Mut-Mensch statt Wut-Mensch

Eine Person darf im Advent nicht fehlen: Johannes der Täufer, der Fingerzeig Gottes, der Wegbereiter der Menschwerdung. Jesus fühlte sich wohl der Jüngergemeinschaft des Johannes zugehörig. Und in dieser Gemeinschaft wurde ihm wohl auch bewusst, wie groß die Sehnsucht der Menschen ist, die Sehnsucht nach Sinn, nach einem Ziel. Die Menschen, die zu Johannes kamen, waren von einer inneren Unruhe getrieben, von einer nagenden Unzufriedenheit. Wie sonst wäre zu verstehen, dass der Ruf nach Umkehr sie so angezogen hat.
Worin bestand diese Unruhe? Warum war da diese Unzufriedenheit in den Menschen? Wenn ich das Wort „Umkehr“ höre, dann denke ich an schwere Sünden, die ein Mensch bereut oder an nicht wieder gut zu machende Verfehlungen, die die Seele eines Menschen auffressen.
Waren das jetzt alles Schwerverbrecher, die da den Weg in die Wüste zu Johannes angetreten sind? So Typen, die sich ihre Verbrechen als Erfolgserlebnisse in den Arm eingeritzt haben; dann plötzlich so etwas wie ein Bekehrungserlebnis hatten und alle reumütig nach einer Standpauke des Johannes zur Umkehr bereit waren? Und wieso bitte kam dann Jesus zu dieser Räuberbande dazu?
Wohl kaum! Menschen wie ihr und ich haben sich da auf den Weg gemacht, Menschen, die Familie hatten, Freunde, die einer geregelten Arbeit nachgingen. Normalos sozusagen haben sich von dem Ruf nach Umkehr ansprechen lassen? Die unterscheiden sich durch nichts von uns.  Die wussten ebenso wie wir um ihre Schwächen und Fehler.
Aber in einem Punkt haben sie sich dann doch vielleicht von uns unterschieden: Diese Menschen haben sich etwas bewahrt, was uns Heutigen vielleicht abhandengekommen ist. Sie haben sich der Frage gestellt, ob das, was ist, der Weisheit letzter Schluss ist. Ob das, was ihr Leben ausmacht, sie auch wirklich ausfüllt. Die Menschen, die damals zu Johannes gepilgert sind, sehnten sich nach einer Radikalität, die uns heute abgeht. Das Wort „radikal“ ist heute mit vielen negativen Konglomeraten verknüpft; Radikalität ist widerspruchslos gleich gesetzt mit Gewalttätigkeit, Verbohrtheit, Extremismus, mit Ausgrenzung und Abschottung. Von Wut-Menschen ist heute ganz oft die Rede; warum eigentlich nicht von Mut-Menschen? Ganz anders bei den Menschen damals. Sie suchten nach einer Radikalität des Ganz-seins, des Mensch-seins. Sie suchten nach einer Radikalität, die sie auf ihre Wurzeln zurückführt. Sie suchten nach dem Ursprung, was Leben Leben sein lässt.
Die Menschen, die damals mit Jesus zu Johannes gepilgert sind, sie signalisieren mir, dass  Umkehr  für alle Menschen eine Lebensbewegung ist, nicht nur für Sünder (obwohl wir natürlich alle auch Sünder sind). Das griechische Wort für Umkehr heißt „metanoia“. Und das bedeutet wörtlich übersetzt: Umdenken. Umkehr ist ein zutiefst rationaler Prozess; Umkehr beginnt im Kopf. Es geht nicht darum, moralisch perfekter sein zu sollen als zuvor; es geht nicht um eine Leistung des Gut-seins. Es geht um Mensch-werdung. Es geht darum, sich bewusst zu werden, was Mensch-sein bedeutet.
Dies alles beginnt damit, dass Menschen aus der Anonymität heraustreten. Sie machen sich auf den Weg und solidarisieren sich. Der Weg zur Menschlichkeit beginnt mit der Bereitschaft zur Veränderung des Ist-Zustandes und dem inneren Willen zur Vergemeinschaftung. Mensch-werdung, Mensch-sein schließt unweigerlich Wertschätzung und Gleichwertigkeit ein. Und dies alles ist, wie gesagt, keine sentimentale „gut-sein-wollen-Gesinnung“, es ist die Besinnung auf das Eigentliche, auf das Wesentliche, auf das Essentielle. Ohne dieses Heraustreten des Menschen aus dem Gewohnten gibt es keine Taufe, und auch keine Mensch-werdung.
Wir, die wir diesen Advent 2016 feiern, wir müssen uns fragen, ob wir Mensch werden wollen. Das würde die Fragen nach sich ziehen, wo heraus wir treten wollen, mit wem wir uns verbünden wollen und wem wir entgegen gehen wollen...Predigt am 04. Dezember
Christoph Simonsen