Ein bisschen mehr Wahrheit täte der Welt gut
Der Symbolcharakter des Bootes hat sich diametral verkehrt:
Früher, als es noch keine Flugzeuge gab, war das Schiff das Verkehrsmittel, das Kontinente einander näher brachte; die Meere haben Menschen und Kulturen miteinander verbunden. Und auch wenn Fremdheit voreinander ebenso beängstigend war wie heute, so ist man – wenn auch manchmal sehr schmerzhaft errungen – in der Moderne zu der Einsicht gelangt, dass wir alle in einer Welt leben.
Heute ist das Boot ein trauriges Symbol dafür, wie weit unsere Kontinente einander entfernen und Menschen zum Spielball der Systeme machen; das Boot wird immer mehr zum Symbol der Angst, der Reichtum der Schöpfung würde nicht mehr für alle reichen. Dass wir alle in einem Boot sitzen, daran zu erinnern ist heutzutage mehr als nur ein schnell daher gesagter schöner Spruch, es ist eine politische Botschaft, die nicht gerne alle hören und die doch die umfassende Botschaft ist, die der Gottessohn den Menschen gepredigt hat. Paulus hält es später schriftlich fest: „In Christus sind wir alle eins“. Das ist mehr als ein frommer Gedanke, das ist ein weltumspannender Anspruch, der Christsein erst glaubwürdig werden lässt.
Hier und heute erinnern uns Kinder an diese Botschaft; Kinder von überall her, die an diesem Boot gebaut haben, um aufmerksam zu machen darauf, dass diese Einheit, diese gottersehnte Einheit, brüchig geworden ist. In diesem Boot sitzen wir heute Abend und sind doch weiter entfernt voneinander, als ansonsten in unseren Gottesdiensten hier in der Citykirche; die Blicke aufeinander sind eingeschränkt. Bedrängnis und Fremdheit bündeln sich emotional in dieser Stunde hier. Dieses Boot ist ein Boot der Mahnung und Erinnerung; dieses Boot möchte selbst zur wortlosen Verkündigung werden und uns mahnend erinnern an diese Sehnsucht Gottes, dass seine Welt eine sein möge.
Ich bin der Überzeugung: Wir sollten öfter in ein Boot steigen, unseren sicheren Grund und Boden verlassen. Jesus hat das auch getan. Wir haben es eben gehört. Jesus verlässt den sicheren Grund und fährt mit einem Boot aufs Wasser, um von dort aus die Menschen anzusprechen. Das hatte ganz praktische Gründe, so hatte Jesus einen besseren Blick auf die große Schar der Menschen. Wenn auch der oder die einzelne kleiner, unscheinbarer wurde für Jesus, so war gewiss, dass er keinen aus dem Blick verlieren konnte. Gottes Wort sollte an keinem vorbeigehen. Alle sollten sich angesprochen fühlen, alle ohne Unterschied in gleicher Weise. Und wenn auch die Menschen am Ufer vielerseits einander fremd waren, sie standen zusammen, hörten gemeinsam zu; sie waren in aller Verschiedenheit eine interessierte Gemeinschaft. Dieses gemeinsame Interesse, ja selbst wenn es auch nur Neugierde gewesen ist, hat sie zusammengehalten.
Kann es sein, dass unser Glaube, unsere Verkündigung deshalb heute so oft überhört wird, weil wir uns nicht aus der Masse heraus bewegen ,in ein schwankendes Boot steigen, um so den besseren Überblick zu bekommen? Kann es sein, dass unser Glaube deshalb langweilig, fruchtlos bleibt, weil wir immer nur das gleiche zu immer nur den Gleichen sagen?
Jesus erzählt den Menschen eine Geschichte, so wie er es oft getan hat. Und seine Geschichten haben eines immer gemein: sie möchten ermutigen, das Leben anzuschauen, so, wie es ist. Mit all dem, was dazugehört: mit dem steinigen und vertrockneten nicht minder wie mit dem warmen, bergenden und fruchtbaren. Das alles mögen wir anschauen, und zu all dem dürfen wir uns zunächst einmal bekennen: Das ist unser Leben, das macht uns aus.
Das ist gewiss nicht immer einfach, zu sagen: So ist das Leben. Und weil das so schwer ist, dem Leben ehrlich zu begegnen, bauen wir uns Trutzburgen, in die hinein wir uns verschanzen. Sicherheit heißen diese selbstgemachten Bunker. Aber wie könnte mein Leben sicher sein, wenn das andere in Gefahr ist? Was wäre das für eine Sicherheit in den Augen Gottes? Nur, wenn wir wirklich erkennen, wie das Leben ist; wenn wir uns Zeit nehmen, das Leben aus allen Blickwinkeln der Wirklichkeit zu betrachten, wenn wir alle und alles im Blick haben, das ganze Feld der Schöpfung Gottes, nur dann vermögen wir zu erkennen, welcher Art Sicherheit es bedarf, damit die ganze Schöpfung Gottes atmen kann.
Jesus erzählt den Menschen gern Geschichten. Geschichten, zumal Lebensgeschichten, bedürfen als erstes einer urteilsfreien Wahrnehmung; wir sollen uns mit all unseren Sinnen, mit Augen und Ohren, an die Geschichten des Lebens herantasten; unsere Nase muss riechen können, was in der Geschichte erzählt wird, und unsere Hände müssen tasten können nach dem, was dort beschrieben wird.
Auch die traurigen Geschichten, auch die Geschichten, in denen Menschen an Grenzen stoßen, die Geschichten, die von den Verstrickung des Menschen in das Boshafte des Lebens erzählen, auch sie wollen wahrgenommen werden. Es sind Geschichten des Lebens. Das Wertvolle solcher Geschichten besteht darin, dass sie wahr sind und dass sie in Erinnerung rufen, dass wir Menschen Menschen sind, fehlerhaft, begrenzt, schuldverstrickt. Lebensgeschichten erinnern uns Menschen aber nicht minder an unsere Ideale, an das, was uns wertvoll erscheint und erhaltenswert; Geschichten wie diese erinnern uns daran, dass wir ein Herz haben. Die Wirklichkeit ertragen und doch mit der Kraft unserer Ideale, mit der Gabe unseres Glaubens diese Geschichten weiterzuschreiben, so dass die Sehnsucht Gottes, alle mögen eins werden, ein bisschen mehr Wahrheit wird in unseren Lebensgeschichten: Dazu haben Kinder dieses Boot gebaut, in dem wir heute Abend sitzen…Predigt am 16. Juli
Christoph Simonsen