Mut zur Wahrheit

Mit einem epochalen Konzert ist vor wenigen Tagen die Hamburger Elbphilharmonie eröffnet worden. Diesem grandiosen architektonischen Wunderwerk, das hoch erhaben auf einen alten Hafenspeicher aufgesetzt wurde, sollte ein noch grandioserer musikalischer Ohrenschmaus folgen. Von Benjamin Britten bis Beethoven durfte kein Komponist fehlen. Das Eröffnungsprogramm war ein groß gehütetes Geheimnis. Durchgesickert war nur, dass es eine Uraufführung von Wolfgang Rhiem geben sollte, worauf alle am meisten gespannt waren. Der Komponist hat in seinem Werk verschiedene Texte des Dichters Hans Henny Jahnn vertont.
Hier, und deshalb erzähle ich das alles, war es unbedingt vonnöten, nicht nur der Musik zu lauschen, sondern auch auf den Text zu achten. Denn hier, für viele unbemerkt, wurden alle Gäste brachial aus den Sphären verzaubernder Klänge auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Hieß es doch in einer Zeile, dass mit der Musik der Schmutz der Wirklichkeit Einzug halten würde in dieses unbefleckte bauliche Wunderwerk. Der Mensch hinterlasse von nun an zerstörerische Spuren in diesem Gebäude, wenn sich der Stachel des Cellos in die Podiumsplanken bohrten, wenn das Kondenswasser der Posaunen auf den Boden rinnen würde und wenn die verklebten Kaugummis unter den Schuhen der werten Gäste die feingliedrigen Stufen der Treppen beschmutzten. Man sagt: Im Verlauf einer der Generalproben wäre eine Flasche mit Granatapfelschorle umgefallen  und hätte einen roten Fleck auf dem Boden hinterlassen, der nicht mehr ganz entfernt werden konnte. Dieser Fleck wird in die Geschichte eingehen als der erste Fleck im unbefleckten Gebäude der Elbphilharmonie.
Wolfgang Riehm hat es geschafft, eine ziemlich nüchterne Wahrheit in ein traumhaft schönes musikalisches Meisterwerk zu verpacken. Überall da, wo der Mensch hinkommt, da hinterlässt er Spuren. Mag etwas auch noch so perfekt und vollkommen sein, wir Menschen sind dem Schicksal unterworfen, allem Heilen, allem Ganzen und Vollkommenen allein dadurch, dass wir da sind, Narben, Risse, Verunreinigungen zuzufügen. Weil wir als Menschen unvollkommene Geschöpfe sind, ist alles, was um uns herum geschaffen ist, der gleichen Unvollkommenheit ausgesetzt.
Am vergangenen Sonntag hörten wir von der Sünde der Welt und von der Geistlosigkeit, mit der wir Menschen dieser Sünde immer wieder neu Vorschub leisten. Und wir hörten davon, mit welch schlichten Mitteln und Wegen wir oft neuen Geist, Gottes Geist in die Welt hineintragen können. Aber alle Mühe und aller guter Vorsatz können nicht verbergen, dass die Welt als Ganzes kaputt ist und schmutzig. Das ist die Tragik des Lebens: Wer immer sich an der Welt und am Leben erfreuen möchte, der muss zugleich der Wirklichkeit ins Auge schauen, dass diese Welt ein – ich meine dies im übertragenen Sinn- Drecksloch ist. Denn wir Menschen sind konstitutionelle Zerstörer sowohl dessen, was uns geschenkt wurde, als auch dessen, was wir selbst geschaffen haben.
Das klingt ernüchternd, frustrierend. Das soll es aber keinesfalls sein. Idealen hinterher hinken kann nur, wer auch welche hat. Deshalb tut es not, sich seiner Lebenswerte immer wieder neu zu vergewissern. Auch wenn wir immer hinter ihnen herlaufen werden, auch wenn wir ihnen nie gerecht werden: Ohne Werte und Ideale würden wir im Morast der Unmenschlichkeit gänzlich versinken. Ist es verwunderlich, dass in diesen Tagen ein sich selbst als Atheist bezeichnender Politiker wie Gregor Gysi auf die Dringlichkeit von Glaube und Religion verweist, ohne die Politik und Gesellschaft hilflos umherirren würden?
Ich darf noch einmal auf Wolfgang Riehm zurückkommen, den Komponisten der Hamburger Uraufführung. Er hat eine nüchterne Wahrheit in eine grandiose Musik gepackt. Ich bin mir allerdings sicher, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer mehr auf die Klänge der Musik geachtet haben als auf den dahinter liegenden Text. Das sei ihnen an diesem außerordentlichen Abend sicher auch vergönnt gewesen. Aber im alltäglichen Leben tut’s das nicht. Wichtige Botschaften sollten nicht versteckt werden, so nach dem Motto, man habe sie benannt, aber schön in Watte gepackt, auf das sie nicht so bitter wirke. Es braucht einen offenen Dialog, manchmal auch ein klares und klärendes Wort. Und eben das hören wir in der heutigen Lesung von Paulus. Er schreibt seiner Gemeinde in Korinth, wohlwissend, dass dort gerade mal wieder Streit und Kompetenzgerangel herrscht. Es ist, wie es ist: auch in einer christlichen Gemeinschaft geht es nicht anders zu als in der Welt insgesamt. Auch da geht es um Rechthaberei, Selbstbeweihräucherung und Machtgelüste. Paulus nennt all das beim Namen, verschweigt nicht den Streit. Zugleich aber erinnert er an das Ideal, dem sich die Christinnen und Christen verschrieben hätten: Jesus Christus, der die Menschen zu einen gesinnt war; der die Menschen in aller Unterschiedenheit geliebt und geachtet hat; der eine frohe Botschaft verkündet und gelebt hat, die Gräben zu überwinden und Differenzen auszuhalten vermochte in Achtung und Respekt vor der Einmaligkeit eines jeden Lebensentwurfes.
Ein Ideal unseres Glaubens ist die communio, die Gemeinschaft, in der Frieden und Eintracht herrscht und in der jeder und jedem mit Respekt begegnet wird; wo jedem Menschen die Chance gegeben wird, der zu werden, der er im Herzen Gottes ist, auch dann, wenn sein Lebensentwurf ein anderer ist als der seines Nachbarn. Wir alle wissen, dass dieses Ideal ein Traumgebilde ist, unerreichbar und weltfremd. Es aber deshalb aufgeben? Nein. Anstatt die Ideale über Bord zu werfen ist der glaubwürdigere und der nachhaltigere Weg, jedes kleine Mühen wahrzunehmen, wo Menschen diesem Ideal eine Chance geben, und dies in aller Unvollkommenheit. Die Elbphilharmonie, so traumhaft schön sie heute ist, sie wird immer wieder renovierungsbedürftig sein, aber die Musik, die dort ertönt, sie wird auch in 100 Jahren die Menschen verzaubern und betören. Dafür lohnt sich jede Mühe, sie immer wieder zu renovieren…Predigt am 22. Januar
Christoph Simonsen