Das Leben zu feiern vermögen
Die Zeitangabe stimmt mich nachdenklich: „An jenem Tag“. Der Prophet Jesaja verheißt den Menschen ein Fest, das die ganze Welt ergreifen soll, und Gott selbst soll der Gastgeber sein; an diesem Tag sollen alle Grenzen aufgehoben sein und alles Leben heil und fröhlich, befreit soll das Leben sein von Tränen und Schmerzen, befreit auch von Schande und Schuld; ein Tag, an dem selbst der Tod seine Macht verliert. Schlicht: Jesaja stimmt den Menschen auf ein paradiesisches Leben ein. Aber mal ehrlich, da hat Jesaja doch wohl selbst nicht dran geglaubt – und wir schon mal gar nicht. Heute wird wieder gewählt, in Niedersachsen, in Österreich; und was ist allen gemein: Die Politiker hauen drauf auf die Schwächsten.
Utopien sind das Gegenteil von Realität und wer sich in unseren Lebenskontexten der Wirklichkeit entzieht oder sich ihrer entfremdet, kann nur eines sein: verrückt. Was sagte schon der weise Helmut Schmidt: Wer Utopien hat, solle zum Arzt gehen. Aber wer legt eigentlich fest, was real und wirklich ist?
Der Therapeut? Die Allgemeinheit? Der Gesetzgeber? Wer kann unmissverständlich und allgemeingültig sagen, was wirklich ist. Ist nicht ein Traum auch wirklich, auch wenn er nicht zu fassen ist?
In der vergangenen Woche jährte sich zum sechsten Mal der Todestag von Steve Jobs; mit 56 Jahren ist er im Oktober 2011 gestorben. Der Mann, der einem angebissenen Apfel zu Weltruhm verholfen hat. Aus einer Utopie hat er eine Philosophie geformt. Er hat dem Computer, der bis dahin nur als hilfreiche und sicher auch notwendige Kommunikations- und Informationsstütze wahrgenommen wurde, nicht nur eine neue Ästhetik gegeben, sondern darüber hinaus ganz neue Kommunikationsstrukturen geschaffen. Man mag über Sinn und Nutzen im Einzelfall streiten, aber wer könnte sich heute vorstellen, ohne einen Apple oder ein Samsung oder sonst ein anderes Kommunikationselement zu leben? Selbst meine 92jährige Mutter kommuniziert mit uns über WhatsApp oder Facebook.
In einem Nachruf über Steve Jobs hieß es damals: „Technik und Kunst verschmolzen zum persönlichen Gebrauchsgegenstand, der das Leben von Grund auf neu entwarf, statt sich ihm bloß einzufügen.“
Und noch ein Todestag jährte sich in der vergangenen Woche: Vor 25 Jahren ist Willi Brandt gestorben. Bis heute unvergessen sein Kniefall in Warschau und damit der Beginn einer tragfähigen Freundschaft zwischen Polen und Deutschland, die so stabil ist, dass sie die die heutigen Spannungen zwischen den Ländern auszuhalten vermag. Unvergessen auch sein Wort, das bis heute Mahnung und Aufruf ist: „Mehr Demokratie wagen“. Da, wo Menschen einander besser verstehen, da kommt, um das utopische Bild wieder zu benutzen, das Paradies näher.
Beiden gelang das unbestritten nur sehr begrenzt; weder Steve Jobs noch Willi Brandt haben aus dieser Erde das Paradies formen können. Aber dank ihrer Zuversicht, dank ihres Mutes zu träumen, haben sie Menschen ihrer Zeit gezeigt, dass es sich lohnt, und das es möglich ist, die Welt in ihrer Globalität zusammenzuhalten und die Menschen einander näher zu bringen. Dass all das, was Menschen schaffen, auch gegenteiliges bewirken kann von dem, was sie an Gutem beabsichtigen, ist ein Los alles Weltlichen. Aber sollte uns das hindern, unseren Ideen und Träumen keine Chance auf Verwirklichung zu geben? Menschen ohne Träume sind wie Bäume ohne Blätter.
Was ist wirklich? Man kann an der Wirklichkeit zerbrechen, weil sie zu schwer auf einem lastet, oder weil man zu schwach ist, sie zu ertragen; man kann aber auch zerbrechen, wenn man Wirklichkeit reduziert auf das Messbare im Leben und das Unfassbare, das Geheimnisvolle, das Sehnsüchtige in einem nicht ernst nimmt. Leben bleibt bruchstückhaft und wir Menschen selbst verursachen Brüche und tragen auch Verantwortung dafür, aber das sollte keinen abhalten davon, den Träumen seines Lebens zu vertrauen und aus ihnen Kraft zu schöpfen.
Wo diese Offenheit verkümmert, da bleibt dann nur noch Druck: innerer und äußerer Druck, zu machen und zu tun, zu ackern und zu hantieren. So, wie eben die Menschen im Gleichnis, das Jesus erzählt. Sie können nicht daran glauben, dass das Leben ein Fest ist, dass es einer um ihrer selbst willen gut mit ihnen meint, dass sie eingeladen sind, das Leben zu feiern. Sie können nicht daran glauben, dass sie wert sind, dass man mit ihnen feiern möchte. Sie selbst messen ihren Wert an Erfolg, an nachweisbaren Ergebnissen aber nicht daran, Wert in sich zu sein und Wert in sich zu tragen. Was ist wirklich? Du bist wirklich und ich bin wirklich und was uns ausmacht, ist wirklich.
2005, bei der Abschlussfeier der Stanford University, sagte Steve Jobs zum Schluss seiner Ansprache: „Fast alles, alle äußerlichen Erwartungen, aller Stolz, alle Furcht vor Blamagen, all diese Dinge verschwinden im Angesicht des Todes und lassen nur das übrig, was wichtig ist. Die Einsicht, sterben zu müssen, ist der beste Weg, den ich kenne, um die Falle zu vermeiden, die der Gedanke stellt, es gäbe etwas zu verlieren…. Ihr habt keinen Grund, nicht eurem Herzen zu folgen.“ Wenn Jesaja an jenen Tag zum Festmahl einlädt, dann meint er vielleicht den Tag, wo wir genau das erkennen: Wert zu sein aus uns selbst heraus. Und wenn wir das erkannt haben, dann ist jeder Tag wert, ein Fest zu feiern und ein Festmahl zu halten, dann ist jeder Tag ein Hoch-Zeits-Tag. Jener Tag ist dann jeder Tag und das Paradies ist keine Utopie sondern Wirklichkeit.
Christoph Simonsen – Hochschulgottesdienst am 15. Okt. 2017