Über die Freiheit, in Frage zu stellen, was selbstverständlich scheint
Über die Freiheit, in Frage zu stellen, was selbstverständlich scheint
„Unverhofft kommt oft“, behauptet eine sprichwörtliche Weisheit. Und – vielleicht habt ihr auch schon die Erfahrung gemacht –oft ereignet sich Wichtiges im Leben zwischendurch, unterwegs sozusagen. Unverhoffte Begegnungen sind nicht selten auch die Nachhaltigsten. So zum Beispiel am vergangenen Dienstag, als auf der Roermonder Straße, wo ich an einer roten Ampel warten musste, ein alter Herr an die Autoscheibe klopfte und mich fragte, ob ich ihn mitnehmen könne. Er wäre in Würselen in den falschen Bus gestiegen und wollte eigentlich nach Vaals. Ich hab ihn bis Aachen mitgenommen zum Busbahnhof und unterwegs entwickelte sich ein sehr schönes Gespräch zwischen uns beiden. Zum Schluss fragte er nach meinem Namen und verabschiedete sich mit einem Segensgruß. Dieser Segen hat mich über den Tag begleitet. Wir sollten viel öfter einander Segen zusprechen.
Auf dem Weg nach Jerusalem passiert Jesus auch so einiges Unverhofftes. Oder besser: denen Jesus begegnet, denen passiert Unverhofftes.
Da sind zum einen die Freunde Jesu, die mal wieder in ihrem stürmischen Temperament Feuer vom Himmel fallen lassen wollen. Da wollten sie Jesus ein Zeichen der Verbundenheit und der Solidarität setzen, indem sie den ungastlichen Dorfbewohnern Pech und Schwefel an die Backe wünschen, und bekommen stattdessen selbst eins übergebraten. Da ist der Mann, der Jesus Treue und Zuneigung schenken möchte; und der wird mit der Warnung konfrontiert, Heimat und Sicherheit zu verlieren, wenn er mit ihm gehe; das klingt alles andere als einladend. Schließlich ein anderer Mann, der Offenheit gegenüber Jesu Einladung signalisiert, mit ihm zu gehen, aber zuvor den Toten die Ehre erweisen möchte; und der wird von Jesus rüde zurecht gewiesen, die Toten hinter sich zu lassen; das klingt alles andere als einfühlsam. Und wieder ein weiterer Mann, der ebenfalls Bereitschaft zeigt, Jesus zu begleiten, ihm wird zugemutet, Frau und Kinder, die ganze Familie, aufzugeben; das hören wir heute in Zeiten, wo doch die Familie als das non plus ultra verkauft wird.
Unverhoffte Begegnungen aus denen sich unverhoffte Konfrontationen ergaben. Unverhoffte Konfrontationen, die in aller Verschiedenheit der Menschen und der Umstände des Gespräches Menschen vor die Alternative stellten: Bewahren oder wagen, festhalten oder loslassen. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Das heutige Evangelium ist eine Zumutung. Es mutet mir zu, meine Beziehung zu Jesus – im letzten also zu Gott – zu überprüfen. Dieses Evangelium macht mir wie kaum ein anderes bewusst, dass der Glaube an Gott mit Konsequenzen verknüpft ist; dass der Glaube eher einem Chaosprogramm als einem Wohlfühlprogramm gleicht.
Die hilfreiche Unterteilung zwischen Gut und Böse, die Geborgenheit der Heimat, die Ehrfurcht vor den Verstorbenen, die Stabilität, die Familie und Freundschaft schenkt. Das alles sind wunderbare Gottesgeschenke. Aber all das scheint nicht – wenn Jesu Worte gelten – das höchste erstrebenswerte Gut zu sein. Wer von uns ist nicht der festen Überzeugung, alle diese guten Wesenheiten würden das Leben tragen, sie formen und prägen. Wer von uns sehnt sich nicht nach Heimat, nach Zuneigung, nach Geborgenheit und ist fest überzeugt, damit hätte das Leben ein gutes Fundament? Und ist es nicht Jesus selbst, der uns Menschen genau darauf in seinen Predigten immer verweist? Gilt all das nicht mehr? Doch es gilt, und zugleich bedarf es auch einer kritischen Hinterfragung. Denn diese wunderbaren Wertevorstellungen, die sich im Lauf der Menschheitsgeschichte als zukunftsträchtig erwiesen haben, und die Jesus selbst auch mit den Mensche geteilt hat, sie stehen immer in der Gefahr, sich zu verselbständigen. Die Begriffe „Heimat“ und „Familie“, wie wir sie heute diskutieren, verdeutlichen dies eindringlich. Mit dem Heimatbegriff werden vor Hunger, Armut und Krieg fliehende Menschen wieder in ihre Ursprungslänger zurück gedrängt, weil schließlich dort ihre Heimat sei. Und die Familienkonstellation des 19. Jahrhunderts muss heute in unserer Zeit dafür herhalten, um neuen Formen des Zusammenlebens den Garaus zu machen. Jesus legt die Finger in die Wunde der Menschen. Nichts im Leben ist auf alle Ewigkeit festgefügt. Nicht die Werte stellt Jesus in Frage, aber ihre von Menschen gesetzte Unverrückbarkeit, denn Jesus geht es um das Reich Gottes, um nichts anderes. Alles im Leben ist vorläufig, alles gilt es daraufhin zu prüfen, ob es hilft, dem Reich Gottes näher zu kommen.
Und der Segen, den mir der alte Herr am vergangenen Dienstag geschenkt hat, der hilft. Er hilft mir zu erkennen, was notwendig ist auf dem Weg zum Reich Gottes und wovon ich mich verabschieden kann und auch verabschieden muss, wenn ich offen bleiben möchte für das Reich Gottes.
Christoph Simonsen Predigt am 26. Juni
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