Da hängt einer in der Luft
Da hängt ein Mensch in der Luft, die Arme weit nach oben gestreckt, so als hielte er sich an einer Reckstange fest; nur: Da ist keine Stange, kein Halt. Er hängt in der Luft, den Kopf auf seine Brust gebeugt, die Beine leicht angewinkelt. Eigentlich müsste er im freien Fall aus dem Bild herausfallen, denn nichts und niemand hält ihn. Beim Anblick des Bildes scheint mir, er habe für sich abgeschlossen mit seinem Leben, die ganze Körperhaltung, die Ausdruckslosigkeit seines Gesichtes deuten daraufhin. Aber er fällt nicht. Er fällt nicht; im Gegenteil: mir scheint, irgendetwas, irgendjemand zieht ihn nach oben. Sein Körper ist in schwarzen Bleistiftstrichen gemalt, bleiernschwer wirkt er so. Aber so schwer sein Körper auch sein mag, und so schwer das Leben, eben wie Blei auf ihm zu lasten scheinen mag, er fällt nicht.
Was zunächst so völlig unverständlich ist, das findet eine Antwort im zweiten Blick auf das Bild. Hinter diesem Menschen, dem das Leben so schwer ist, zeigt sich, wie ein Schatten, eine zweite Gestalt, nur in Umrissen, kaum zu sehen, da sie sich ganz der Körperhaltung des anderen anpasst. Die zweite Gestalt schmiegt sich ganz eng an ihn an. Wenn der eine fällt, fällt auch der andere. Aber der andere, dessen Arme ebenso nach oben gestreckt sind, wirkt kraftvoller, lebendiger. Er, der Fremde, scheint einen Halt nach oben zu haben. Er, der Fremde ist es, der verhindert, dass der bleiernschwere Mensch fällt. Er scheint so beherzt und stark zu sein, dass er den Körper des dunklen Menschen mit zu halten vermag. Und das, obwohl er nicht minder schmächtig ist.
Dieses Bild hängt bei mir zuhause im Arbeitszimmer. Und, warum auch immer, es schenkte mir einen Augenblick der Ruhe am vergangenen Dienstag, als ich unbeholfen an meinem Schreibtisch saß und meine Gedanken nicht zu sortieren vermochte. Ich spürte eine gewisse Tröstlichkeit in mir. Wenn ich in der Gefahr stehe zu fallen, so dachte ich mir, dann darf ich hoffen, dass sich jemand an mich schmiegt. Das ist etwas anderes, als wenn sich jemand an mich klammern, mich ins Leben zurückzerren wollte. Das Bild zeigt es ganz offensichtlich: Da ist ein Mensch bereit, mich zu umarmen in einer Situation, in der ich den Lebenshalt verloren habe. Eher würde dieser Mensch mit mir gemeinsam fallen, als dass er mich zu etwas zwingen würde. Diese leichte Umarmung, diese ungefragte und auch nicht hinterfragende Nähe schenkt Halt: nicht aufgenötigt, nicht aufgezwungen, nicht moralisch autoritär. Sie schenkt Halt: verstehend und verständnisvoll, indem sie sich an den anderen bindet und bereit ist, auszuhalten, was nicht aufzuhalten ist.
Wir feiern heute Jesu Einzug in Jerusalem. Im Wissen darum, dass die Welt und die Menschen seiner überdrüssig sind und er bald aus dem Weltbild herausfallen wird; im Wissen um die Begrenztheit, Einfluss nehmen zu können auf das, was ihm widerfahren wird, lässt er los. Er ist bereit zu fallen. Er hängt sich nicht an sein Leben; er lässt los. Mitten im Trubel der Stadt trifft er für sich die Entscheidung, sich fallen zu lassen. Und er vertraut, dass sich jemand an ihn schmiegt, dass jemand da ist, der mit ihm in den tiefsten Abgrund zu fallen bereit ist. Und es ist jemand da: Gott ist da. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt waren auch seine Freunde da und seine Freundinnen. Jesus weiß darum, dass Menschen nicht alles vermögen, dass Menschen an bestimmten Punkten des Lebens an ihre Grenzen stoßen. Er weiß darum und er trägt es liebevoll mit. Er nimmt es mit in seinen großen Fall. Dass sich einer an ihn schmiegt, das genügt.
Dieser Eine hat sich auch zart um das Leben von Rafael gelegt, hat ihn umarmt und er ist mit ihm gefallen in das unfassbar Endgültige, das wir Menschen Tod nennen. Es wird sich bald zeigen, dass das scheinbar Endgültige nichts anderes ist als eine unabdingbare Notwendigkeit, den größten und wunderbarsten Liebesbeweis zu schenken: Das Leben, das den Tod nicht vergessen macht und zugleich doch überwindet…Predigt Palmsonntag, 09. April 2017
Christoph Simonsen