Buen Vivir – Die Vision des „Guten Lebens“
Auslegung
Da macht einer, der mit viel Mühe sich Wissen, Besitz, Erfolg und Macht erworben hat (er nennt sich König in Israel, was aber eine literarische Fiktion ist, um an der Autorität des weisen Salomon anknüpfen zu können) Gedanken darüber, ob seine Nachfahren diese Mühe und Arbeit überhaupt zu schätzen wissen, oder ob sie nur nach Reichtum und Macht gieren. Und auf sich selbst blickend stellt er fest, dass ihm dieser Besitz auch nur Sorge, Ärger und schlaflose Nächte einbringt.
Wahrscheinlich war er, was man aus seinem Namen schließen kann, ein etablierter Philosoph und Lehrer im politisch-religiösen Machtzentrum Jerusalem vor 2300 Jahren. Er ist auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, des Lebens in das er hineingeboren ist und an dessen Ende der alle gleichmachende Tod steht. Er kennt und reflektiert die orientalischen Weisheiten und Philosophien seiner Zeit, aber es befriedigt ihn nicht. Wenn alles eher zufällig ist (im wahrsten Sinne des Wortes), oder wie Kohelet es ausdrücken würde „Windhauch“, was bleibt dann als Sinn und Ziel seines/ unseres Lebens; wenn doch mit dem Tod alles aus ist und nur die Hoffnung darauf bleibt, dass es jenseits des Todes bei Gott (und an dessen Zuneigung zu den Menschen glaubt er), dass es erst jenseits des Todes eine Würdigung der Lebensverdienste gibt und auch eine Gerechtigkeit für erlittenes Unrecht. (So auch sein Zeit- und Glaubensgenosse Hiob).
Während Kohelet in seinem öffentlichen Philosophieren meist fast depressiv daherkommt, ist sein Schluss aus all dem überraschend pragmatisch und lebensbejahend: Lebe jetzt und hier und genieße das, was Du von Gott geschenkt bekommen hast und Dir erarbeitet hast. Oder mit seinen Worten einige Verse später:
Ich hatte erkannt:
3,12 Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn, ein jeder freut sich und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt,
13 wobei zugleich immer, wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennen lernt, das ein Geschenk Gottes ist.
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Drei Jahrhunderte später, Habgier und Streben nach Reichtum und Macht bestimmt immer noch die Gesellschaft, und so wird auch Jesus von seinen Volksgenossen mit der Frage des Besitzes konfrontiert.
Er, der genau wie sein Cousin Johannes als Wanderprediger durch die Gegend zieht ohne persönlichen Besitz und ganz auf die wohlwollende Unterstützung der ihm Begegnenden und ihm wohlgesonnenen Menschen angewiesen ist. Er grenzt sich von dieser Zumutung ab. Statt als Streitschlichter diesen individuellen Fall zu klären, wertet er das dahinter stehende Motiv: „Hütet Euch vor jeder Art von Habgier!“ und ich würde ergänzen Neid, denn das ist der Vorläufer der Habgier.
Und dann wird er noch radikaler: „Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt.“
Spätestens da sind auch wir Bewohner der westlichen Industrienationen angesprochen mit unserem relativen Reichtum und unserem materiellen Überfluss und individualistischen Denken. Unsere Brüder und Schwestern in den Armenhäusern dieser Welt könnten von uns fordern diesen Reichtum, das gemeinsame Welt-Erbe zu teilen, denn letztlich ist ja nicht unser Verdienst, dass es uns überwiegend mehr als materiell gut geht.
Jesus spricht hier vom materiellen Überfluss und warnt vor Neid und Habgier, denn das hält uns ab „vor Gott reich zu sein“, d.h. sich zu engagieren für eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens, in der es allen gut geht und in der alle „Leben in Fülle haben“ wie es im Johannesevangelium heißt.
Was verbindet nun das Denken des Kohelet mit der Botschaft Jesu?
Es ist die Zufriedenheit mit dem, was mir an Wissen, Können und Vermögen zufällt, was ich mir erarbeite oder erwerbe. Ich soll es als Geschenk begreifen und mit anderen teilen, um so gemeinsam ein gutes, ein glückliches Leben zu führen.
In der Vision des Buen Vivir der indigenen Völker Lateinamerikas, die genau dies als nachhaltiges Lebens- und Politikziel beschreiben wird diese biblische Botschaft aktualisiert. Das „Buen Vivir“ stellt das menschliche Zusammenleben nach ökologischen und sozialen Normen ins Zentrum seiner Philosophie. Gutes Leben bedeutet in diesem Kontext mehr als wirtschaftliches Wachstum und materieller Wohlstand. Zentral ist ein gemeinschaftliches Leben im Einklang mit und nicht auf Kosten der Natur und anderer Menschen sowie die Wahrung kultureller Identitäten.
Diese Vision hat die Vereinten Nationen im vergangenen Jahr bei der Fortschreibung der Weltentwicklungsziele, den sogenannten Millennium Goals wesentlich beeinflusst.
Leben in Fülle – Buen Vivir, lasst uns dafür arbeiten und es als Gottesgeschenk genießen.
Denn wie schreibt Kohelet vor 2300 Jahren: „Immer, wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennen lernt, ist das ein Geschenk Gottes…Predigt am 31. Juli
Guido Schürenberg