjagen, wieder der Vernichtung preis zu geben. Heute aber: Heute ist das Volk Israel anders vorbereitet als zu vergangenen Zeiten; es hat – anders als damals -mächtige Verbündete und es hat Waffen, Atomwaffen, die ein Höchstmaß an Sicherheit gewähren sollen. Und es hat heute einen angestammten Ort; das Volk Israel hat ein Land, das ihm gehört: ein Heimatland mit Namen Israel. Wer könnte ihnen verdenken, dass sie ihr Heimatland hüten und verteidigen? Jeder Mensch, jedes Volk hat doch ein verbrieftes Recht auf Heimat.

Über das, was Heimat bedeutet, wird gerade viel geschrieben und diskutiert. Die einen verlieren ihre Heimat, die anderen verteidigen ihre Heimat. Um der Heimat willen werden Kriege geführt. Um der Heimat willen werden Grenzmauern hochgezogen. Um der Heimat willen werden Rüstungsetats aufgestockt. Um die Heimat zu schützen, werden sogar Gesinnungen aus der Erinnerung hervorgeholt, die längst überwunden schienen; völkische Gesinnungen werden wieder salonfähig. Und hier beginnt es, brandgefährlich zu werden, weil nämlich Volk und Heimat auf Gedeih und Verderb verknotet werden: Ein Volk – eine Heimat. So leiden heute das Volk der Palästinenser darunter wie ebenso das Volk der Juden, da sie doch an einem Ort dieser Erde gemeinsam leben müssen; die Kurden leiden darunter wie ebenso die Türken; Schiiten und Sunniten leiden darunter. Und auch wir leiden darunter, weil auch in unserem Land immer mehr Unfrieden herrscht ob der Frage, wer dazu gehören darf und wer nicht. Die ganze Welt darunter leidet, weil wir Heimat als etwas verstehen, was ausschließlich in einem abgeschotteten Zustand Wert besitzt. Kann ein Ort ‚Heimat‘ sein, vertrauter Lebensort, wenn er nur durch Gewalt, verbal oder sogar mit Waffen, aufrechterhalten werden kann? Und muss per Definition ein Ort immer nur einem Volk Heimat bieten?

„Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel ihre Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“, so beschrieb Jesus einmal seine Heimatlosigkeit. Nun also lag sein Haupt buchstäblich in einer Höhle; die Frauen waren auf dem Weg zu ihm. Der, der immer unterwegs war, hatte nun wenigstens im Tod seine Heimat, ewige Heimat gefunden, einen Ort der ewigen Ruhe. Und die wurde auch noch einem anderen genommen, wurde er doch in ein fremdes Grab gelegt Wenn die Frauen auch seinen Tod zu beklagen hatten, so gab es doch zumindest einen sicheren Ort, wo Trauer und Klage sich entfalten konnten. Aber wieder weit gefehlt: „Er geht euch voraus nach Galiläa“.

Es ist an der Zeit, dass wir uns vergewissern, was Heimat im Eigentlichen ist. Viele von uns sind sich gewiss, es muss eine irdische Heimat wie auch eine himmlische Heimat geben. Wir Menschen brauchen einen Ort, an dem wir verwurzelt sind, wo sich alles zusammenfügt, was wir zum Leben benötigen, wo wir ungefragt und wohlgemeint sein dürfen. Es braucht einen solchen Ort für die Zeit und auch für die Ewigkeit. Was aber ist, wenn Jesus dieses für uns Menschen scheinbar so wichtige, ja lebenswichtige Fundament in Frage stellt? „Ihr sucht Jesus von Nazareth? Er ist nicht hier“. Da, wo man ihn vermutet, wo er daheim ist im Tod, da ist er nicht. „Nun aber geht und sagt seinen Jüngern: er geht euch voraus nach Galiläa“. Dieser Dreischritt scheint eine neue Lebensdimension aufzuzeigen: Gehen – kommunizieren – suchen. Lebenssinn, ja sogar Lebensglück vollzieht sich nicht in einer Verortung, sondern vielmehr in einer neuen Bewegung und also in letzter Konsequenz auch in einer essentiellen Unruhe. Gott gönnt seinem Sohn auch nach seinem grausamen Tod keine ewige Ruhe. Der gern gewählte Trost ‚requiescat in pace‘ (Ruhe in Frieden) ist ein Trugschluss. Leben ist und bleibt immer in einem Unruhezustand und bleibt mit der Verantwortung verbunden, in Beziehung zu treten mit Neuem, Unvertrautem, Unverhofftem, Fremdem.

Wir sind das Volk Gottes, nicht ausgrenzend wir, als Christen, sondern wir, als Menschheit, und wir werden es auch in Zukunft nicht leicht haben, auch nicht leichter. Ostern, das Lebensfest, macht das Leben nicht ruhiger, gewisser, bequemer schon gar nicht. Denn wir sind gerufen, um zu gehen, uns im Austausch zu vergewissern und gemeinsam Ausschau zu halten, wo heute der Ort ist, wo wir ihm begegnen können. Unsere jüdischen Geschwister im Glauben feiern heute, da wir das Osterfest begehen, ihr jüdisches Pessachfest; sie erinnern sich an den Tag der Befreiung aus ägyptischer Gefangenschaft. Freiheit ist ein wunderbares Gottesgeschenk; jedoch ist dieses Gottesgeschenk verknüpft mit der Verantwortung, suchend wagend auf dem Weg zu bleiben. Der Weg aufeinander zu ist das Ziel: Juden und Christen, Palästinenser und Israelis, Schiiten und Sunniten, du und ich. Gott ist die Heimat, nicht ein Ort, ein Landstrich.

„In Galiläa werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat“. Diese Verheißung ist uns gewiss, aber wo unser Galiläa ist, das müssen wir schauen. Was wir auf diesem Weg gut gebrauchen können, das sind wohlmeinende Verbündete; was wir ganz gewiss nicht brauchen werden, das sind Waffen, welcher Art auch immer.

Christoph Simonsen


25. März – Palmsonntag

Lesung: Philipper 2,6-11
Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: «Jesus Christus ist der Herr» – zur Ehre Gottes, des Vaters.

Gottbezogen und selbstbestimmt
Anfangs, draußen, als wir uns mit Jesus aufgemacht haben – symbolisch – auf den Weg nach Jerusalem, da wurde uns vor Augen geführt, wie wichtig es Jesus gewesen ist, sich auf seine Weise auf die Begegnung mit seinem Vater vorzubereiten. Die äußeren Umstände liefen schon – für alle spürbar – auf diese unausweichliche Tragik seines Lebensendes zu. Und er selbst spürte wohl auch, dass er dem Kommenden nicht mehr ausweichen konnte. Dennoch wollte er das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben. Er wollte für sich entscheiden, wie er den Weg zum Schafott, zum Kreuz antreten würde. Auch sein letzter Weg sollte wirklich sein Weg sein, nicht fremdbestimmt, nur gottbezogen.
Als Mensch lebte er ganz in der Zeit und die Uhr lief ganz offensichtlich gegen ihn; als Sohn Gottes aber lebte er über die Zeit hinausschauend und er vermochte gottvertrauend und den Menschen achtend seinen Weg zu gehen. „Wahrer Mensch und wahrer Gott“, so wird er im großen Glaubensbekenntnis betitelt. Wie ist das möglich? Wie kann ein Mensch Gott sein und Gott ein Mensch? Der Philipperbrief fasst es in einem Satz zusammen: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich“. Aber auch das ist nur eine Tatsachenbehauptung, keine Antwort auf die Frage, wie das möglich sein kann: Gott und Mensch in einer Person.
Das christliche Gottesbild muss jedem, der in Gott den Herrscher des Universums sieht, ein Gräuel sein. Christinnen und Christen heute in vielen Teilen unserer Erde sind ihres Lebens nicht sicher. Sie werden der Blasphemie beschuldigt, der Gotteslästerung, da sie doch Gott so greifbar nahe ins Irdische, ins Endliche, ins Menschliche hineinziehen. Die Vorstellung, dass Gott als Mensch auf dieser Erde walten könne und wie ein Verbrecher am Kreuz ende, das ist für Außenstehende, für Andersglaubende unvorstellbar. Gott muss aus sich heraus immer der andere sein, der, der sich in seinem Sein und Wesen von allem menschlichen unterscheidet. Wer wirklich gottesfürchtig ist, dem muss ein menschlich erscheinender Gott und erst recht ein göttlich erscheinender Mensch mehr als befremdlich erscheinen. Kein Wunder, dass der christliche Glaube damals, aber auch in unserer Zeit, bekämpft wird – sogar bis aufs Blut bekämpft wird. Der christliche Glaube erregt Anstoß – und er muss Anstoß erregen. Glaubensüberzeugungen unterscheiden sich, grenzen sich voneinander ab, sind vielleicht sogar in einzelnen Fragen unvereinbar miteinander. Und dennoch: eines sind sie ganz gewiss nicht: siegesgewiss kriegerisch. So wie das Christentum in den vorderen Orient gehört, so gehört der Islam ins aufgeklärte Abendland. Jeder Glaube, gleich welcher Tradition, muss sich darin bewähren, ob er von Ehrfurcht und Achtung durchzogen ist oder eben nicht. Ein Glaube, der nicht den Fremden, das Fremde achtet, ist ein trügerischer Glaube. Was alle Glaubensüberzeugungen verbindet ist die Gewissheit, dass Gott immer der andere ist, der Unverfügbare und dass der Mensch immer das Geschöpf ist, der von Gott Geschaffene. Was Gott geschaffen hat, darf der Mensch nicht in Frage stellen. Diese Glaubenseinsicht zeigt sich im Christentum ebenso wie im Judentum wie im Islam. Gott offenbart sich und er bleibt zugleich immer das Lebensgeheimnis. Gott ist Vertrauter und Fremder. So ist es gut, dass uns allen dieser Gott eine Frage bleibt. Als Christ bin ich es allen schuldig, die Gott auf andere Weise suchen, zu erläutern, warum ich einem solch verrücktem Gott die Ehre gebe, warum ich einem solchen Mensch gewordenen Gott mein Leben anvertraue. Gott aber bin ich es schuldig, dass ich den anderen anhöre, ihn achte und in ihm Gottes Ebenbild sehe und mich von seinem Glauben anrühren lasse, denn Gott ist immer eben immer auch der andere, der Fremde. Wo besser sollte ich ihn erfahren können als in dem, was mir fremd ist.
In dieser Heiligen Woche werden wir diesem Gott in aller Konkretheit begegnen. Sein Leben, seine Liebe, seine Grenzenlosigkeit wird mir immer eine Frage sein. Aber nur mit dieser Frage in meinem Leben werde ich meinem Leben einen Sinn abringen können.

Christoph Simonsen

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18. März – 5. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr B – 2018

Evangelium: Johannes 12, 20-33

Auch einige Griechen waren anwesend – sie gehörten zu den Pilgern, die beim Fest Gott anbeten wollten. Sie traten an Philippus heran, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und sagten zu ihm: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus. Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren. Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen. Die Menge, die dabeistand und das hörte, sagte: Es hat gedonnert. Andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet. Jesus antwortete und sagte: Nicht mir galt diese Stimme, sondern euch. Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen. Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben werde.

Verschenktes Leben

Habt ihr schon mal versucht, eine Privataudienz beim Papst zu bekommen? Es gibt Menschen, die reißen sich um solcher Art Begegnung und versprechen sich eine entsprechende Aufmerksamkeit in den Medien, um im Gespräch zu bleiben in der Öffentlichkeit. Es gibt aber Gott sei Dank auch eine andere Kategorie Mensch, und denen geht es wirklich um einen reflektierten Austausch und sie erhoffen sich einen guten Rat von einer Autorität, die frei und unabhängig auf das Leben schaut mit guten Augen und einem weiten Herzen. Bei Papst Franziskus, das zeigt die Erfahrung nach 5 Jahren seines Pontifikats, da ist manches möglich, was man nicht erwarten würde, aber dass ihr oder ich von ihm empfangen werden würden: wohl eher unwahrscheinlich.
Diese nicht näher beschriebenen Griechen im heutigen Evangelium haben auch um eine Audienz gebeten: Bei Jesus selbst; ob es bekannte Persönlichkeiten waren oder Menschen wie ihr und ich, das bleibt im Verborgenen. Auch ihre Absichten werden nicht näher beschrieben. Sie bleiben auf sich gestellt, auch ihnen wird keine Audienz gewährt, und da halfen nicht mal gute Beziehungen zu Freunden von Jesus, Andreas und Philippus nämlich. Dabei sagt man doch, dass Vitamin B in allen Lebenslagen hilft.

Ich bin bei diesem „aber“ hängen geblieben: „Jesus aber antwortete ihnen“. Worauf sollte er antworten, er ist doch gar nichts gefragt worden, zumindest nichts Inhaltliches. Wenn denn eine Frage im Raum stand, dann höchstens die, ob er denn Zeit habe für die griechischen Bekannten. Und darauf hätte Jesus einfach nur mit ja oder nein antworten können. Er redet aber viel ausführlicher und gänzlich losgelöst von dem, was vorher passiert ist. Und er redet nicht ausschweifend, weit ausholend, sondern kurz und knapp. Ein kleines Bild, das sich alle gut vorstellen und nachvollziehen können – das Bild vom Samenkorn – genügt, um seine Botschaft umfassend – und ebenso kurz und knapp – zu verbreiten: Wie das Weizenkorn muss auch der Mensch bereit sein, von sich selbst lassen zu können, sich selbst loslassen zu können, damit Neues gedeihen, wachsen, werden kann. Zukunft, ja: Ewigkeit wird Wirklichkeit, wenn wir Menschen von uns geben, uns weggeben, uns verschenken. Nicht die biologische Weitergabe von Leben versinnbildlicht die Größe des Menschen und seine Liebesfähigkeit, sondern die geistige Weitergabe seiner und ihrer selbst. Sich selbst – leidenschaftlich – in die Welt hineinbegeben und den anderen, der Schöpfung dienlich sein, das bringt einen ewig reichen Ertrag. Um es sehr plastisch zu sagen: Gott misst die Liebesfähigkeit eines Menschen nicht an der Frage, wieviel Kinder er gezeugt oder geboren hat, sondern wie viel er von seinen Lebensbegabungen und seiner Liebenswürdigkeit in die Welt hineingetragen  hat.
Altmodisch mag man das „dienen“ nennen. Papst Franziskus hat dieses altmodische Wort in die moderne Welt übersetzt. Er dient tatsächlich in einer unaufdringlichen und einfachen Weise und er dient gerade dort, wo die wenigsten hingehen; letzte Woche wieder in die Suppenküche auf Trastevere, wo er die Gemeinschaft San Egidio besuchte.. Nicht alle mögen seinen Dienst verstehen, weil sie große Worte und Taten von ihm erwarten. In meinen Augen sind sie groß und verändern mein Denken und Handeln mehr als manch andere kluge theologische oder soziale wissenschaftliche Abhandlung. Ich bin diesem Papst dankbar für seinen Dienst in den letzten 5 Jahren. Und für mich braucht es gar keine Privataudienz, mir genügt, dass er mich mit seinen einfachen, unscheinbaren Gesten und Worten anrührt und auch ermahnt, mich selbst zu hinterfragen, ob und wie ich mein Leben verschenke.

Christoph Simonsen

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11. März  – 4. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr B – 2018

Evangelium: Johannes 3,14-21
Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. Denn mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Keine Angst vor der Dunkelheit
Die Tage werden wieder länger und die ersten Frühlingsgefühle konnten aufkommen: Die Sonne zeigte sich und wer draußen war, der konnte ein wenig ihre Wärme spüren. Schneeglöckchen und Krokusse springen auf. Ich bin mir sicher, nicht nur ich freue mich auf den Frühling. Nach den dunklen Wintertagen wieder eine Ahnung von Wärme und Licht zu bekommen, das ist einfach ein tolles Gefühl. Ich hab sogar schon die ersten mutigen Studis gesehen mit kurzen Hosen. Also Frühling, mach mal hinne und lass dich nicht mehr so lange bitten. Komm einfach. Wir vermissen dich alle.

Aber Licht und Wärme sind und bleiben nur die eine Seite des Lebens; Schatten und Dunkelheit lassen sich nicht so einfach ausblenden. Und das ist auch gut so. Besser schlafen tut man, wenn’s dunkel ist; und vorrangig die Dunkelheit bietet den Tieren Schutz, wenn sie verfolgt werden. Das Licht mag beliebter sein als die Dunkelheit, die Wärme behaglicher als die Kälte, und doch hat auch die Dunkelheit ihren Sinn und ihre Bedeutung.
Das nicht nur im wörtlichen, sondern auch in einem übertragenen Sinn. So bin ich zum Beispiel ganz froh, dass so manches in meinem Leben in der Dunkelheit verloren gegangen ist: Manches Traurige, auch manches Unvollkommene. Wenn wir auch die Sonnenseiten unseres Lebens lieber zeigen, so gehören die dunklen Seiten genauso dazu, wenn wir denn ehrlich sind. Es mag feige sein, unredlich vielleicht sogar, unmenschlich im schlimmsten Fall, und doch bin ich froh, dass ich manche Wirklichkeit meines Lebens ins Dunkle verbannen kann, so dass es die anderen nicht sehen. Sicher, das ist kein schöner menschlicher Schachzug; andererseits ist es eben doch menschlich, wenn ich vor den anderen gut dastehen möchte, denn die Angst vor Ablehnung und Isolierung ist groß. Die Welt war doch schon immer so: Wer Fehlerhaftes in seinem Leben zugibt, es sogar ungeschützt offenlegt, der hat in der Welt der Perfektion nichts zu suchen und kippt ganz schnell hinten runter.
Und so beginnen wir – leise und schleichend – abzuspalten und zu trennen, was doch eigentlich zusammengehört. Es entsteht die Welt des Lichts und die Welt der Dunkelheit. Und wir springen in unserem Inneren wie auch in unserem Verhalten mehr oder weniger gekonnt zwischen diesen Welten hin und her und verdrängen, wie gespalten unser Leben doch oft ist. Wir machen vergessen, dass dort, wo im Frühling die Sonne scheint, nicht nur das Schneeglöckchen wieder beginnt zu blühen, sondern auch das Moos und das Unkraut, das wir dann mit aller Mühe auszureißen versuchen im Wissen, dass es doch immer wieder kommt. Gott aber lässt die Sonne scheinen über Gutes und Böses. Und wir sind angehalten, alles wachsen und sogar reifen zu lassen bis zur Ernte.
Das Leben ist ein Ganzes und wird nicht dadurch wertvoller, dass wir es aufteilen in zwei Hälften: in eine vorzeigbare und in eine, die wir verstecken. Wir Menschen brauchen nicht zu retten und wir brauchen auch nicht zu richten. Wir bräuchten uns nur daran erinnern, dass Gott allein es ist, der das Leben – also auch das Unsrige – zu retten vermag, dann könnten wir aufhören uns zu Richtern zu erheben und über uns selbst oder über andere Gericht zu halten. Wenn dies allen klarer wäre, bräuchten wir uns auch vor unseren Fehlern und Schwächen nicht zu ängstigen und die Schwachstellen der anderen missbrauchen.
Wir könnten uns dieses Geschenk bewusster machen, und aufgrund dessen beginnen – wie es im heutigen Evangelium heißt – die Wahrheit zu tun. Und die Wahrheit ist, dass wir Menschen sind, unvollkommene, beschränkte Menschen. Nicht so tun, als sei alles nur licht und hell in unserem Leben und auch mutig ehrlich die Schattenseiten unseres Lebens verantworten, das ist wahrhaftig. Und es wäre möglich, denn niemand muss sich behaupten vor den anderen. Das Leben müsste nicht glatt gebügelt werden, wir könnten aufhören uns als Schöpfer eines utopischen, heilen Lebens zu gebären und wir dürften beginnen, uns in und mit unsrer Begrenztheit ins Licht Gottes zu stellen.

Unser Leben, und eben das Leben als Ganzes vollzieht sich im Licht und in der Dunkelheit. Je ehrlicher wir diese Wirklichkeit zulassen, je mehr wir uns eingestehen, Geschöpfe und nicht Schöpfer zu sein, umso mehr werden wir erfahren dürfen, in der Gnade Gottes zu stehen.
Also: Die Sache mit dem Licht und mit der Dunkelheit ist etwas komplexer, als wir vielleicht zuvor dachten. Wir könnten und dürften ehrlicher zugeben, dass beides zu unserem Leben dazu gehört. So schön der Frühling ist, auch der Winter hat seine schönen Seiten.

Christoph Simonsen

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25. Februar  – 2. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr B – 2018

Lesung: Genesis 22,1-2.9-13.15-18
Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er antwortete: Hier bin ich.
2Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar. Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Schon streckte Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief ihm der Engel des Herrn vom Himmel her zu: Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Jener sprach: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten. Als Abraham aufschaute, sah er: Ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar. Der Engel des Herrn rief Abraham zum zweiten Mal vom Himmel her zu und sprach: Ich habe bei mir geschworen – Spruch des Herrn: Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand. Deine Nachkommen sollen das Tor ihrer Feinde einnehmen. Segnen sollen sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil du auf meine Stimme gehört hast.

Gott-Vertrauen
Ich verstehe beide nicht: Gott nicht, der ein solch unmenschliches und unwürdiges Opfer von Abraham fordert und auch Abraham nicht, der die Liebe zu seinem Sohn aufgrund eines Kadavergehorsams in solch brutaler Weise zu verraten bereit ist. Ich verstehe Gott nicht und ich verstehe Abraham nicht. Beides muss ich ertragen. Wir müssen wohl alle zur Kenntnis nehmen, dass wir an Gott aber auch an Menschen manchmal irrewerden. Gott nicht zu verstehen, dafür müssen wir Menschen uns nicht schämen, denn Gott ist so groß und so anders, dass wir wohl nur staunend, fragend, zuweilen auch verstörend auf ihn schauen können; aber dass ein Vater seinen Sohn zu opfern bereit ist, um eines Gottes willen, der unmenschliches fordert, das wirft mich aus der Bahn. Das kann so nicht stehen bleiben. Nichts ist schutzbedürftiger, als die Liebe eines Vaters zu seinem Kind. Nichts ist verwerflicher, als Schutzempfohlene zu opfern, um welchen Preis auch immer, selbst wenn es das Geschenk der Ewigkeit wäre.

Die heutige Lesung, diese Begegnung zwischen Gott und Abraham, wie ist sie in Einklang zu bringen mit den Gedanken des vergangenen Sonntags? Wir haben gehört, dass Gott seinen Bogen in den Himmel gestellt hat, um alles Leben zu schützen, was unter dem Himmel lebt. Und heute? Ein machthungriger Gott, der seine Gelüste an Unschuldigen auslässt und ein unterwürfiger Vater, der keinen Mut hat, sein eigenes Kind zu beschützen. Die Bibel ist und bleibt ein Buch mit sieben Siegeln. Und ja: sie bleibt ein Buch, an denen wir uns die Zähne ausbeißen. Abraham verdient sich den Segen Gottes, weil er bereit war, sein eigenes Kind zu opfern. Wenn es dieser Bereitschaft bedarf, um die Wohlgefälligkeit Gottes für mich zu gewinnen, dann frage ich mich persönlich sehr ernsthaft, ob ich mich diesem Gott überhaupt anvertrauen möchte. Das soll der Gott Jesu sein, der Gott also, der den Himmel – wie wir heute ja auch hören – weit öffnet und sich tief herabbeugt bis in die Niederungen dieser Welt hinein?

Wie fern kann mir dieser Gott doch sein – und wie nahe auch! Wie verbohrt erlebe ich Gott – und wie vertraut auch zu anderen Zeiten! Die Bereitschaft Abrahams, seinen eigenen Sohn zu opfern, um Gott zu gefallen, werde ich nie verstehen und auch nie gutheißen können. Aber was mich zutiefst beeindruckt, was mich kleinlaut werden lässt, wenn ich hier vor euch stehe heute Abend, das ist dieses grenzenlose Vertrauen Abrahams in eben diesen Gott, dass er ihm zutraut zu wissen, was er tut und was er verlangt. Wir Menschen sagen ja manchmal etwas flapsig: „In Gottes Namen…“, wenn wir zu etwas ja sagen, obwohl wir nicht wirklich davon überzeugt sind. In Gottes Namen tut Abraham etwas, was er von sich aus – davon bin ich überzeugt – nie tun würde. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was Abraham gedacht, empfunden hat, als Gott ihm diese Forderung zugesprochen hat. Ich kann’s mir wirklich nicht vorstellen. Und genau so fremd ist mir die Intention Gottes, warum er so unmenschliches von Abraham verlangt hat. Aber was mir klar ist: Beide – Gott und Abraham – müssen in einer äußerst ungewöhnlichen Beziehung zueinander gestanden haben. Wer so miteinander umgeht, der ist entweder verrückt und krank, oder er hat ein unbändiges Vertrauen zum anderen. Kann Vertrauen Liebe relativieren, die Liebe zum Kind? Abraham hat diese Frage wohl für sich bejaht. Was ihm, wer ihm diese Kraft gegeben hat, weiß der Himmel. Für mich stellt sich die Frage, wie viel Vertrauen ich Gott gegenüber hege. Das ist wohl die drängendste und herausforderndste Frage überhaupt. Es ist die Frage, der wir uns jetzt in dieser Fastenzeit stellen könnten. Ich weiß, dass dies keine einfache Frage ist; Abraham ist der beste Beweis dafür. Aber wer Gott einmal in sein Leben hineingelassen hat, der kann im Letzten dieser Frage nicht mehr ausweichen.

Christoph Simonsen
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18. Februar 2018 – 1. Fastensonntag im Lesejahr B – 2018

Lesung: Genesis 9,8-15
Dann sprach Gott zu Noach und seinen Söhnen, die bei ihm waren: Hiermit schließe ich meinen Bund mit euch und mit euren Nachkommen und mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind. Ich habe meinen Bund mit euch geschlossen: Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben. Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich stifte zwischen mir und euch und den lebendigen Wesen bei euch für alle kommenden Generationen: Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. Balle ich Wolken über der Erde zusammen und erscheint der Bogen in den Wolken, dann gedenke ich des Bundes, der besteht zwischen mir und euch und allen Lebewesen, allen Wesen aus Fleisch, und das Wasser wird nie wieder zur Flut werden, die alle Wesen aus Fleisch vernichtet.

Kleine Zeichen bewahren das Menschsein
„Nie wieder!“ Deshalb haben Menschen in Dresden an einem Abend in der vergangenen Woche ihre Innenstadt hell beleuchtet. Es ist gut, es ist wichtig, Zeichen zu setzen; so wie Gott ein Zeichen des Bundes in den Himmel setzte. Am Montagabend setzten die Menschen in Dresden ein Zeichen. Nie wieder! Nie wieder Krieg und Zerstörung. Sie erinnerten an die Bombennächte des 13./14. und 15. Februar 1945. Die Stadt wurde in diesen Tagen dem Erdboden gleich gemacht. Tausende starben. Nie wieder! Das warme Licht der Kerzen sollte der Gewalt, dem Hass, dem Unrecht, dem Tod die Stirn bieten. „Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch und Blut vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben“. Nie wieder sollen Fliegerbomben eine Stadt in Schutt und Asche legen; nie wieder sollen Häuser und Wohnungen zerstört werden und das Leben der Menschen, der Tiere und Pflanzen ausgerottet. Nie wieder!
Gott geht auf die Menschen zu, macht ein unwiderrufliches Versprechen. Für alle Generationen soll es gelten: Nie wieder soll vernichtet werden, was aus Fleisch und Blut ist.

Ja, wir müssen Zeichen setzen; viel mehr Zeichen müssen wir setzen, um zu zeigen, wie wert uns unsere Schöpfung ist; um zu zeigen, wie notwendig es ist, aufeinander zuzugehen; um jeder und jedem klar zu machen, so wie bisher, kann es nicht weitergehen. Wir müssen Zeichen setzen, so wie Gott immer wieder Zeichen gesetzt hat, dass er sich seiner Verantwortung für das Leben bewusst ist. Kleine Zeichen sind ein Anfang. Kleine Zeichen können großes bewirken. So wie die Kerzen, die den Nachthimmel von Dresden erleuchtet haben vergangenen Montag. Ein Regenbogen macht die Welt nicht zum Paradies, aber alle, ob groß oder klein, erinnern sich an ihre vielleicht vergessene, verlorengegangene, vergrabene Fähigkeit zu staunen darüber, dass so eine wunderbare Farbenpracht den Himmel und das Herz zu verzaubern vermögen. Ich kenne keinen Menschen, der sich nicht freut, wenn er einen Regenbogen am Himmel entdeckt. Und – wenn auch nur für einen Augenblick – ist alles Dunkle vergessen. Und es wird grenzenlos klar, das Dunkle kann überwunden werden.

Welche Zeichen möchten wir setzen? Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Zeichen, die sichtbar machen, dass uns am Leben liegt, und zwar nicht nur am eigenen, sondern am Leben der anderen nicht minder. Sich gesünder ernähren, hilft nicht nur der eigenen Figur, sondern auch der Schöpfung, die unüberhörbar weint, weil wir sie so ausbeuten. Zeichen setzen, bewusster leben; der Schöpfung Gutes tun, und darüber reden. So wie Gott auch darüber geredet hat. Er hat nicht nur den Bogen in den Himmel gesetzt, er hat den Menschen auch erklärt, warum er eben dieses Zeichen setzen wollte; er hat sich den Menschen erklärt. Nur wenn bewusst ist, was wir tun, warum wir es tun, welches Ziel wir damit verfolgen, kann es auch zu einer Kettenreaktion kommen, einer Kettenreaktion hin zu einem bewussteren und verantwortlicheren Leben. Zeichen setzen und darüber reden, wie wertvoll Lebensmittel sind, weil es nämlich Mittel zum Leben sind; Zeichen setzen und darüber reden, warum wir das gelbe Schild ans Fahrrad oder ans Auto geklebt haben mit der Aufschrift „Tihange abschalten“, weil wir nämlich verantwortlich mit den Energieressourcen umgehen wollen; Zeichen setzen und darüber reden, dass wir uns in den Kirchen oder in Verbänden und Vereinen engagieren, nicht als Freizeitbeschäftigung und Wohlfühlmoment, sondern weil uns an einem friedvollen Zusammenleben der Menschen liegt.

Zeichen setzen ist leichter gesagt als getan. Wir trauen den kleinen, symbolischen Zeichen nicht wirklich was zu. Wir verniedlichen sie damit, dass wir behaupten, sie seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wenn schon Veränderung, dann auch richtig, so denken nicht wenige einflussreiche Persönlichkeiten. Wenn Veränderung, dann auch richtig, ohne Wenn und Aber. Die einen zeigen auf den berühmten roten Knopf, andere nehmen große Worte in den Mund, sprechen von notwendigen konservativen Revolutionen und verschweigen, dass Revolutionen nur in ganz wenigen Fällen unblutig verlaufen und immer welche auf der Strecke bleiben. Wirkliche, menschliche, friedliche Erneuerung beginnt aber zumeist im Kleinen, im Zeichenhaften. So wie der Regenbogen, der eigentlich nicht mehr ist als ein vorhersehbares Naturereignis, aber in der Deutung Gottes zu einem verbindenden Symbol für ein ganzes Volk wurde. Wer immer also heute mit einem Stoffbeutel einkaufen geht zum Beispiel, der mag ein natürlicher Konsument sein, aber er kann auch jemand sein, der sehr bewusst auf Plastikbeutel verzichten will. Wer in der Woche kein Fleisch einkauft, der mag jemand sein, der sich preisgünstiger zu ernähren bemüht, aber es kann auch jemand sein, der sichtbar auf die Massentierhaltung verweist und diese kritisiert. Wenn es dann anderen auffällt, dann kann sich ein Gespräch entwickeln und es beginnt dann gewiss keine Revolution, aber eine unscheinbare Einzelaktion entwickelt sich womöglich in einen unaufhaltsamen Schneeball.

Nie wieder! Nie wieder eine Welt, in der ein System die Menschen gefangen nimmt, kein Wirtschaftssystem, kein politisches System, kein religiöses System. Die kleinen Zeichen der Menschlichkeit, die scheinbar unbedeutenden Signale der grenzüberwindenden Verbundenheit, die unauffälligen Verweise auf die Wunder der Schöpfung, die sind es, die der Welt eine Ordnung zu geben vermögen und die Nähe des Reiches Gottes spürbar werden lassen.

Christoph Simonsen
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11. Februar 2018

  1. Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Markus 1,40-45

Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein Im gleichen Augenblick verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Jesus schickte ihn weg und schärfte ihm ein: Nimm dich in Acht! Erzähl niemand etwas davon, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring das Reinigungsopfer dar, das Mose angeordnet hat. Das soll für sie ein Beweis (meiner Gesetzestreue) sein. Der Mann aber ging weg und erzählte bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die ganze Geschichte, sodass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch außerhalb der Städte an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm.

Kaputte Jeans und feiner Zwirn

Gar nicht so einfach, ein paar passende Jeans zu finden. Also, nicht dass es keine Auswahl gegeben hätte in dem Geschäft, in dem ich war. Die Wandregale waren voll mit Jeans. Und es lag auch nicht nur an meiner ungewöhnlichen Größe. Ich fischte wahllos ein paar aus dem Regal. Mist, die waren alle kaputt. Löcher am Oberschenkel, am Knie, eingerissen an der Wade. Klar, ich brauch ja nur durch die Stadt zu laufen, selbst jetzt, wo es so knacke kalt ist; wer was auf sich hält, läuft mit zerrissenen Jeans rum. Aber ich glaub, dafür bin ich zu alt, und vielleicht auch zu normal. Außerdem wäre mir Frostbeule das viel zu kalt. Aber irgendwie verrückt ist es schon: Da geben Leute viel Geld aus und kaufen sich eine kaputte Jeans. Das ist „in“ heute, so in, dass man fast schon auffällt, wenn man eine Jeans trägt, die keine Löcher aufweist. Tragen die Menschen kaputte Jeans, weil das modern ist, weil „man“ das so trägt heute? Und wenn morgen wieder die Hosen mit dem weiten Schlag modern wären, wie lange würde es dauern, bis alle dann wieder mit diesen weiten Beinkleidern rumlaufen würden? Ursprünglich war das, glaub ich zumindest, mal anders gedacht. Nicht um besonders zeitgemäß aufzutreten trug man anfänglich die löchrigen Jeans, sondern um sich abzusetzen von dem allzu biederen feinen Zwirn der anderen. Der Ästhetik des Schönen setzte man die Ästhetik des Zerrissenen, Kaputten, Verschlissenen entgegen. So solidarisierte man sich mit den Vergessenen und Abgesonderten in einer auf Prestige angelegten Gesellschaft.

Aber wie man sieht, ändern sich die Intentionen schneller als man gucken kann. Was gestern Ausdruck von Protest war ist heute zeitgemäße Moderne. Vielleicht zähle ich heute sogar schon wieder zu den Unangepassten, weil ich Wert darauf lege, eine Jeans ohne Löcher zu tragen.

„Der Aussätzige, der von diesem Übel betroffen ist, soll eingerissene Kleider tragen“, so war die Vorschrift bis in die Zeiten Jesu hinein; wir hörten es eben in der Lesung. Kleider machen nicht nur Leute; Kleidung verbinden und trennen auch Menschen voneinander. Als ich letztens auf dem Campus Melaten auf einer Richtfestfeier war, da ist mir eines aufgefallen: Alle, also, fast alle alle hatten einen gediegenen Anzug an, eine leicht farbige Krawatte, zumeist etwas rötlich und braune Lederschuhe. Mein Nachbar bei der Feier stupste mich an und flüsterte mir zu: „Guck mal, die waren alle beim gleichen Herrenschneider“. Das ist das gleiche wie mit den zerrissenen Jeans, nur edler halt. Ich hatte Jeans an und eine Strickjacke. Und ich fiel auf. Peinlich! Oder?

Wie fühlen wir uns, wenn wir äußerlich so aussehen, dass wir überall auffallen? Wenn die zerrissenen Jeans ebenso wie der feine Anzug absolut aus dem Rahmen fallen; wenn alle mit dem Finger auf uns zeigen: ‚Guck mal, wie sieht der denn aus‘. Eine Studierende, die sich um eine neue Stelle bewirbt, muss doch Angst darum haben, beim Bewerbungsgespräch gleich ausgesondert zu werden, wenn sie da mit einer zerrissenen Jeans beim Personalchef aufläuft. Und der Freund, der auf der Fete mit Smoking und Fliege antanzt, wird unweigerlich krumm angeschaut?

Nun ist uns allen sicher auch klar: Alles verhaften bei Äußerlichkeiten wird dem Ernst dieser heutigen Texte nicht gerecht. Es geht nicht um das Äußere, es geht darum, dass Menschen wegen einer sehr ernsten Erkrankung ausgesondert werden, weggesperrt werden. Die Gesunden haben Angst vor den Kranken. Man kann vielleicht sogar noch Verständnis dafür aufbringen angesichts der damaligen unsicheren Kenntnisse über diese bedrohliche Erkrankung. Aber das macht es nicht menschlicher für die, die ausgesondert wurden damals.

Deshalb vielleicht für uns heute eine erste Konsequenz aus dem Gehörten: Jede und jeder mag sich anziehen wie sie und er es mögen; alle dürfen sich wohlfühlen in ihrer Kleidung. Und doch: Wir sollten uns vielleicht dessen erinnern, dass Menschen in zerrissener Kleidung andernorts und in anderen Lebensumständen sich dessen schämen, wie sie herumlaufen. Und wir sollten, wenn wir im feinen Anzug irgendwo hingehen, nicht automatisch davon ausgehen, dass wir was Besseres sind als die anderen. Kleidung ist eben mehr als eine Modeerscheinung. Im Ernstfall kann sie auch über das Schicksal eines Menschen entscheiden.

Und noch ein Zweites: Jesus sagt zu dem Geheilten, er solle sich den Priestern zeigen, denen also, die ihn zuvor ausgesondert und gebrandmarkt haben. Er soll sich denen, die aus einer vorgegebenen Autorität handeln und entscheiden, so zeigen wie er ist. Das ist Ausdruck eines gesunden und gereiften Lebens, sich unentstellt zu zeigen, wie man ist. Dann auch selbstbewusst und ungeschönt. Wie immer wir einander zeigen, wenn wir nicht mehr uns selbst zeigen, sondern nur unsere Fassade, dann sind wir krank.

Christoph Simonsen


4. Februar 2018

5.Sonntag im Jahreskreis B – 2018

Evangelium: Markus 1,29-39

Sie verließen die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes gleich in das Haus des Simon und Andreas. Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen mit Jesus über sie, und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie. Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt, und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und er verbot den Dämonen zu reden; denn sie wussten, wer er war.In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in den Synagogen und trieb die Dämonen aus.

Von Schwiegermüttern und ihren Schwiegersöhnen

Mir geht ein Gespräch nicht aus dem Kopf, das ich letztens nach dem Gottesdienst hier in der Citykirche mit einer Besucherin geführt habe. Es ist vierzehn Tage her. Vielleicht erinnert ihr euch noch an die Berufungsgeschichte der ersten Jünger am See von Genezareth. Sie gingen ihrer Arbeit nach und hatten wohl – wie sie es gewohnt waren – ihren Feierabend bei ihren Familien im Sinn als Jesus sie ansprach. Und dann hieß es an der Stelle wörtlich: „Sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach“. Dieser Satz erregte Anstoß bei der Besucherin und sie fragte verständlicherweise, warum ich darauf nicht näher eingegangen sei. Ihm – Jesus – nachfolgen bedinge doch unweigerlich etwas anderes, nämlich andere Menschen alleine zurückzulassen, womöglich Partnerin und Kinder. Ist das Christentum so brutal radikal, dass jemand eine übernommene Verantwortung für die Familie mir nichts dir nichts für vernachlässigend hält und unversorgte Menschen ihrem Schicksal überlässt, um dann sozusagen befreit von bisherigen Aufgaben, seinen eigenen Idealen nachzugehen? Wer könnte das gut heißen: Frau und Kinder im Stich zu lassen, um egoistischer Weise eigenen Idealen nachzukommen. An solch einer Entscheidung scheiden sich die Geister. Die einen sagen: ‚Das ist aber mutig, dessen Glaube muss schon sehr groß sein‘. Aber es gibt wohl auch andere, und dazu gehört wohl die eben erwähnte Dame, die sagen: ‚So einfach abzuhauen ist nicht nur unverantwortlich, es ist unmenschlich und auch unchristlich‘. Sollte nicht jede und jeder dort ihre und seine Berufung leben, wo die Lebensgeschichte sie hingestellt hat? Radikaler Glaube kann auch Ausdruck einer Flucht sein vor der Verantwortung und radikaler Glaube kann auch krank machen.

Vielleicht hören wir heute eben genau von den ungeahnten Konsequenzen dieser Seite einer falsch geleiteten gläubigen Radikalität. Es mag nur eine Spekulation sein, ein Kopfkino; aber selbst, wenn es so wäre; es könnte wahr sein und es könnte noch einmal neu die Frage aufwerfen, was ein Glaube einem Menschen abverlangen darf.

Die Schwiegermutter des Petrus ist krank; Fieberschübe plagen sie. Jeder gute Mediziner weiß, dass äußere Krankheitsbilder nicht selten Ausdruck innerer Zerrissenheit sind. Was wohl die Mutter des Petrus so krank macht? Wie gesagt, jede Beantwortung bleibt im Bereich des Spekulativen. Aber eines liegt doch nahe: Sie sorgt sich um ihre Tochter, und sie hat Angst, im Alter unbegleitet zu sein. Ihr Schwiegersohn, Simon, hat für sein Leben eine neue Mitte gefunden, die Familie droht daraufhin zu zerbrechen. Und wir Heutigen müssen bedenken, dass Familie zur Zeit Jesu nicht nur zwei Generationen umfasste, sondern sehr oft drei, manchmal sogar 4 Generationen. Wo bleibt da ihre Tochter, wo bleibt sie, die Schwiegermutter, im Alter? Wer würde sich diese Fragen nicht stellen! Tiefe Sorge kann eben auch krank machen.

In diese schwierige Situation wird ausgerechnet Jesus hineingezogen. Der, der womöglich der Verursacher dieser schwierigen Situation ist, wird zurate gezogen. Und er entzieht sich nicht. Er spricht mit ihnen über die Schwiegermutter und damit wohl auch über die neu entstandene Lebenssituation in der Familie. Dann geht er zur Schwiegermutter und berührt sie. „Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie“, heißt es dann weiter. Eine kurze wortlose Begegnung, die eine unerwartete Heilung nach sich zieht und die neu Kraft schenkt. In diesem Augenblick berühren sich Empathie und Radikalität. Die einfühlsame Art Jesu, wie er der alten Dame begegnet, vermag die Angst der Schwiegermutter vor einer ungewissen Zukunft zu verbannen. Und sie, die Angst hatte, dass ihre Familie unversorgt bleibt, sorgt nun, neu gestärkt, für alle – auch für Jesus.

Jede und jeder kann ihre und seine Lebensform finden, wenn ihm jemand zur Seite steht und wirklich ernst nimmt, was an Ängsten und Sorgen, aber auch an Sehnsucht und Hoffnung tief im Innern des Menschen schlummert. Es mag zu einem Rollentausch kommen, es mag Verschiebungen von Verantwortlichkeiten geben, aber es bleibt keiner alleine, ungeachtet, unversorgt, ungetröstet. Eine Radikalität, die lieblos daherkommt, ausgrenzend, fanatisch, ja sogar vernichtend, eine Radikalität, die trennt, kann nicht die Radikalität sein, die in Jesu Nachfolge führt. Eine bewusste und gelebte Religiosität birgt immer ungeahnte Konsequenzen in sich, aber gewiss keine, die krank machen dürfen.

Christoph Simonsen


27. Januar 2018

Evangelium: Markus 1,21-28

Sie kamen nach Kafarnaum. Am folgenden Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Und die Menschen waren sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten. In ihrer Synagoge saß ein Mann, der von einem unreinen Geist besessen war. Der begann zu schreien: Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes. Da befahl ihm Jesus: Schweig und verlass ihn! Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. Da erschraken alle und einer fragte den andern: Was hat das zu bedeuten? Hier wird mit Vollmacht eine ganz neue Lehre verkündet. Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl. Und sein Ruf verbreitete sich rasch im ganzen Gebiet von Galiläa.

Von meiner Besessenheit

Ich bin besessen. Ich bin besessen von der Überzeugung, ich könnte die Welt und das Leben verstehen. Ich bin besessen von dem Wahn, was ich bis heute noch nicht verstanden habe, spätestens morgen verstehen zu können. In mir lebt ein Fremder mit Namen ‚Perfektionismus‘, der mir einflüstert, das Vollkommene sei machbar, die letzte Frage sei zu beantworten und das tiefste Geheimnis würde sich auflösen können. Ich bin besessen von der Macht des Objektiven.

Ich bin nicht ich; ich bin der Fremde in mir. Ist da bitte irgendjemand, der mich zur Rebellion drängt, der mir behilflich ist, der Macht des Faktischen zu widersprechen und der mich der sein lässt, der ich bin. Ich will wirklich mehr sein als eine  fremdbestimmte Variable, die nur so lange interessant ist, bis der letzte Beweis gefunden ist dafür, dass die Welt ein Zufallsprodukt und der Mensch eine Hybris seiner selbst ist. Ist da jemand, der mein Herz versteht, und der mit mir bis ans Ende geht? Wenn ich selber nicht mehr an mich glaub, ist da jemand?

Ich kann das gut überspielen, aber tief im Innern macht es mich krank: Ich bin tatsächlich nicht „ich“, auch wenn ich mich nach außen hin so zeige und bewege, als sei ich „ich“. Vielmehr bin ich „er“; Was von mir sichtbar ist, ist Schein. Was ich als „ich“ darstelle, sind eigentlich die Gedanken anderer: die Einflüsterer und Zuflüsterer, die es schaffen, sich immer wieder  in mich hinein zu bohren; die mich zur Hülle machen, damit sie unantastbar und unangreifbar werden und damit das unantastbar wird und unangreifbar bleibt, was sie in mich hineingestopft haben; sie haben mich zum Filter verformt, damit nicht verunsichert wird, was  von ihnen durch mich so zielorientiert und selbstbewusst in die Welt hinausposaunt werden soll.

Ich bin schon längst nicht  mehr ich, sondern „er“? Oder bin ich sogar schon „es“? Ich bin nur noch das, was in mich eingeflossen ist und was andere mir eingeflößt haben. Ich bin eigentlich gar nicht mehr Persönlichkeit, sondern nur noch Wissen? Ich bin Speicherkarte, nicht mehr Fleisch und Blut und Herz. Ich bin vielleicht widerlegbar, aber nicht mehr verletzbar. Gibt es mich eigentlich überhaupt?

Ob „Er“, der Besessene, sich diese Frage auch gestellt hat; dieser Besessene, von dem wir eben im Evangelium gehört haben? Ob diese Angst vor der eigenen Nicht-Existenz ihn hat aufschreien, rebellieren lassen gegen sich selbst und gegen alle, sogar gegen Gott; diese Angst, nur deshalb zu sein, weil andere das ihrige in ihn hineingestopft haben? Wer sich so verloren hat, der hat nichts mehr zu verlieren. Wenn der letzte Funke Selbstachtung weg ist, dann ist Leben nur noch grausam.

Und dann stand „er“, der Besessene, „ihm“ gegenüber, „ihm“, der ihn nicht noch weiter zugestopft und zugemüllt hat, sondern das gegeben hat, was einzig den Menschen zum Menschen macht. „Er“ hat sich gefunden und „er“ konnte endlich – vielleicht zum ersten Mal „ich“ sagen, weil einer ihm Selbstachtung geschenkt hat.

Ich möchte diese Erfahrung machen, die „er“, der Besessene gemacht hat. Dass einer „Du“ sagt, damit ich „ich“ sagen kann. Dann, das ahne ich, werde ich über mir selbst erstaunt sein und die anderen werden nicht weniger erstaunt sein. Und diesem Staunen können große Taten folgen.

Ich will keine Experten mehr sehen, nicht in den Talkshows und auch nicht in meiner direkten Umgebung.  Ich will Menschen er-leben. Menschen, die für das, was sie sagen, als Person einstehen. Menschen, die wahrhaftig und glaubwürdig sind aus sich heraus und die berichten, was niemand sonst berichten kann, nämlich von sich und ihren Lebenserfahrungen. Ich will angesprochen werden und betroffen sein. Ich will ein Gegenüber spüren, ergriffen sein,  überwältigt werden von Menschlichkeit, hineingenommen werden in das Leben eines Anderen. Ich will reicher werden an Lebenserfahrungen und reicher an Wahrheit, einer Wahrheit jenseits von Allgemeingültigkeit. Ich weiß, dass es schwer ist,  eigene persönliche Erfahrungen offen nach außen zu tragen. Jedoch geben gerade sie dem Leben Gewicht. In stürmischen Zeiten werden sie zum Anker und verhindern, dass ich zum Leichtgewicht werde, den Böen des Lebens ausgeliefert. Ich möchte meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen, und ich will ihre Erfahrungen mittragen.

Ich will Mensch werden mit Träumen und Ängsten, mit Glauben und Zweifel. Ich will ich selbst werden. So werde ich Zeuge für Gottes Gegenwart in unserer Welt.

Christoph Simonsen


21. Januar 2018

Evangelium: Markus 1,14-20
Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. Sofort rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach.

Radikal anders oder anders radikal
Kara, Max, Lucila, Hannes, Armin, Jana, Claudius, Elisa, Jonas, Amelie, Andreas: Das sind einige Namen der Studierenden, denen ich in den vergangenen Tagen begegnet bin. Mit jedem Namen verbindet sich eine je eigene, ganz persönliche Lebensgeschichte, die sie mir anvertraut haben. Keinem von ihnen bin ich zuvor begegnet, aber so bald werde ich sie alle nicht mehr vergessen. Eine einzige Begegnung vermag unendlich viel zu bewirken. Alle in je verschiedener Weise haben mir meine Sesshaftigkeit, meine Bequemlichkeit, meine Unbeweglichkeit bedrängend vor Augen geführt. Mein Leben wurde mir neu zur Frage, und dafür bin ich dankbar. Mir bis dahin fremde Menschen haben von sich erzählt; jede dreiviertel Stunde, die ich mit einem von den jungen Bewerberinnen und Bewerbern für das Stipendium teilen durfte habe ich als eine geschenkte Zeit empfunden. Einander von den Quellen zu erzählen, wo man her kommt und aus denen man lebt und von den Mündungen, auf die zu man sich bewegen möchte. Das ist nicht einfach, aber es ist frei von Konkurrenzdenken und Leistungsvermögen, denn kein Leben ist mit einem anderen vergleichbar. Vom eigenen Leben zu erzählen, das ist in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich, lieber erzählen wir von dem, was wir haben und können als davon, wer wir sind. Biographien heute müssen geradlinig sein, ungebrochen, das ist gut für Wirtschaft und Industrie. Dass aber gerade gebrochene Biographien, Lebensumwege und Lebenssuche zu einem erfüllten Ziel führen, das ist in unserer schnelllebigen Welt nicht vorgesehen. Dabei sind es gerade oft die Umwege, die uns zu uns selbst führen.
Simon, Andreas, Jakobus, Johannes; vier Männer, die sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt darüber definiert haben, was sie machen – fischen nämlich, arbeiten, Geld verdienen, Familie ernähren, all das, was uns auch antreibt, fleißig zu sein und strebsam. Dann sind sie einem Mann begegnet, der sie auf eigenartige Weise angeschaut und angesprochen haben muss. In diesem Augenblick ist etwas Lebensentscheidendes passiert. Im Blick Jesu erkannten sie sich selbst und im Ruf Jesu hörten sie Unerhörtes: ‚Du bist mehr als das, was du gelernt hast! Du kannst Größeres als das, was dir bisher zugetraut wurde! Du bist der Ort, wo Gott zuhause ist!‘ Was dann passiert ist, kann man kaum in Worte fassen. Kein Wunder, dass die Heilige Schrift da so knapp und nüchtern daherkommt: sie ließen zurück, was war und folgten Jesus. Sie sind ausgebrochen; ausgebrochen aus ihrem bisherigen Leben, ausgebrochen aus dem Korsett der von außen gesetzten Normen und Verpflichtungen, ausgebrochen aus dem Karussell des immer wieder Gleichen und Gewohnten.

Was Zebedäus wohl gedacht hat in dem Moment, als seine Söhne sich von ihm verabschiedet haben? Ob er sie innerlich für verrückt erklärt hat und gedacht hat, seine Söhne seien schon bald wieder zurück? Ob er versucht hat, sie zurückzuhalten? War er traurig, war er wütend? Man weiß es nicht. Davon ist nichts festgehalten. Dem Verfasser des Evangeliums scheint das wohl auch nicht wichtig gewesen zu sein. Es gibt Augenblicke im Leben, da darf man keine falsche Rücksicht nehmen auf die Erwartungen der anderen.
Eine solche Radikalität des Lebens, des Glaubens, des Vertrauens scheint heute undenkbar. Wer von uns könnte sich den Erwartungen unserer Gesellschaft entziehen, nicht nur steuerzahlend zum Wohle aller beizutragen, sondern vor allem dem Verantwortungsbewusstsein folgend für sich und seine Lieben, für Lebenssicherheit und Zukunft Sorge zu tragen? Diesem Dilemma sind wir, die wir heute Abend alle zur Ehre Gottes hier sind, in gleicher Weise ausgesetzt. Eine Radikalität des Glaubens steht einem Verantwortungsbewusstsein für das Leben entgegen. Oder etwa doch nicht? Denn wenn dem so wäre, so müssten wir doch alle der Verzweiflung nahe sein.
Vielleicht genügt es – für heute zumindest – wenn wir, wie ich es erfahren durfte in den Gesprächen mit den Kunststudierenden – wenn wir uns offen halten, unser Leben zur Frage werden zu lassen und wenn wir die Brüche in unserem Leben nicht kaschieren, sondern sie bewusst anschauen. Und dann: Im Gespräch bleiben, sich hinterfragen und die Radikalität des Glaubens ins eigene konkrete Leben hineingreifen zu lassen und sich so eine Offenheit bewahren für das Wort Gottes, das wäre schon einmal ein Anfang. Wer weiß, was dann in uns und mit uns geschieht. Nur Gott allein.

Christoph Simonsen

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14. Januar 2018

Lesung: 1 Samuel 3,3b-10.19
Samuel schlief im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes stand. Da rief der Herr den Samuel und Samuel antwortete: Hier bin ich. Dann lief er zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Eli erwiderte: Ich habe dich nicht gerufen. Geh wieder schlafen! Da ging er und legte sich wieder schlafen. Der Herr rief noch einmal: Samuel! Samuel stand auf und ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Eli erwiderte: Ich habe dich nicht gerufen, mein Sohn. Geh wieder schlafen! Samuel kannte den Herrn noch nicht und das Wort des Herrn war ihm noch nicht offenbart worden. Da rief der Herr den Samuel wieder, zum dritten Mal. Er stand auf und ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben gerufen hatte. Eli sagte zu Samuel: Geh, leg dich schlafen! Wenn er dich (wieder) ruft, dann antworte: Rede, Herr; denn dein Diener hört. Samuel ging und legte sich an seinem Platz nieder. Da kam der Herr, trat (zu ihm) heran und rief wie die vorigen Male: Samuel, Samuel! Und Samuel wuchs heran und der Herr war mit ihm und ließ keines von all seinen Worten unerfüllt. Samuel antwortete: Rede, denn dein Diener hört.

Gute Nacht
Diese Predigt möchte euch zum Einschlafen bringen. Also nicht überrascht sein, wenn heute alles etwas ruhiger und entspannter ist. Ich halte mich heute mal an den heiligen Augustinus, der gesagt haben soll, dass es wenig Gesünderes geben würde als einen guten Kirchenschlaf. Ihr dürft ruhig die Augen schließen und zu dösen beginnen. Schlafen, einfach schlafen.
Ich bin mir fast sicher, dass ihr euch wundern werdet, was so alles passiert, wenn wir schlafen. Manchmal, wenn wir aufwachen, erinnern wir uns an kleine Traumfetzen. Aber Wissenschaftler sagen: Das, was uns da in Erinnerung kommt, ist nur die Spitze dessen, worüber wir alles im Schlaf nachgesonnen haben. Im Schlaf passiert unendlich viel, viel mehr, als wir zu ahnen wagen. Schlaf ist alles andere als langweilig; Schlaf ist ein wichtiger Akt der Selbstfindung und der Selbstverortung. Im Schlaf finde ich mich tiefer, gewissenhafter, nachhaltiger; ich Schlaf finde ich mich selbst. Und wer sich findet, der findet unweigerlich zu seinen Quellen und zu seinen Zielen; der findet zu Gott.
Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht: Nur schlafen und dann zur tiefsten Selbsterkenntnis gelangen. Ein wenig mehr gehört dann doch noch dazu. Und hier kommen Samuel und Eli ins Spiel. Aus dem Schlaf erwacht, geht Samuel zu seinem väterlichen Freund und erzählt ihm, was ihm im Schlaf widerfahren ist. Er hat einen Ruf vernommen; und wer anders sollte ihn gerufen haben als der, der in seiner Nähe ist. Deshalb geht er zu Eli und fragt nach dem Anlass. Eli zeigt sich ratlos: „Ich hab dich nicht gerufen.“ Samuel solle ruhig weiterschlafen. Das wiederholt sich dann wieder und wieder. Und im Sich-Wiederholen dieser Prozedur reift und wächst etwas. Was da reift, ist beiden selbst nicht so richtig klar, aber dass da etwas in Bewegung gekommen ist, das spüren beide.
In den Schlaf hinein ins Bett legt sich sozusagen mit Samuel eine ungewöhnliche Achtsamkeit. Der Schlaf ist womöglich nicht mehr so tief, es ist eher ein Dämmern. Wenn wir manchmal sagen, dass wir nicht haben schlafen können, dann ist das oft weniger ein nicht können als ein nicht wollen. ‚Ich will nicht wirklich tief und fest schlafen, weil ich spüre, dass da irgendetwas in mir reifen und gedeihen möchte‘. Diese Momente zulassen, sich auf sie einlassen und sie mitnehmen in den Tag und sie ins Gespräch bringen mit lieben vertrauten Menschen: diese Momente können zu tragenden Erlebnissen für das ganze Leben werden. Nicht, dass sie es werden müssen, aber sie können es werden, so wie bei Samuel. Deshalb ist es so hilfreich und lebenswichtig, ins Gespräch zu bringen, was sich in der Nacht in Erinnerung gebracht hat. So vermögen wir auch wachsen und reifen und spüren, dass Gottes Worte auch in unserem Leben nicht unerfüllt bleiben.
So wünsche ich uns allen aufmerksame Schlafstunden und sensible Gesprächspartner, die uns anleiten, auf die Stimme, die uns zu hören, es könnte die Stimme Gottes sein.

Christoph Simonsen

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07. Januar 2018

Evangelium: Markus 1,7-11

Johannes verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren. Ich habe euch nur mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen. In jenen Tagen kam Jesus aus Nazareth in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.

Tief im Innern, da ist das Leben

Ich schau mich um und freu mich, in bekannte, vertraute Gesichter zu schauen; dazwischen manch neues Gesicht, mir noch fremd, aber das kann sich ja ändern. Es ist schön, Euch alle zu sehen heute Abend. Wir dürfen noch einmal zusammen Weihnachten feiern. Wie in der Weihnacht, so öffnet sich heute wieder der Himmel und ein Zwiegespräch beginnt, ein Zwiegespräch zwischen Gott und Mensch. Wie ist das, wenn Gott und Mensch miteinander sprechen; wie ist das, wenn sie einander anschauen, tatsächlich in die Augen schauen: Gott und Mensch? Wie das ist, das können wir ein wenig vielleicht erfahren, wenn wir uns an Augenblicke erinnern, in denen uns Begegnungen wirklich geglückt sind. Vielleicht kommen sogar Begegnungen in den Blick, die ihr an den Weihnachtstagen erlebt habt. Sicher habt ihr eure Familien besucht, die Großeltern auch, wenn sie noch leben; oder ihr seid nach dem Familienfest abends noch mit Freunden zusammengesessen.  Weihnachten ist doch eine schöne Gelegenheit, über Generationen hinweg Verbundenheit zu spüren. Da begegnen Junge und Ältere; und so unruhig und stressig die vorweihnachtlichen Tage auch gewesen sein mögen, dann, am Heiligen Abend oder an den Feiertagen, da wird es ruhiger und wir schauen einander viel entspannter an als zuvor. Da erkennen wir tatsächlich im Gesicht des älteren Menschen liebevoll die Spuren gelebten Lebens; und die Großeltern nehmen vielleicht den Wagemut des Enkels und die Lebenslust  in seinen Augen wahr und staunen über die selbstverständliche Weltgewandtheit, die so wunderbar unbekümmert und ansteckend ist. Einander anschauen und hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare erkennen. In der Tiefe eines Menschen, da zeigt sich  nicht nur das Geheimnisvolle des Lebens, da ist das Leben vor allem echt und ehrlich. Und was echt und ehrlich ist, das ist auch wertvoll, das ist schützenswert.

Das möchte Gott: Das Wertvolle und Schützenswerte im Menschen entdecken, das Liebenswerte. „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen“. Dazu braucht es Achtsamkeit, Geduld, Ausdauer; es muss halt erst die Oberfläche überwunden werden, um zum Kern, zur Seele vorzudringen. Das ist ein großes und wunderbares Geschenk, wenn wir einander durchlassen, wenn wir einander zulassen, zur Mitte, zum Lebenskern vordringen zu dürfen. Es ist mehr als ein Geschenk; es ist die Voraussetzung dafür, Mensch zu sein.

Wer nur sich selbst kennt, der kennt sich gar nicht. Auf den ersten Eindruck erscheint das paradox; aber Gott selbst ist der beste Beweis dafür: Erst in der Begegnung, in der wahren Begegnung, im Erkennen seines Gegenüber, vermag der Mensch sich wahrhaftig zu erkennen. Die Eltern, die Hirten, die Weisen, sie erkennen sich selbst im Blick auf das Kind in der Krippe; erst im Gegenüber des kleinen Kindes erkennen sie ihre Würde, ihre Größe, ihre Einmaligkeit. Und auch das Kind: in der Ehrfurcht der anderen ihm Gegenüber wird er erwachsen  und erkennt seinen göttlichen Auftrag und nimmt ihn an. Gott wächst in seiner Göttlichkeit und der Mensch erfährt, was Menschsein bedeutet in der Begegnung, im je anderen.

Deshalb sind wir aufeinander verwiesen. Deshalb ist Freundschaft, Vertrauen, Liebe viel mehr als nur eine Versüßung des Lebens, sondern vielmehr Grundvoraussetzung für Selbsterkenntnis und Menschwerdung. Wer Freundschaft, Vertrauen, Liebe verweigert oder missbraucht, der verschließt Menschen die Chance, sich so nahe zu kommen, dass sie im Einklang sein können mit sich selbst. Seien wir einander behilflich, dass wir in diesem neuen Jahr 2018 als Menschen leben können so, wie Gott uns gedacht und gemacht hat.  Schenken wir einander Vertrauen und Wertschätzung. Schauen wir einander an, so wie Gott uns anschaut: Mit Wohlwollen und der existentiellen Erwartung, auf diese Weise dem/der anderen wie auch sich selbst dienlich zu sein auf dem Weg der gottersehnten Menschlichkeit.

Das Wasser der Taufe mag uns erinnern und ermutigen, das Oberflächliche und äußerliche beiseite wischen, oder besser: waschen zu können und dem Herzen des Nächsten nahe zu kommen.

Christoph Simonsen

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  1. Advent im Lesejahr B – 2017
    17. Dezember

Lesung: Jesaja 61,1-2a.10-11
Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe  und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde  und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, / er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt / und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt. Denn wie die Erde die Saat wachsen lässt und der Garten die Pflanzen hervorbringt, so bringt Gott, der Herr, Gerechtigkeit hervor  und Ruhm vor allen Völkern.

Über das Absolute
„Es gibt nur zwei Absolute: Gott und Hunger“; das ist eine These von Sr. Theresa Forcades. „Es gibt nur zwei Absolute: Gott und Hunger“. Die spanische Benediktinerin bezieht sich auf das 25. Kapitel des Matthäusevangeliums, wir haben es vor einigen Wochen am Sonntag des Christkönigfestes gehört, ihr erinnert euch vielleicht. Jesus spricht vom Endgericht und verheißt den Menschen das Paradies, die in den Hungernden ihn, Jesus, den Gottessohn erkannt hätten. „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben“, sagt er und die Menschen fragen, wann sie ihn denn hungrig gesehen hätten. Darauf antwortet er: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. „Es gibt nur zwei Absolute: Gott und Hunger“. Dieser Gedanke, diese Überzeugung hat mich in den letzten Tagen intensiv begleitet. Schwester Theresa, der es um einen persönlichen Sinneswandel des einzelnen Menschen geht, im Blick auf die Armutssituation in unserer Gesellschaft, ist es in ihrem Vortrag gelungen, mich und viele andere anzusprechen gerade nicht dadurch, dass sie moralisch argumentiert hätte, so nach dem Motto, schämt ihr euch nicht, dass es euch im reichen Westeuropa so gut geht, während doch zur gleichen Zeit 50 Millionen Menschen allein in dieser reichen EU unter der Armutsgrenze leben müssen. Schlechte Gewissen machen keine guten Menschen. Nein, mit Druck und Moralin wird die Welt nicht freundlicher, friedlicher, sicher auch nicht gerechter.

Das Gedicht eines anderen Ordensmenschen, Anton Rotzetter bietet eine Alternative zu dem von uns Menschen oft so gern ausgeübten Druck, den wir gern einsetzen, um an unsere Ziele heranzukommen, und mögen sie noch so integer sein. Er schreibt:

Jeder Ochse weiß
wo er zuhause ist
Und jeder Esel spürt
wem er gehört
Nur wir Menschen
Irren heimatlos
Von Frage zu Frage
Von Haus zu Haus
Von Herr zu Herr
Von Götze zu Götze
So lass uns dich erkennen, Gott,
Als Mensch unter Menschen In wahrer Menschlichkeit.

Weil wir Menschen oft so planlos, heimatlos umherirren von Frage zu Frage, von Herr zu Herr, von Götze zu Götze, und dann meinen, wenn wir uns an Normen, Gebote, Gesetze festhalten, dann wird es besser gehen im Leben, verabsolutieren wir, was absolut nicht absolut ist: Wir absolutieren unser Denkvermögen und unsere Deutungsversuche von der Welt, in der wir leben. Was dabei herauskommt, sehen wir tagtäglich. Familien werden auseinandergerissen auf der Flucht und ein 2jähriges Kind erhält eine Einreiseerlaubnis, während den Eltern in der Türkei das Visum verweigert wird; oder wir unterstützen ein marodes System, wie das in Libyen zum Beispiel und sind mitverantwortlich dafür, dass unschuldige Menschen als Sklaven an reiche Clans verkauft werden.
„Es gibt nur zwei Absolute: Gott und Hunger“ Diese These von Sr. Theresa bildet einen radikalen Perspektivwechsel. Der Unverfügbare, der sich zur Verfügung gestellt hat und die anderen, die zur Verfügungsmasse dieser Welt geworden sind, sind die einzigen Absolute dieser Welt. Alles andere ist verhandelbar, veränderbar, einzig Gott und die menschliche Sehnsucht nach Sättigung nicht. Weihnachten wird erfahrbar im Nachahmen dessen, was Gott vorgemacht hat. Er wollte nichts anderes als sich hineinversetzen in das Leben der Menschen. Gott möchte sich einfühlen und hineindenken in unseren Lebensrhythmus, in das, was wir tun, was wir arbeiten, was wir fühlen und erleben. Wir Menschen machen Gesetze, um das Leben miteinander zu regeln, Gott fühlt sich ein in die Not der Menschen, um das Leben der Menschen zu heilen.

Weihnachten ist eben mehr als ein Wohlfühlfest; so vertraut all die schönen Traditionen zu diesem Fest sind, die mir ebenso wichtig sind wie sicher auch euch, sie treffen nicht den Kern dieses Geschehens. Weihnachten berührt erst wirklich, wenn wir erkennen, nein, besser: spüren, was wirklich absolut ist in unserem Leben: Gott und Hunger. Oder anders: Eine tiefe Freude über die Menschwerdung Gottes und eine nicht minder tiefe Antriebskraft, sich allem entgegenzustellen, was einem würdevollen Menschsein hier auf Erden im Wege steht.  Dann können wir für uns auch sagen: „Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe  und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde  und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“

Christoph Simonsen
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10. Dezember 2017
2. Advent

Lesung: Jesaja 40,1-5.9-11
Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist; denn sie hat die volle Strafe erlitten von der Hand des Herrn für all ihre Sünden. Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, Alle Sterblichen werden sie sehen. Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.
Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott. Seht, Gott der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Seht, er bringt seinen Siegespreis mit: Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her. Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand. Die Lämmer trägt er auf dem Arm, die Mutterschafe führt er behutsam.

Und sie gibt es doch: die Hoffnung
Da will einer was in Bewegung bringen, da in Jerusalem; da rüttelt jemand an die Gartenzäune der Enttäuschten und der Vergessenen und will echte Aufbruchsstimmung erzeugen. Ich geb zu, mir ist das alles ein wenig zu euphorisch, ich bin ja eher dem Nüchternen und Kognitiven zugetan. Diese Superlative sind mir erst mal zu viel. Allzu viel Gefühl und Nostalgie verunsichert mich, macht mich hilflos. Vielleicht muss ich an meinem überproportionierten Rationalismus arbeiten. Das mit der „verbeulten Kirche“, die Papst Franziskus letztens propagierte, liegt mir erheblich näher als das Geglättete, Begradigte, Geebnete; das wirkt auf mich eher unecht und gekünstelt. Leben ist eben nicht glatt.
Ich frag mich, warum mich dieser adventliche Text aus dem Jesaja Buch trotzdem immer wieder so berührt. Warum lass ich mich von dieser Sehnsucht so einspannen, dass alle Hürden überwunden werden, all die unzähligen Hügel des Lebens, die sich einem immer wieder in den Weg stellen? Dass all das Krumme begradigt wird, was sich durch die vielen Verbiegungen ergeben hat, die ich und wir immer machen müssen in unserem Leben? Und dass es grundsätzlich möglich ist, durch die Wüste zu gehen, ohne endgültig darin zu verrecken? Warum berühren mich diese Hoffnungsschimmer, die so unrealistisch sind und gegen alle Erfahrung sprechen, die mich das Leben lehrt? Warum überhaupt ist Hoffnung in mir? Wie kann Hoffnung leben in einer Welt, in der minütlich 6,25 Millionen Euro für Waffen ausgegeben werden, aber nur 0,5 Millionen Euro für soziale Projekte? Hoffnung ist so irreal wie der Weihnachtsmann am Heiligen Abend.
Aber sie ist da. Das ist verrückt, dass da eine Hoffnung ist, die fest daran glaubt, dass diese ganze verbogene, verbeulte, verlorene Welt dennoch gehalten, begleitet, getragen ist. Das ist verrückt! Aber so verrückt das ist, so real ist es auch. Alles, aber wirklich alles in unserer Welt spricht dagegen, dass aus diesem Sammelsurium von Interessen, Meinungen und Weltanschauungen eine Herde werden könnte, die sich mit Leib und Seele einem Hirten anvertraut. Aber dieser Hoffnungsschimmer war immer da. Obwohl von Anfang an ein Riss durch die Menschheit ging, schon zwischen Adam und Eva war es so, fanden sich immer welche, die fest daran glaubten, dass Frieden, Eintracht, Achtsamkeit möglich ist.

Diese unkaputtbare Hoffnung war immer da, schon im Jahr 740 vor Christus, als Jesaja seine ermutigende Botschaft in die Welt hineinrief und auch heute, da Menschen wie wir zusammenkommen und einander anvertrauen mit der Gewissheit, dass es mehr geben muss im Leben als Glühwein, Weihnachtsmann und Waffenstillstand an den Feiertagen. Es gibt eine Hoffnung, die in alle Wirklichkeiten des Lebens hineingreift und nicht tot zu kriegen ist.
Hoffnung ist nicht irreal, weltfremd, naiv. Weil Hoffnung nämlich einfach nicht tot zu kriegen ist, nicht wegzudenken, nicht wegzureden ist, ist sie auch real, wirklich. Und sie hat eine gestalterische Kraft. Diese Kraft einzubringen, liegt an uns. Wir sind Träger der Hoffnung. Gott hat sie unsterblich in uns hineingelegt, damit wir sie leben. Und damit wir wissen, wie das gehen kann, Hoffnungsträger sein, ist er selbst Mensch geworden, es uns vorzumachen, vorzuleben. Hoffnung leben in einer verbeulten Welt; anders leben in einer Welt, die immer in der Gefahr steht, dem Gleichschritt zu verfallen, mutiger Leben in einer Gesellschaft, in der wegzuschauen die Regel ist, eindeutiger Leben in einer Stadt voller Mehrdeutigkeiten.
Nein, diese Tage des Advent sind nicht dazu da, sich nostalgisch aufzuladen; sie sind uns geschenkt, um uns unserer gelebten Hoffnung zu vergewissern. Und es begleitet uns die Frage, ob wir leben, was wir hoffen.

Christoph Simonsen

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03. Dezember 2017
1. Advent

Lesung: Jesaja 63,16b-17.19.b; 64,3-7
Du, Herr, bist unser Vater, «Unser Erlöser von jeher» wirst du genannt. Warum lässt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart, sodass wir dich nicht mehr fürchten? Kehre zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Eigentum sind. Reiß doch den Himmel auf und komm herab, sodass die Berge zittern vor dir. Seit Menschengedenken hat man noch nie vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen, dass es einen Gott gibt außer dir, / der denen Gutes tut, die auf ihn hoffen. Ach, kämst du doch denen entgegen, die tun, was recht ist, / und nachdenken über deine Wege. Ja, du warst zornig; / denn wir haben gegen dich gesündigt, / von Urzeit an sind wir treulos geworden. Wie unreine (Menschen) sind wir alle geworden, unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid. Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind. Niemand ruft deinen Namen an, keiner rafft sich dazu auf, fest zu halten an dir. Denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen / und hast uns der Gewalt unserer Schuld überlassen. Und doch bist du, Herr, unser Vater. Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer, / wir alle sind das Werk deiner Hände.

Geboren um zu leben
War das eben in der Lesung ein Gebet: „Du, Herr, bist unser Vater…“? Ja, das muss ein Gebet sein, die direkte Ansprache macht es unmissverständlich, da spricht jemand Gott an, direkt und dazu ziemlich unverblümt. Und auch noch auffallend frech. Das muss man sich mal vorstellen, der Beter macht Gott dafür verantwortlich, dass die Menschen so hart sind, von Gottes Wegen abirren, ihn nicht mehr fürchten. Starker Tobak, finde ich, Gott hat bitte selbst zu verantworten, dass die Menschen ihm nicht mehr treu sind. Und er, Gott, soll doch bitte mal ein Donnerwetter von oben ertönen lassen, dass die Berge vor ihm erzittern, also, wohl eher die Menschen als die Berge. „Bitte lieber Gott, mach, dass wir Menschen ein wenig braver werden und wieder Ehrfurcht vor dir haben“, so klingt das. Ziemlich naiv für einen erwachsenen Menschen.
Und dann wird dem Beter scheinbar bewusst, was er da gesagt hat und bemüht sich sehr, Gott nicht zu sehr zu erzürnen. Wir Menschen wüssten doch, dass es keinen anderen Gott gibt, der denen Gutes tut, die auf ihn hoffen und tun was recht ist. Und wir wüssten auch, dass wir wohl noch an uns arbeiten müssten, und nachdenken sollten über seine Wege, Und wir wüssten auch, dass wir eigentlich die sind, auf die er, Gott allen Grund hätte, zornig zu sein. Das Gebet mündet dann in der Erkenntnis: „Wir sind der Ton, und du bist der Töpfer, wir alle sind das Werk deiner Hände“. Der Beter findet schlussendlich zurück zu einem angemessenen Maß und vermag sein Verhältnis zu Gott und überhaupt das Verhältnis der Menschen zu ihrem Gott wieder etwas ehrlicher einzuordnen.
In diesem ganzen Gebet erkenne ich so einen gewissen typischen Grundduktus von uns Menschen: Zunächst spielen wir den großen Zampano, dann erkennen wir, dass wir übers Ziel hinausgeschossen sind und bekennen ehrerbietig unseren Kleinmut, und zum Schluss sehen wir dann doch ein, dass wir Menschen eben doch nicht das Maß aller Dinge sind.
Ja, wir Menschen sind schon sehr von uns eingenommen und skeptisch sind wir von Natur aus, wenn wir uns in ein größeres Ganzes einordnen müssen. Dass wir uns auf andere einlassen, anderen Vertrauen schenken, uns anderen überlassen, das ist alles andere als selbstverständlich. Wir wollen die Macher sein, die Entscheider, die Zukunftsplaner, die Wegbereiter. Gut, dass wir so langsam begreifen, dass wir das alles nicht sind. Wir haben das Leben nicht wirklich im Griff, wir sind dem Leben oft ausgeliefert und uns gelingt es weiß Gott nur spärlich, dem Leben auf dieser Erde Sicherheit zu geben, geschweige denn Zukunft. Ich denke, ich kann mir ersparen, wo überall wir Menschen versagen, und da denke ich nicht an die anderen, ich rede von Euch und mir. An so vielen Stellen entgleitet uns das Leben und das nicht selten gerade deshalb, weil wir uns selbst immer wieder überschätzen. Selbstüberschätzung ist wohl eine der größten Übel, an denen die Schöpfung heute leidet.
Ich frage mich immer wieder, und da bin ich glaube ich nicht alleine, ob zu beten Sinn macht, denn kein Gebet nimmt mir die Verantwortung für mein Leben ab. Gleicht ein Gebet nicht eher einem Selbstbetrug, insofern der Eindruck erweckt wird, da wäre einer, der alles zum Guten richten könnte? Im letzten hängt doch tatsächlich alles an uns Menschen. Wer so denkt, den müsste das eben gehörte Gebet nachdenklich stimmen. Denn dieses Gebet lenkt die Aufmerksamkeit nicht zuerst nach oben sondern nach innen. Das Gebet ändert nicht etwas, das Gebet ändert mich, den Menschen. In der Tat, es hängt alles an uns, aber anders, als wir denken. Wer sich innerlich öffnet, ‚Gott, Vater, Herr‘ zu sagen; wer einmal den Blick weg von sich wendet und eine substantielle Begrenztheit in sich akzeptiert, der erfährt nicht nur eine neue Demut in sich, eine Ehrfurcht und Liebe zu seiner/ihren eigenen Unfähigkeit, der erfährt darüber hinaus auch eine große Weite und Freiheit, diese Begrenztheit mit Leib und Seele anzuerkennen. Aus dieser Ehrlichkeit wird dann eine neue Form der Verantwortlichkeit geboren, nämlich vor allem zu ehren, was uns anvertraut ist. Als erstes ehren, dann handeln und formen. Nicht die eigene Macht und Kraft wird die Welt heiler und menschlicher machen sondern die Ehrfurcht vor allem, was geschaffen und mir geschenkt und zur Verfügung gestellt ist.
Das Gegenteil von Selbstüberschätzung ist eben Ehrfurcht; Ehrfurcht, die das andere, den anderen groß macht, bringt das eigene Leben in Bewegung, in eine Lebensbewegung, die dem Großen, dem Ganzen, der Welt gut tut.
Heute, mit dem Beginn der Adventzeit, hätten wir die Möglichkeit, uns zu prüfen, ob wir auf das Christkind warten, das uns schöne Geschenke unter den Tannenbaum legt; dann können wir aber mit Gewissheit damit rechnen, dass wir schon wenige Tage wieder gefangen werden von den Strukturen dieser Welt und eintreten in den Konkurrenzkampf darüber, wer der Beste, Größte, Schönste, Wichtigste auf dieser Erde ist. Wir können aber die nächsten 24 Tage auch dazu nutzen, uns zu fragen, ob wir uns vielleicht betend anvertrauen mögen dem, auf dessen Menschwerdung wir zugehen und der uns ein Menschsein vorgibt, das nicht dem Trugschluss der Größe erliegt sondern die Größe der Demut offenlegt; einer Demut der Ehrlichkeit, wie sie der Beter zeigte, von dem wir eben gehört haben. „Wir sind der Ton, du bist unser Töpfer“.

Christoph Simonsen


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8.-15. Sonntag im Jahreskreis C – 2013

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