Immer schon, und erst recht: heute

Was Jalil immer schon war, auch vor dem heutigen Tag seiner Taufe, das wird heute in dieser kleinen und unspektakulären Feier in besonderer Weise sichtbar: Jalil ist ein Kind Gottes und Gott ist Jalil Freund, Vater und Mutter. Das ist er heute und das war er in der Vergangenheit, damals schon, als Jalil in seiner ursprünglichen Heimat Afghanistan gelebt hat; das war er während seiner ungewissen Reise hierher nach Deutschland. Und Jalil wusste immer um diese göttliche Freundschaft oder zumindest ahnte er sie, denn wenn ein Leben in solch ungewissen Zeiten Kraft und Energie findet, all das zu überstehen, was das Leben so schwer und so unsicher macht – dann muss diese Kraft irgendwo herkommen; aus sich allein heraus vermag kein Mensch das zu tragen und zu ertragen, was das Leben einem beschert. So liegt es nahe, dass Jalil auf die Suche gegangen ist, wer und was ihn getragen hat. Und er hat den gefunden, der immer schon da war: den göttlichen Freund.

Gott macht seine Freundschaft zu uns Menschen nicht abhängig von weltlichen Zeichen und Symbolen. Allerdings helfen uns Menschen solche sichtbaren und spürbaren Ausdrucksformen, weil sie etwas menschlich verdeutlichen, was eigentlich kein Mensch verstehen kann: Die Freundschaft Gottes, die uns Menschen ohne Vorbedingung, vorbehaltlos, ungebrochen seit jeher und für immer geschenkt ist. Zwischen uns Menschen ist eine Freundschaft oft brüchig und abhängig von äußeren Bedingungen; Freundschaften, die einmal mit ganzer Leidenschaft geschlossen wurden, zerbrechen oft an Kleinigkeiten, wer von uns wüsste das nicht aus eigenen Erfahrungen. Und auch diese Erfahrung ist Jalil sicher bekannt. Um so schöner heute die Erfahrung, dass Jalil hier für sich eine neue Familie gefunden hat, die ihm freundschaftlich verbunden ist, die zu ihm steht, die ihm Heimat schenkt und Liebe und die ihn heute hierher begleitet. Heute ist für Jalil ein fröhlicher Tag, für Jalil und auch für uns alle, denn wir dürfen eine Freundschaft feiern, die unabhängig ist von politischen Systemen, unabhängig von Kulturen und Lebensgeschichten; eine Freundschaft, die reicht vom Anfang der Erde bis zu ihrem Ende, von südlichsten Zipfel der Welt bis zum Nordpol; eine Freundschaft, die unabhängig ist von allem, was in der Welt geschieht und die doch ganz greifbar, erfahrbar, spürbar ist in unserer konkreten Weltengeschichte.

Von einer anderen konkreten Weltengeschichte geht das heutige Evangelium aus. Das Volk Jesu lebte in einem besetzten Land. Anders als für uns, unterscheidet sich die Erfahrung des Volkes Jesu gar nicht so sehr von den Erfahrungen, die Jalil in seinem Leben bisher machen musste; auch er lebte in einem besetzten Land. Aber schauen wir zunächst auf die Welt zur Zeit Jesu: Der Kaiser von Rom trieb die Steuern ein. Er tat dies als gottgleicher Herrscher. Die Menschen wurden ausgebeutet, missbraucht für das Wohlergehen und die Kriegslust des römischen Herrschers. Eben das Volk, das sich ungefähr 1200 Jahre zuvor aus der Sklaverei des Pharaos befreien konnte, fand sich wieder einmal in einer – wenn auch – anderen Form der Gefangenschaft. In der Rocktasche trug man die Münzen, die das Antlitz des römischen Kaisers zeigten und tagtäglich wurde man so an diese Abhängigkeit erinnert. Nicht nur, dass die Besatzer durch die Präsenz der Soldaten und des Rechtssystems in Israel schalten und walten konnten, wie sie wollten; noch unerträglicher war, dass die Macht des römischen Herrschers die innere Würde und Freiheit der Menschen zerstörte. Denn die Steuern, die die Menschen bezahlen mussten, dienten einzig dem Wohlstand der Besatzer und demütigten all die, die sie zahlen mussten. Sicher ist nicht alles eins zu eins übertragbar, aber aus einem auch besetzten Land – Afghanistan – ist Jalil geflohen, weil das Leben dort so sehr vom Tod bedroht ist, dass dort zu leben in Freundschaft und Offenheit unmöglich wurde.

In die damalige Situation hinein sagte Jesus: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und gebt Gott, was Gott gehört.“ Wenn das nur so einfach wäre. Was, wenn der Kaiser für sich in Anspruch nimmt, im Namen Gottes zu sprechen und zu handeln? Was, wenn er sich auf die Stufe Gottes stellt? Was, wenn Menschen Kaiser und Gott gar nicht mehr auseinanderhalten können oder wollen? So wie damals gibt es auch heute solche Orte, wo eben dies eine große Tragik für viele Menschen ist, dass Menschen sich an die Stelle Gottes setzen.

An kaum einer anderen Stelle der Heiligen Schrift wird so klar und deutlich, warum Jesus den Staatstragenden ein Dorn im Auge war, als in dieser Perikope. Sie wollten Jesus beseitigen, weil er „immer die Wahrheit sagt“. Jesus war unabhängig; er ließ sich weder beeinflussen von der Besatzungsmacht Roms noch von den Glaubenshütern des Hohen Rates. Jesu Anspruch war es, Freund der Menschen zu sein im Namen und im Auftrag Gottes, ohne – und das ist jetzt wichtig – ohne sich auf die Stufe Gottes zu stellen, ganz als Mensch. Seine Wahrheit war, dass kein Mensch der Anbetung würdig ist, sondern einzig Gott allein.

Deshalb wundert es nicht, dass er Kritik gegenüber allem und allen übte, die unrechtmäßig Einfluss zu nehmen versuchten auf die Seele des Menschen, gleich, ob Staat, Religionsgemeinschaft oder einzelne Menschen. Einzig der, der nicht besitzen und beherrschen, sondern stärken und begleiten will, darf in das Innerste des Menschen vordringen, und das ist Gott: So sagt es Jesus unmissverständlich. Dank Gottes Freundschaft vermag jede und jeder sie und er selbst werden und von einer Wahrheit sprechen, die sie selbst erfahren und erkannt haben. Allein diese Wahrheit macht Menschen groß und unabhängig und frei – frei von jeder Art äußerer Beeinflussung.

Diese Gewissheit hat auch Jalil stark gemacht und selbstbewusst, so dass er den Weg antreten konnte in eine freie Gesellschaft, in der dem Kaiser dass gegeben wird, was ihm zusteht und Gott, was Gott zusteht. Wer wollte eine Gemeinschaft stärken, die einen frisst, die einen der eigenen Persönlichkeit beraubt. Das wäre krank und machte krank. Eine Gemeinschaft, die jedem Lebensraum garantiert, die einen wachsen und werden lässt, die einen sein lässt, wie man ist: eine solche Gemeinschaft zu unterstützen und zu stärken, zeugt von Verantwortung, der Allgemeinheit wie auch sich selbst gegenüber. Ohne eine wohlmeinende Gemeinschaft vermag kein Mensch zu wachsen; sie schenkt den Raum, in dem keiner verloren geht. Wir alle füreinander dürfen eine solche Gemeinschaft sein, und dort mittendrin Jalil. Das sind wir unserem Gott schuldig.

Christoph Simonsen