Was ist Wahrheit?
Jetzt ist aber wirklich lange genug über das Kreuz diskutiert worden; die entsprechenden Politiker*innen und all die anderen, hatten ihren Auftritt, so dass wir uns jetzt wieder dem Wesentlichen zuwenden können. Und das Wesentliche des Glaubens ist nicht das Kreuz, das Wesentliche des Glaubens ist Gott. Und zwar der Gott, der den Menschen nahe sein möchte. Den Menschen vor allen, die in ihrem Leben schwere Kreuze zu tragen haben. Und denen ist wurscht, ob irgendein Schmuckkreuz irgendwo in einem Eingang hängt oder nicht. Goldene, silberne, diamantene Kreuze sind nicht die Kreuze, die die Welt besser machen. Wohl aber die Kreuze, die auf den Schultern und den Herzen der Menschen liegen: diese Kreuze haben Einfluss auf das, was in der Welt geschieht. Es gibt Kreuze, die machen das Leben so schwer, dass Menschen daran zu zerbrechen drohen.
Ich denke an die Familie und die Freunde von Jonas, den wir am vergangenen Freitag zu Grabe getragen haben. Dass die Eltern und Geschwister, ja fast eine ganze Gemeinde an diesem Kreuz der Trauer und des Unverstehens nicht zerbrechen, das gleicht in meinen Augen einem Wunder und ich schau ehrfürchtig auf diesen Glauben der Familie, die versuchen, ihre unsägliche Trauer mit ihrem Glauben zu tragen.
Ich schaue – mit einem ganz anderen Blick – auf die Abgehängten unserer Gesellschaft, die chancenlos sind und sich extremen Überzeugungen zuwenden – aus Not, aus Unwissenheit, aus Angst, und die spät, hoffentlich nicht zu spät erkennen, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch unsere Gesellschaft als Ganzes in Gefahr bringen, der Unmenschlichkeit anheim zu fallen.
Diese existentiellen Kreuze, diese lebensbeeinflussenden Kreuze in den Blick zu nehmen, dazu bedarf es einer Gabe, die uns heute zuteilwird. Wer die wirklichen Kreuze dieser Welt in den Blick nehmen will, der braucht Geist, guten Geist, wahrhaftigen Geist. Gottes Geist möchte in die Wahrheit führen, in die Wahrheit unseres Lebens.
Aber was ist wahr, was ist wahrhaftig? Auf diese Antwort würden wohl Statistiker anders antworten als Juristen, und Soziologen anders als Naturwissenschaftler. Der Begriff „Wahrheit“ ist ein wahrhaftig schwierig Ding. So schwer sogar, Jesus sagt es selbst, dass wir es nicht zu tragen vermögen.
Sollen wir uns jetzt also anderen Dingen zuwenden, die leichter zu fassen sind. Können wir machen, aber wir werden dadurch sicher nicht ruhiger. Denn die Wahrheit ist nicht nur schwer zu tragen, sie ist auch ein Quälgeist, der uns nicht in Ruhe lässt. Die Frage nach der Wahrheit ist so virulent, dass wir von ihr nicht loskommen. Wir wollen wissen, was wahrhaftig ist. Da muss irgendwo in unseren Genen ein Gnom sein, der uns immer wieder anstößt und quält mit dieser drängenden Frage nach der Wahrheit. Ohne den Ehrgeiz, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, würde unser Leben, unser eigenes wie auch unser gesellschaftliches Leben, in Beliebigkeit oder Chaos versinken. Ohne den Anspruch, wahrhaftig zu sein, wäre unser Leben von Misstrauen und Missgunst geprägt und wir würden uns gegenseitig zerfleischen – noch mehr, als wir es sowieso schon tun.
Aber wenn es so schwer ist, die Wahrheit zu finden und sie dann auch zu tragen, damit wir sie im Notfall auch ertragen können, wie kommen wir ihr näher? Indem wir sie suchen – und zwar gemeinsam. Das ist des Pudels Kern. Wahrheit findet sich immer nur im gemeinsamen Suchen. Wahrheit ist nicht individuell, Wahrheit ist sozial. Jesus führt uns auf diesen Gedanken, da er ‚mein‘ und ‚dein‘ und ‚sein ‚zusammenbringt und in ein ‚unser‘ führt: „Vater unser“. Was sein ist, ist unser. „Er nimmt von dem, was mein ist“, und wird es euch geben. Den Geist der Wahrheit nämlich. Wahrheit gibt und nimmt also. Und im Blick auf den, der das sagt, im Blick auf sein Leben, kann das nur heißen: Wahrheit gibt Hoffnung und nimmt das Kreuz.
Der Geist der Wahrheit macht Leben nicht unbedingt leichter, aber auf jeden Fall erträglicher. Im wahrsten Sinn des Wortes so, dass die Schwere des Lebens tragbar wird, lebbar wird. Wo das Leben des einen getragen ist von der Hoffnung der anderen, da wird der Geist der Wahrheit erkennbar.
Pfingsten ist das Fest, das die Menschen in Wahrheit zusammenführt, damit jede und jeder einzelne erkennt und spürt, dass ihr und sein Leben Sinn hat und Sinn macht. Ich denke an Jonas und viele andere, denen sich ihr Lebenssinn nicht erschlossen hat. Vielleicht auch deshalb nicht, weil sie sich nicht einzubringen vermochten in die gemeinsame Suche nach der Wahrheit und nicht die Kraft fanden, ihr durchkreuztes Leben als wertvoll genug anzusehen in einer Welt, in der Wahrheit zu oft mit Gewissheit gleichgesetzt wird. Dass Wahrheit eine immer zu Suchende ist, und jede und jeder beizutragen vermag, der Wahrheit Gottes näher zu kommen, das braucht wohl noch ein wenig mehr Geist. Gut, dass er uns heute geschenkt wird.
Christoph Simonsen