Von meiner Besessenheit

Ich bin besessen. Ich bin besessen von der Überzeugung, ich könnte die Welt und das Leben verstehen. Ich bin besessen von dem Wahn, was ich bis heute noch nicht verstanden habe, spätestens morgen verstehen zu können. In mir lebt ein Fremder mit Namen ‚Perfektionismus‘, der mir einflüstert, das Vollkommene sei machbar, die letzte Frage sei zu beantworten und das tiefste Geheimnis würde sich auflösen können. Ich bin besessen von der Macht des Objektiven.
Ich bin nicht ich; ich bin der Fremde in mir. Ist da bitte irgendjemand, der mich zur Rebellion drängt, der mir behilflich ist, der Macht des Faktischen zu widersprechen und der mich der sein lässt, der ich bin. Ich will wirklich mehr sein als eine fremdbestimmte Variable, die nur so lange interessant ist, bis der letzte Beweis gefunden ist dafür, dass die Welt ein Zufallsprodukt und der Mensch eine Hybris seiner selbst ist. Ist da jemand, der mein Herz versteht, und der mit mir bis ans Ende geht? Wenn ich selber nicht mehr an mich glaub, ist da jemand?

Ich kann das gut überspielen, aber tief im Innern macht es mich krank: Ich bin tatsächlich nicht „ich“, auch wenn ich mich nach außen hin so zeige und bewege, als sei ich „ich“. Vielmehr bin ich „er“; Was von mir sichtbar ist, ist Schein. Was ich als „ich“ darstelle, sind eigentlich die Gedanken anderer: die Einflüsterer und Zuflüsterer, die es schaffen, sich immer wieder in mich hinein zu bohren; die mich zur Hülle machen, damit sie unantastbar und unangreifbar werden und damit das unantastbar wird und unangreifbar bleibt, was sie in mich hineingestopft haben; sie haben mich zum Filter verformt, damit nicht verunsichert wird, was von ihnen durch mich so zielorientiert und selbstbewusst in die Welt hinausposaunt werden soll.
Ich bin schon längst nicht mehr ich, sondern „er“? Oder bin ich sogar schon „es“? Ich bin nur noch das, was in mich eingeflossen ist und was andere mir eingeflößt haben. Ich bin eigentlich gar nicht mehr Persönlichkeit, sondern nur noch Wissen? Ich bin Speicherkarte, nicht mehr Fleisch und Blut und Herz. Ich bin vielleicht widerlegbar, aber nicht mehr verletzbar. Gibt es mich eigentlich überhaupt?

Ob „Er“, der Besessene, sich diese Frage auch gestellt hat; dieser Besessene, von dem wir eben im Evangelium gehört haben? Ob diese Angst vor der eigenen Nicht-Existenz ihn hat aufschreien, rebellieren lassen gegen sich selbst und gegen alle, sogar gegen Gott; diese Angst, nur deshalb zu sein, weil andere das ihrige in ihn hineingestopft haben? Wer sich so verloren hat, der hat nichts mehr zu verlieren. Wenn der letzte Funke Selbstachtung weg ist, dann ist Leben nur noch grausam.
Und dann stand „er“, der Besessene, „ihm“ gegenüber, „ihm“, der ihn nicht noch weiter zugestopft und zugemüllt hat, sondern das gegeben hat, was einzig den Menschen zum Menschen macht. „Er“ hat sich gefunden und „er“ konnte endlich – vielleicht zum ersten Mal „ich“ sagen, weil einer ihm Selbstachtung geschenkt hat.
Ich möchte diese Erfahrung machen, die „er“, der Besessene gemacht hat. Dass einer „Du“ sagt, damit ich „ich“ sagen kann. Dann, das ahne ich, werde ich über mir selbst erstaunt sein und die anderen werden nicht weniger erstaunt sein. Und diesem Staunen können große Taten folgen.
Ich will keine Experten mehr sehen, nicht in den Talkshows und auch nicht in meiner direkten Umgebung. Ich will Menschen er-leben. Menschen, die für das, was sie sagen, als Person einstehen. Menschen, die wahrhaftig und glaubwürdig sind aus sich heraus und die berichten, was niemand sonst berichten kann, nämlich von sich und ihren Lebenserfahrungen. Ich will angesprochen werden und betroffen sein. Ich will ein Gegenüber spüren, ergriffen sein, überwältigt werden von Menschlichkeit, hineingenommen werden in das Leben eines Anderen. Ich will reicher werden an Lebenserfahrungen und reicher an Wahrheit, einer Wahrheit jenseits von Allgemeingültigkeit. Ich weiß, dass es schwer ist, eigene persönliche Erfahrungen offen nach außen zu tragen. Jedoch geben gerade sie dem Leben Gewicht. In stürmischen Zeiten werden sie zum Anker und verhindern, dass ich zum Leichtgewicht werde, den Böen des Lebens ausgeliefert. Ich möchte meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen, und ich will ihre Erfahrungen mittragen.
Ich will Mensch werden mit Träumen und Ängsten, mit Glauben und Zweifel. Ich will ich selbst werden. So werde ich Zeuge für Gottes Gegenwart in unserer Welt…Predigt am 28. Januar

Christoph Simonsen

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