Hören und berühren
„Ich will hören, was Gott redet:
Frieden verkündet der Herr seinem Volk
und seinen Frommen, den Menschen mit redlichem Herzen.
Sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten.
Seine Herrlichkeit wohne in unserem Land.
Es begegnen einander Huld und Treue;
Gerechtigkeit und Friede küssen sich.
Treue sprosst aus der Erde hervor;
Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder.“ (aus Psalm 85)
Das sind prophetische Worte; wohltuende Worte in einer Zeit, in der Worte viel zu oft zu Waffen werden. Es sind alte Worte des Psalms 85, den die Liturgie heute als Antwortgesang nach der eben gehörten Lesung vorsieht. Mich berühren diese Worte; von ihnen geht eine Wärme aus, die keinen kalt lassen kann. Sie versetzen mich in eine innere Dankbarkeit, wie schön Leben sein kann – und sie lassen – für einen Augenblick – vergessen, dass alles ganz anders ist.
Und da sind wir mittendrin im Problem: Prophet*innen reden immer in einer Welt, die grundsätzlich anders ist, als sie eigentlich sein sollte. Die nächste Tragik folgt auf dem Fuß, denn in der Regel bewirken sie auch nicht wirklich etwas, was die Welt besser macht. Prophet*innen sind auf den ersten Blick hilflose Weltverbesserer in einer Welt, die nicht besser wird. Wie mag man sich da wohl fühlen als Prophet*in, wenn der übertragene Auftrag zu nichts führt, man immer wieder die Erfahrung macht, dass die Welt keinen Zoll friedlicher, warmherziger, göttlicher wird.
Prophet*innen wollen gar nicht die Welt verändern, sie wollen die Herzen der Menschen erreichen. Prophet*innen haben kein Interesse an Weltsystemen, wohl aber haben sie Interesse am Wohlergehen der Menschen, und zwar des einzelnen Menschen. Dieser Blick auf den einzelnen Menschen geht uns viel zu oft verloren weil wir uns festbeißen an und in Systemen. Viel zu sehr arbeiten wir uns an Systemen ab, während Prophet*innen im Hören auf das Wort Gottes ihren Blick dem einzelnen Menschen zuwenden. Wenn es dem Menschen gut geht, dann findet auch die Welt ihr Gleichgewicht wieder. Prophet*innen sind erfüllt, oder anders: sie sind randvoll von dieser Überzeugung: In Gottes Welt gibt es keine Feindbilder. Von dieser Überzeugung erfüllt, finden sie sich dann allerdings wieder in einer Welt, in der Feindbilder in immer neuen Varianten geprägt werden – von uns Menschen, nicht von Gott. Und das nur deshalb, weil wir Menschen uns unterscheiden wollen untereinander, nicht in unserem Sein, vielmehr in unserer Wertigkeit. Anders sein, das ist für die Vielzahl der Menschen gleichgesetzt mit wertvoller sein wollen bzw. minderwertiger sein müssen. Bezeichnungen werden zu Kampfmitteln. In der Vergangenheit war es der Nigger, heute ist es der Flüchtling, oder der Schwule, oder der Arbeitslose. Die einzige Intention dieser Klassifizierung liegt darin, sich selbst abzugrenzen von dem anderen.
Mir liegt noch sehr im Magen ein Erlebnis in diesem zu Ende gehenden Semester, wo wir mit einigen Studis belegte Brötchen an markanten Stellen unserer Stadt Obdachlosen gebracht haben, einfach nur so. Am Kaiserplatz kam dann ein Polizeiwagen angerauscht und ein Polizist fragte in einer sehr überheblichen Art, was wir denn da machen würden und ob wir nicht wüssten, dass dies Drogenabhängige wären und es gefährlich sei, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich war sprachlos und entsetzt. Weil jemand auf der Straße sitzt, ist er gefährlich. Weil eine Not, welcher Art auch immer, ihn der gewohnten Bürgerlichkeit entrissen hat, müssen wir uns vor ihm schützen. Getreu dem Motto: „Kennst du einen, kennst du alle“. Ein anderes Beispiel: Am vergangenen Wochenende hat der Rektor eines Theologenkonviktes die Studierenden mit einem Grundsatzpapier konfrontiert, wo Homosexuelle als „psychologische Fehlentwicklung“ bezeichnet werden, weshalb sie für den pastoralen Dienst ungeeignet seien. Zwei Beispiele – ein Wesensmerkmal: Wir Menschen zerreißen uns selbst an der Verrohung unserer Sprache, die eine Zerrissenheit der Welt unweigerlich nach sich zieht.
Einer solchen Wort-Gewalt und einer solchen Gefühls-Kälte begegnen Prophet*innen mit ihrem konkreten Leben, das badet im Meer der Erkenntnis Gottes, wie es bei Jesaja heißt. „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander… Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.“ In diesem Meer der Gotteserkenntnis sollen wir mitschwimmen. Dazu rufen die Prophet*innen Gottes auf. Dieses Meer der göttlichen Erkenntnis fragt nicht, bist du Flüchtling oder Obdachloser oder Schwuler oder erfolgreicher Wissenschaftler oder Aktienbesitzer; dieses Meer fragt nur: Bist Du ein Hörender? Ein Hörender, der es vermag, mit seinem Leben die vielen Worte zu einem Friedenswort zusammenzubinden? Prophet*innen sind keine Weltverbesserer, sie sind Friedenswortfinder. Gott interessiert nicht, was ein Mensch ist, sondern wer sie oder er ist. Infolge dessen bewerten Prophet*innen das Leben nicht, sie wollen es berühren und zusammenführen, indem sie in jeder und jedem die Friedenssehnsucht suchen.
Mir geht eine Begegnung nicht aus dem Sinn. Wer mich kennt, weiß um meinen zuweilen sehr nüchternen Realitätssinn und meine Art, manchmal zornig, zuweilen ironisch, nicht selten auch zynisch Stellung zu beziehen. Nun sagte mir jemand vor kurzem, dass meine bissigen Anmerkungen, die vielleicht in der Sache gar nicht unberechtigt sein mögen, manche Gesprächsgegenüber niederdrücken und im Letzten in ihrem Frust alleine zurücklassen. Da wurde mir bewusst, dass mir noch ganz viel fehlt, um mich Prophet nennen zu dürfen. Wirkliche Prophet*innen leugnen die Wirklichkeit nicht, nennen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit auch bei ihren Namen, aber was sie – wie gesagt – nicht tun: sie bewerten nicht, sie berühren mit ihrem Leben.
Ja: wir leben in bewegten und auch gefährlichen Zeiten. Unsere Zeit braucht Prophet*innen. Ich wünsche mir und uns genügend Sensibilität, mehr zu hören und zu berühren, und weniger zu klagen und zu schimpfen. So könnten wir vielleicht Prophet*innen werden in unserer Zeit…Predigt am 15. Juli 2018
Christoph Simonsen