Nachdenken über Selbstverständliches, was nicht mehr selbstverständlich ist
Diese beiden Texte bedürfen wohl keiner Deutung. Sie sprechen so Selbstverständliches aus, so dass darüber nachzudenken eigentlich unsinnig vertane Zeit ist. Gastfreundschaft und ein bescheidenes Auftreten sind einfach bestechend überzeugende menschliche Tugenden. Noch mehr: es sind Lebenseinstellungen.
Ein bescheidener gastfreundlicher Mensch bekundet eine ursprüngliche Sympathie zum Menschen, eine Neugierde für den Menschen, eine herzhafte Offenheit, im Gegenüber einen Lehrer, eine Lehrerin für das Leben zu finden. Bescheidene, gastfreundliche Menschen haben nicht die Schere im Kopf, die teilt in Menschen, von denen sie was haben und den anderen, die ihnen nichts bringen. Sie haben eine unbändige Begabung, im anderen immer zuerst eine Bereicherung zu sehen; sie freuen sich am Gegenüber und vermögen es, den Menschen immer noch etwas Gutes abzugewinnen, wo andere sie schon längst abgeschrieben haben.
Bescheidene, gastfreundliche Menschen zeichnen sich dadurch aus, offentürig, offenherzig zu sein, ohne anderen einen Seelenstriptease aufzudrängen; sie schätzen den Austausch von Lebenserfahrungen mehr als von Faktenwissen. Für sie ist der Spruch „Geben ist seliger denn nehmen“ mehr als eine Binsenweisheit.
Sind wir bescheidene, gastfreundliche Menschen? Lebt in uns die Überzeugung, dass wir nur zu leben vermögen in der und aus der Begegnung mit den anderen? Und zwar mit den tatsächlich anderen? Nicht vorrangig mit den uns Vertrauten, sondern eben mit den ganz anderen, den uns nicht Vertrauten, den uns Fremden.
Ehrlicherweise wäre wohl eine andere Frage angebrachter: Wie könnten wir solche Menschen werden? Denn meistens ist es doch so, dass wir zwar gerne feiern, aber halt doch lieber mit denen wir uns eh gut verstehen? Meistens ist es doch so, dass wir gern geben, aber eben verbunden mit einem gerechten Austausch? Meistens ist es doch so, dass wir gerne Freundschaft gewähren, jedoch sicherheitshalber nur als Gegenleistung?
Mit wem feiern wir denn unseren Geburtstag oder unsere bestandene Prüfung? Mit wem gehen wir ein Bier trinken und für wen stellen wir uns an den Herd, um ein leckeres Essen vorzubereiten? Wir umgeben uns lieber mit unseresgleichen, dann ist uns ein fröhlicher Abend gewiss.
Nein, die Zeit ist nicht vertan, darüber nachzudenken, was so selbstverständlich scheint: Gastfreundschaft und Bescheidenheit. Unsere Zeit verpflichtet uns geradezu dazu, darüber nachzudenken. Wir treffen damit den Nerv unserer Zeit. Unter seinesgleichen bleiben, Privatsphären sichern, seine Freizeit in closed clubs genießen; „Nur für Mitglieder“ an den Eingang schreiben: Das sind weiß Gott keine himmlischen Perspektiven. Aber es ist die Regel in unserer Gesellschaft, von wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen.
Ich glaube, wir müssen sehr wohl intensiv darüber nachdenken, ob Gastfreundschaft und Bescheidenheit Ausdrucksformen unserer Lebensüberzeugungen sind. Es stehen genug vor unserer Tür, die mit uns feiern, mit uns leben wollen.
Unser Bundesland ist in diesen Tagen 70 Jahre jung geworden. In den Medien sieht man die Ministerpräsidentin mit einem schmucken englischen Prinzen und anderen hochgeschätzten Damen und Herren fröhlich mit einem Glas Sekt in der Hand. Da haben definitiv die Armen, die Lahmen und Blinden, die Benachteiligten und Ausgesonderten gefehlt. Damit das Selbstverständliche wieder selbstverständlich wird, müssen wir wohl noch an uns arbeiten…Predigt am 28. August 2016
Christoph Simonsen