Kaputte Jeans und feiner Zwirn
Gar nicht so einfach, ein paar passende Jeans zu finden. Also, nicht dass es keine Auswahl gegeben hätte in dem Geschäft, in dem ich war. Die Wandregale waren voll mit Jeans. Und es lag auch nicht nur an meiner ungewöhnlichen Größe. Ich fischte wahllos ein paar aus dem Regal. Mist, die waren alle kaputt. Löcher am Oberschenkel, am Knie, eingerissen an der Wade. Klar, ich brauch ja nur durch die Stadt zu laufen, selbst jetzt, wo es so knacke kalt ist; wer was auf sich hält, läuft mit zerrissenen Jeans rum. Aber ich glaub, dafür bin ich zu alt, und vielleicht auch zu normal. Außerdem wäre mir Frostbeule das viel zu kalt. Aber irgendwie verrückt ist es schon: Da geben Leute viel Geld aus und kaufen sich eine kaputte Jeans. Das ist „in“ heute, so in, dass man fast schon auffällt, wenn man eine Jeans trägt, die keine Löcher aufweist. Tragen die Menschen kaputte Jeans, weil das modern ist, weil „man“ das so trägt heute? Und wenn morgen wieder die Hosen mit dem weiten Schlag modern wären, wie lange würde es dauern, bis alle dann wieder mit diesen weiten Beinkleidern rumlaufen würden? Ursprünglich war das, glaub ich zumindest, mal anders gedacht. Nicht um besonders zeitgemäß aufzutreten trug man anfänglich die löchrigen Jeans, sondern um sich abzusetzen von dem allzu biederen feinen Zwirn der anderen. Der Ästhetik des Schönen setzte man die Ästhetik des Zerrissenen, Kaputten, Verschlissenen entgegen. So solidarisierte man sich mit den Vergessenen und Abgesonderten in einer auf Prestige angelegten Gesellschaft.
Aber wie man sieht, ändern sich die Intentionen schneller als man gucken kann. Was gestern Ausdruck von Protest war ist heute zeitgemäße Moderne. Vielleicht zähle ich heute sogar schon wieder zu den Unangepassten, weil ich Wert darauf lege, eine Jeans ohne Löcher zu tragen.
„Der Aussätzige, der von diesem Übel betroffen ist, soll eingerissene Kleider tragen“, so war die Vorschrift bis in die Zeiten Jesu hinein; wir hörten es eben in der Lesung. Kleider machen nicht nur Leute; Kleidung verbinden und trennen auch Menschen voneinander. Als ich letztens auf dem Campus Melaten auf einer Richtfestfeier war, da ist mir eines aufgefallen: Alle, also, fast alle alle hatten einen gediegenen Anzug an, eine leicht farbige Krawatte, zumeist etwas rötlich und braune Lederschuhe. Mein Nachbar bei der Feier stupste mich an und flüsterte mir zu: „Guck mal, die waren alle beim gleichen Herrenschneider“. Das ist das gleiche wie mit den zerrissenen Jeans, nur edler halt. Ich hatte Jeans an und eine Strickjacke. Und ich fiel auf. Peinlich! Oder?
Wie fühlen wir uns, wenn wir äußerlich so aussehen, dass wir überall auffallen? Wenn die zerrissenen Jeans ebenso wie der feine Anzug absolut aus dem Rahmen fallen; wenn alle mit dem Finger auf uns zeigen: ‚Guck mal, wie sieht der denn aus‘. Eine Studierende, die sich um eine neue Stelle bewirbt, muss doch Angst darum haben, beim Bewerbungsgespräch gleich ausgesondert zu werden, wenn sie da mit einer zerrissenen Jeans beim Personalchef aufläuft. Und der Freund, der auf der Fete mit Smoking und Fliege antanzt, wird unweigerlich krumm angeschaut?
Nun ist uns allen sicher auch klar: Alles verhaften bei Äußerlichkeiten wird dem Ernst dieser heutigen Texte nicht gerecht. Es geht nicht um das Äußere, es geht darum, dass Menschen wegen einer sehr ernsten Erkrankung ausgesondert werden, weggesperrt werden. Die Gesunden haben Angst vor den Kranken. Man kann vielleicht sogar noch Verständnis dafür aufbringen angesichts der damaligen unsicheren Kenntnisse über diese bedrohliche Erkrankung. Aber das macht es nicht menschlicher für die, die ausgesondert wurden damals.
Deshalb vielleicht für uns heute eine erste Konsequenz aus dem Gehörten: Jede und jeder mag sich anziehen wie sie und er es mögen; alle dürfen sich wohlfühlen in ihrer Kleidung. Und doch: Wir sollten uns vielleicht dessen erinnern, dass Menschen in zerrissener Kleidung andernorts und in anderen Lebensumständen sich dessen schämen, wie sie herumlaufen. Und wir sollten, wenn wir im feinen Anzug irgendwo hingehen, nicht automatisch davon ausgehen, dass wir was Besseres sind als die anderen. Kleidung ist eben mehr als eine Modeerscheinung. Im Ernstfall kann sie auch über das Schicksal eines Menschen entscheiden.
Und noch ein Zweites: Jesus sagt zu dem Geheilten, er solle sich den Priestern zeigen, denen also, die ihn zuvor ausgesondert und gebrandmarkt haben. Er soll sich denen, die aus einer vorgegebenen Autorität handeln und entscheiden, so zeigen wie er ist. Das ist Ausdruck eines gesunden und gereiften Lebens, sich unentstellt zu zeigen, wie man ist. Dann auch selbstbewusst und ungeschönt. Wie immer wir einander zeigen, wenn wir nicht mehr uns selbst zeigen, sondern nur unsere Fassade, dann sind wir krank.
Christoph Simonsen Predigt am 11.Febr. 2018