„Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da“
Jede und jeder von uns hat wohl so etwas, was man gemeinhin einen persönlichen Lebensrhythmus nennt. Der eine ist eher der Morgenmuffel und drückt frühestens um 11.00 Uhr die innere Powertaste, die andere versprüht in der Frühe so viel Energie, dass dem anderen angst und bange wird. Aber wie immer wir gestrickt sein mögen und selbst wenn wir die Nacht zum Tag gemacht haben, irgendwann ist auch die tollste Fete mal zu Ende und es kommt der Zeitpunkt, wo man sich fallen lassen möchte –und zwar nicht nur ins Bett, vielmehr auch in eine innere Abständigkeit von allem, was einen am Tag beschäftigt hat. Für die meisten von uns ist das der Abend, wo Körper und Geist sich darauf freuen, zur Ruhe kommen zu dürfen. Spätestens wenn dieser Augenblick vor dem Einschlafen gekommen ist und man der Partnerin oder dem Partner eine gute Nacht gewünscht hat (wenn man nicht alleine schläft), dann ist man wirklich ganz bei sich und nur noch für sich da. Dann fallen einem die Augen langsam zu, und wenn der Tag gut gelaufen ist, spürt man vielleicht einen Hauch von Dankbarkeit oder auch Wehmut, dass etwas Schönes zu Ende gegangen ist oder – ganz anders – hindert einen eine Unzufriedenheit oder eine gemachte Dummheit, ruhig zu werden. Irgendwann aber überfällt einen auch dann der Schlaf, den wir alle brauchen und der die Hoffnung auf einen neuen Tag wachsen lassen kann.
Nun, das ist heute in der Erzählung des Evangeliums ganz anders. Und wieder einmal wird offensichtlich, dass die Botschaft Jesu ziemlich verwirren kann. Den Jüngern ist keine Ruhe vergönnt und die ersehnte Bettruhe fällt aus. Entgegen aller Erfahrung fordert Jesus sie auf, noch mal aufs Meer hinaus zu rudern, neuen Ufern entgegen.
Auch unter der Gefahr, dass ihr es langsam einfältig findet, möchte ich heute wieder auf Bilder zurückgreifen, wie in den vergangenen Wochen, aber dieses Mal auf imaginäre Bilder, auf Bilder im Kopf.
Da ist zunächst das schon angesprochene Bild der Abendstimmung. Ja, es ist so: Ich freue mich für jede Nacht, in der ich gelassen schlafen kann, den vergangenen Tag zurücklassend und den Kommenden erwartend. Gewiss geht es euch ähnlich. Aber so ist es halt nicht immer. Wer kennt nicht die schlaflosen Nächte, die entsetzlich lange sein können, in denen man sich schweißgebadet herumwälzt und einem tausend Gedanken durch den Kopf gehen; Lebensperspektiven geraten ins Wanken, Freundschaften werden zu einer bedrängenden Frage, ursächliche Sinnfragen bringen einen in Rage – und das alles, obwohl der Schlaf so sehr Not tut.
Jesus mutet das seinen Freundinnen und Freunden zu; er überfällt uns mit seiner Erwartung, dass wir uns am Abend doch noch einmal aufmachen sollen, um dem Leben einen tragfähigen Sinn abzuringen. Vielleicht sind diese nervenden schlaflosen Nächte ja gar nicht so sinnlos, wie wir meinen. Vielleicht bergen sie ja auch die Chance in sich, Lebensenergie, Lebensmut, Lebenssinn einzufangen und einen unerwarteten Fang zu machen, der mein Leben sättigt.
Das zweite Bild ist nicht weniger verwirrend: Die Jünger sollen sich in der Nacht aufs Meer begeben. Seit Menschengedenken steht das Bild des Meeres in den Kulturen für eine chaotische, nicht kontrollierbare Welt. Wir wollen alles immer im Griff haben, den Überblick behalten und das Leben kontrollieren. Die vielen Diskussionen in unserer Gesellschaft, die uns einreden wollen, das Leben sei unsicherer geworden, weil die globale Welt alles mit allem verknüpft, sie suggerieren uns, dass Leben früher sicherer war und wir wieder dahin zurückkommen müssten. Aber das ist doch Unsinn, im wahrsten Sinn des Wortes: Es ist das Gegenteil von Sinn. Sinn macht es, sich dem Leben zu stellen und das Unerwartete als eine Herausforderung anzusehen. Was nutzte es, wenn wir allein ans andere – rettende Ufer kämen? Wir blieben allein. Im Letzten kann ich das Leben nur bewältigen, wenn ich in der jeweiligen Situation das Beste daraus mache und nicht krampfhaft versuche, die Gegenwart auszuradieren. Wenn ich neue Ufer erreichen möchte, dann darf ich nicht stehenbleiben.
Ja, ich muss mich auf den Weg machen. Das Bild des Weges kommt in unserer heutigen Geschichte auch vor. Keiner von uns ist schon angekommen; das andere Ufer ist noch nicht erreicht. Aber es gibt ein Ziel; es gibt eine Hoffnung, dass wir nicht ziellos umherirren müssen. Und ist es da nicht plausibel, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Sich mit Weggefährt*innen auf den Weg zu machen ist doch allemal heilsamer, als alleine loszuziehen. Und auf dem Weg Fremde zu Freunden werden zu lassen allemal schöner als sich zu bekriegen.
Das alles ist nicht illusorisch, nicht weltfremd. Illusorisch wäre es, sich in Traumwelten zu verwickeln. Lieber eine schlaflose Nacht, in der ich mir der Mühe des Lebens bewusst werde und mir meines Auftrages bewusster werde, wie ich mein Leben anpacken möchte, als eine verschlafene Nacht, in der ich vergesse, dass Gott mir eine Aufgabe übertragen hat, mich auf den Weg zu machen zu neuen Ufern.
Christoph Simonsen