Warten in Zeiten der Not

Warten in Zeiten der Not

„Ich kann nicht mehr so weitermachen.“
„Das sagt man so.“
„Sollten wir auseinandergehen? Es wäre vielleicht besser.“
Es sei denn, dass Godot käme.“
„Und wenn er kommt?“
„Sind wir gerettet.“
„Also, wir gehen?“
„Gehen wir!“ (aus Samuel Beckett: Warten auf Godot)

Estragon und Wladimir warten auf Godot. Zwei Landstreicher irgendwo an einer Landstraße warten. Sie warten, sonst tun sie nichts. Aber sie warten vergeblich, Godot kommt nicht. Irgendwann kommt dann ein Ziegenhirte und sagt ihnen, dass sich die Ankunft Godots auf unbestimmte Zeit verzögern würde.
Estragon und Wladimir bleiben stehen. Es heißt ausdrücklich in dem Theaterstück: „Sie gehen nicht von der Stelle“. Wie sich das wohl anfühlt, nicht von der Stelle zu kommen? Würdet ihr euch an eine Bushaltestelle stellen, wenn ihr genau wüsstet, dass dort nie ein Bus anhalten würde?
„Ich kann nicht mehr so weitermachen“, sagt der eine zum anderen. Und der andere antwortet: „Das sagt man so“. Entspricht das nicht oft unserem Lebensgefühl: Man spürt so eine gewisse Unzufriedenheit, aber dann kommt sofort hinterher der andere Gedanke, dass es ja doch irgendwie läuft. Also lässt man es laufen: das Leben.

Am vergangenen Donnerstag hab ich einen ehemaligen Studenten hier aus Aachen besucht, der inzwischen mein Freund geworden ist. Er wohnt heute bei seiner Mutter im Sauerland. Er wartet auch. Er wartet auf seinen Tod. Eine schwere Krankheit hat ihn ereilt. Er kann nicht mehr alleine leben. Für die alltäglichen Dinge des Alltags braucht er Hilfe. Wir suchen nach einem Platz in einem Hospiz für ihn; einen Ort, wo er in Frieden sterben kann. „Ich kann nicht mehr so weitermachen“, das kann Andreas nicht sagen, denn er muss so weitermachen. Es bleibt ihm keine Wahl. Sein Warten ist alternativlos.
Estragon und Wladimir stehen an der Straße und warten. Wer Samuel Beckets Theaterstück schon einmal gesehen oder gelesen hat, der wird schwerlich auch nur eine gefühlsmäßige Regung bei ihnen wahrnehmen können. Sie warten regungslos, teilnahmslos, so, als sei alles irgendwie gleich, gleich-gültig. Das Warten von Andreas hat andere Züge: er weint, er lacht, er ist deprimiert und dann wieder aufbrausend. Soweit es ihm möglich ist, streckt er seine Arme aus, sucht meine Nähe, will mich umarmen, möchte mich festhalten, möchte das Leben festhalten, sein Leben einbinden in das meine. Es ist aussichtslos, aber er versucht es, er will das Leben festhalten, er will ein Morgen spüren.
„Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ Diese Frage richtet Johannes an Jesus über Mittelsmänner, da er selbst ja im Gefängnis sitzt. In den Augen von Andreas sah ich am vergangenen Donnerstag eine ähnliche Frage aufleuchten. ‚Bringst du mir mein heiles Leben zurück?‘ Er hat diese Frage nicht ausgesprochen, wohl wissend um dessen unmögliche Realisierung. Aber ich hab sie gespürt, lautlos gehört. Und ich habe versucht, eine Antwort zu geben. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, mit meiner Antwort Trost und Zuversicht zu schenken. Aber das war alles, was ich im Augenblick vermochte: Auf einen anderen zu verweisen. Dieses Gefühl, hilflos zu sein und dann auf einen anderen zu verweisen, hinterließ bei mir zunächst einen schalen Beigeschmack. Hab ich mich damit aus der Verantwortung gezogen? Ist der Verweis auf Gott Ausdruck menschlicher Hilflosigkeit? „Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ Wie hört das ein junger Mensch, der vom Tod gezeichnet ist? Sind diese Worte wirklich Trost oder nur Vertröstung?

In diesen Stunden, wo ich bei Andreas war, durfte ich spüren, dass das Ringen, meinem Glauben Raum zu geben und meine Hoffnung auf diesen menschgewordenen Gott weiter zu geben, wirklich Trost schenken durfte. Andreas wurde ruhiger und er vermochte zu lächeln. Und ich durfte hautnah erleben, dass der Verweis auf diesen kleinen wunderbaren Gott wohl tut, für einen Augenblick Kraft schenkt. Diese Worte, die Worte Jesu, bergen wirklich eine heilende Kraft in sich.
Warten, dass da einer ist, der Trost spendet, der einer Hoffnung auf heiles Leben Ausdruck verleiht, der Gott ins Gespräch bringt und so der Ausweglosigkeit des Lebens entgegentritt: Das ist Advent. Und dieses Warten ist voller Sehnsucht, voll von innerer Wachsamkeit und sogar erfüllt von Freude, auch da, wo der Tod ganz nahe ist.
Predigt am 11. Dezember

Christoph Simonsen