„Erneuerung“ will ernst gemeint sein

Ab und zu, da tut es gut, Bilanz zu ziehen; sich etwas Zeit zu nehmen, zur Ruhe zu finden, sich einen Überblick zu verschaffen, wo man denn so gerade steht. Die Frage mag dann in einem aufkommen, ob die Werte noch tragen, nach denen man zu leben versucht, oder ob es überhaupt noch die richtigen Werte sind. In der Wirtschaft nennt man es Inventur, im Berufsleben Coaching, in der Glaubensgemeinschaft Exerzitien. Das tut dem einzelnen gut, aber auch den verschiedenen Gemeinschaften, in denen man so lebt und sich bewegt, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft. Und klar: Das tut auch der Kirche gut. Da passiert im Augenblick ja auch ganz viel. Das ist mir am vergangenen Sonntag bewusst geworden, nach dem Gottesdienst, als ich mit einigen Studierenden ins Gespräch kam. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie es sich ergeben hat, aber plötzlich stand so ein Satz im Raum, wie: „So kann es doch eigentlich nicht weitergehen“. Und diese Aussage bezog sich auf den Zustand unserer Kirche. Da hat sich ein System verselbständigt, so empfinden viele; mit der Wirklichkeit des Lebens der Menschen hat die Kirche nur noch wenig Kontakt, wenn überhaupt. Da ist auf der einen Seite das Mühen von Papst Franziskus, der Kirche neues Leben einzuhauchen durch synodale Strukturen. Er ist der Überzeugung, dass wir Rücksicht nehmen müssen auf die kulturelle Vielfalt unserer Weltkirche, in der an einem Ende der Welt die Menschen eben anders ticken als am anderen; ganz andere Lebenserfahrungen prägen zum Beispiel einen jungen Menschen, der in Nairobi wohnt als den, der in London zuhause ist. Dieses Ansinnen, den einzelnen Regionen der Welt mehr Eigenständigkeit zu verschaffen, stößt auf gehörigen Widerstand vieler, denen die Angst im Gesicht geschrieben steht, jegliche Veränderung könne die vielbeschworene Einheit der Kirche gefährden. In unserem Gespräch spürte ich so eine gewisse Traurigkeit, aber auch Enttäuschung und auch Zorn angesichts der Frage, ob die Kirche denn in der Tat auch nur ein Machtsystem sei, in dem jeder sein Süppchen kochen will. Und in all dem Gemenge führt Papst Franziskus einen Kampf gegen Windmühlen.
„So kann es doch nicht weitergehen!“ In diesem Augenblick ist mir spontan der Gedanke herausgerutscht: ‚Es wird sich nur etwas ändern, wenn wir uns von der hierarchischen Struktur einer klerikalen Kirche verabschieden und wir uns als Volk Gottes, wir alle also gemeinsam, gleichberechtigt auf den Weg machen. Wir sind viel zu sehr fixiert auf die Ämterstruktur der Kirche und freuen uns viel zu wenig über die große Vielfalt der glaubenden Menschen, die unserer Kirche ein Gesicht geben.
Nun hat in unserem Bistum der Bischof ja gerade einen synodalen Prozess eingeleitet, der denen Gehör verschaffen möchte, die bisher nicht gehört wurden. Ich bin sehr gespannt und neugierig, wie sich dieser Gesprächsprozess entwickeln wird und ob er wirklich etwas zu verändern vermag.
Ja, es muss sich was tun; so wie es ist, so hat unsere Kirche keine Zukunft. Nicht wenige sind ja der Überzeugung, um ihren Glauben zu leben, bräuchten sie gar keine Kirche mehr; dies nicht, weil die Kirche ihnen gleichgültig geworden wäre, sondern weil sie ihnen nicht mehr glaubwürdig erscheint. Das muss uns doch zu denken geben. Ja, es muss sich etwas ändern, grundsätzlich, radikal, von den Wurzeln her.
Was wäre zum Beispiel, wenn nicht ich euch, sondern ihr mir von eurem Glauben erzählen würdet – mir und uns untereinander. Ich bin mir ganz sicher: Das würde ein sehr lebendiges Gespräch werden. Einander zuwenden und erzählen, wie wir unser Leben meistern, was wir erlebt, überstanden, gelernt haben in unserem Leben, und wie in all dem Gott vorgekommen ist – oder eben auch nicht. Da würde die Stunde nicht reichen, die wir uns sonntags Zeit nehmen, um Gottesdienst zu feiern. Gottesdienst verbindet ja immer zwei ganz wesentliche Momente unseres Glaubens miteinander: Zum einen hören wir Gottes Wort und feiern sein Liebesmahl, zum anderen tragen wir eben unser Leben vor Gott und voreinander in den Gebeten, in den Fürbitten. So geht das zusammen: Wort Gottes und Leben von uns Menschen! Im Hören und Erzählen, im Mit-Teilen eben. Glaubensvermittlung ist keine Einbahnstraße; wir können und wir müssen einander von unseren Glaubenserfahrungen erzählen.
Wir hören heute im Evangelium davon, wie Jesus einlädt, von den eigenen Lebenserfahrungen und Lebensentwürfen zu erzählen. Von Dorf zu Dorf sind die Jüngerinnen und Jünger gewandert und sind vielen Menschen begegnet, haben viel gehört und erfahren von den Lebensentwürfen der Menschen. Glaube geschieht in Begegnung. Von diesen Begegnungen haben sie nun einander erzählt.
Ich meine, diese Ermutigung passt gut in unsere Situation und in unsere Zeit. Jesus sendet die Jüngerinnen und Jünger aus, um Erfahrungen zu sammeln, wie die Menschen leben, wessen sie bedürfen, woraus sie leben, und demgegenüber haben sie erzählt von ihren Erfahrungen mit einem Freund, der ganz aus Gott lebt und sie so tief im Herzen reich macht. Ich bin mir sicher, dass da eine ganz große Schatzkiste gefüllt worden ist mit Lebens- und Glaubensgeschichten. Und dann hieß es eben wieder aufzubrechen, weil die Fragen, die Bedürfnisse, die Nöte der Menschen so bedrängend nahe gekommen sind.
Es mag paradox klingen, so schön es ist, sich – wie auch hier heute – der Ruhe hinzugeben, so gewiss ist es auch, dass wir wieder genötigt werden zum Aufbruch. Kirche ist ein Ort, auszuruhen, ganz sicher, Kirche ist ein Ort des Gebetes, mindestens genau so selbstverständlich, Kirche ist aber ebenso wichtig ein Ort der Auseinandersetzung über Grenzen und Schwierigkeiten hinweg. Wessen wir uns heute und morgen noch sicherer werden müssen: Kirche ist nicht Selbstzweck; sie darf niemals sich selbst genügen. Schon gar nicht ist sie Sklavin ihrer eigenen Geschichte. Sie ist Ort, wo Glaube und Leben, wo Gott und Welt einander berühren und einander bereichern. Wo immer sie diesen Auftrag nicht erfüllt, bedarf sie der Erneuerung. Und sie bedarf immer der Erneuerung, weil nämlich wir Kirche sind; und wie würde es um uns stehen, wenn wir stehen blieben? Leben und Glauben muss immer bedeuten: Fort-Schritt, nie Still-Stand, zu viele warten darauf, ernst genommen zu werden mit ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen. Predigt am 22. Juli
Christoph Simonsen

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