„Hast du heute Zeit für mich…“

Wir dürfen heute eintauchen in das große Gebet Jesu, mit dem er Abschied nimmt von dieser Welt. Er nimmt Abschied, indem er sich erinnert und noch einmal bedenkt, was ihm in seinem Leben wichtig gewesen ist, woraus er gelebt hat und was seinem Leben Sinn gegeben hat. Er sucht das, was Anfang und Ende seines Lebens miteinander verbindet. Er vergewissert sich, dass der rote Faden in seinem Leben seine unerschütterliche Verbundenheit mit seinem Vater gewesen ist. Weil er sich dieser Freundschaft gewiss war, fühlte er sich frei zu tun, was ihm wichtig war, nämlich den Menschen Leben zu schenken, genauer: ewiges Leben. Ein Leben also, dem eine unerschütterliche Zukunft geschenkt ist.  Denn das ist doch ewiges Leben: Leben, das sich einer geschenkten Zukunft erfreuen darf.
Alles Zugehen Jesu auf die Menschen hatte einen Sinn: ihnen vertrauensvoll zu sagen, dass sie sich anvertrauen dürfen, Gott anvertrauen dürfen und in diesem Vertrauen leben dürfen ins Ungewisse hinein. Ohne zu wissen, wie das Morgen werden wird, vertrauen darauf, dass es ein Morgen geben wird: Das ist wohl das, was Jesus die Erfahrung ewigen Lebens nennt.
Vielleicht begebe ich mich jetzt auf dünnes Eis, theologisch betrachtet. Vielleicht grummeln gleich einige von euch, das ist doch nicht mehr die katholische Überzeugung, so wie wir sie früher im Religionsunterricht gelernt haben. Vielleicht fühlen sich einige sogar um die Zukunft betrogen, die ihnen der christliche Glaube doch verheißt. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass Jesus, wenn er von dem ewigen Leben spricht, nicht ein „Leben danach“ meint, ein Leben nach der Zeit, ein Leben nach dem Tod. Die Dimensionen der Welt: Zeit und Raum spielen in der Wirklichkeit Gottes keine Rolle. Zeitlichkeit und Ewigkeit sind nicht aufeinanderfolgende Wirklichkeiten: erst das eine, dann das andere. Ewigkeit ist die Wirklichkeit Gottes, die zeitlos in unsere Wirklichkeit von Zeit und Raum hineinreicht ohne von ihr begrenzt zu werden.
Jesus lebt es uns vor. Er hat eigentlich nichts anderes getan, als  Zeit seines Lebens zu verschenken; er hat sie den Menschen geschenkt. Nicht der Welt, so wie wir eben gehört haben. Die Welt ist, banal gesprochen, ein Luft-Gas-Gemisch, ein Klumpen Stein, der durchs Universum rast, ein physikalisches Etwas, ohne Herz und Verstand. Verschwenderisch hat Jesus den Menschen seine Lebenszeit geschenkt. Er musste nichts für sich  behalten, weil er wusste, dass nichts verloren geht von dem, was er verschenkt. Wer Zeit schenkt, lebt in der Ewigkeit. Oder anders: Wer Zeit schenkt, lebt Ewigkeit.

„Mein“ und „Dein“ lösen sich auf; und damit ist nicht vorrangig irgendein haptischer Besitz gemeint: „Mein Auto, dein Haus“, sondern noch viel essentieller: „Meine Zeit, dein Leben“. Wenn wir heute erkennen, alle Zeit der Welt zu haben füreinander; wenn wir erkennen, dass wir heute Zeit haben einander zu bereichern allein dadurch, dass wir begegnen: austauschen, lachen, weinen, tanzen, schlafen – zweckfrei, ergebnisoffen, womöglich sogar ziellos, dann greift die Ewigkeit in die Zeit und Zeit wird zur Ewigkeit.
Was das für uns wohl bedeutet heute, dass Gott das Ganze, alles, die Ewigkeit, hineingelegt hat in uns, in das Fragmentarische des zeitlich begrenzten Lebens? Jesus ist in seiner Abschiedsrede wenig konkret. Seine Worte sind  grundsätzlicher Natur. In einem ist er allerdings unmissverständlich. Er-leb-bar ist Ewigkeit nur im Kontext des Ganzen, in der Verbundenheit aller. Welt ist fragmentarisch, brüchig, endlich, das erweist sich immer wieder in der Erfahrung der Vergänglichkeit, auch der Vergeblichkeit. Das Leben aber, das Gott in die Welt gehaucht hat, dem Menschen, allem Lebendigen, was atmen kann: Das Leben trägt Ewigkeit in sich. In dieser Weisheit Jesu zeigt sich die Verpflichtung, die er uns hinterlassen möchte in seinem Testament. Wo Leben nicht mehr verbunden ist, wo Zeit nicht mehr geschenkt wird, da ist der Tod nicht erst am Ende der irdischen Existenz, da ist der Tod mitten im Leben.
An uns ist es also, immer wieder zu ergründen, ob wir noch verbunden sind, ob wir einander das schenken, was nichts kostet und doch unendlich kostbar ist: Zeit. Ein ganz harmloser und einfacher Anfang wäre es, aufeinander zuzugehen und zu sagen: „Ich habe Zeit- für dich“. Aber so einfach ist das womöglich gar nicht, denn wer hat heutzutage schon Zeit?…Predigt am 28. Mai
Christoph Simonsen

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