…dass Gott nicht zerstückelt wird
Schwere Kost am Sonntagabend, diese beiden Texte aus der Heiligen Schrift. Dazu kommt: Ich persönlich bin immer besonders skeptisch, wenn in der Bibel Fleisch gegen Geist ausgespielt wird; wenn das Geistige des Lebens gewürdigt und das Fleischliche herabgesetzt wird. Wie lange haben die Kirchen mit diesem Gedankengut ihre Macht gegenüber den Menschen ausgespielt. Aber warum sollte es Paulus darum gehen, die Menschen zu gängeln, wo er doch selbst sagt, die Menschen seien zur Freiheit berufen; und warum sollte er den Menschen Moralpredigten vorhalten wollen, wo doch sein Lehrer und Freund Jesus mit einem großen Urvertrauen den Menschen begegnet ist und nicht müde war, sie in ihrer Würde und Schönheit zu bestärken. Paulus möchte den Menschen nicht die Freude am Leben verderben, nicht die Lust und nicht die Leidenschaft. Sein Anliegen, so verstehe ich ihn, ist ein ganz anderes. Er möchte dem Leben Tiefe geben, es der Banalität und der Oberflächlichkeit entreißen. Sein Anliegen ist es, die Sehnsüchte der Menschen zu wecken und eine Ahnung davon zu vermitteln, dass es möglich ist, Großes in sich und in der Welt zu entdecken. Man muss sich nur die Wahlplakate anschauen, die in diesen Tagen an den Straßenlaternen hängen. Plakativer geht es nicht; unterschwellig werden Ängste geschürt, wie auch Sehnsüchte geweckt. Wo wir hinschauen, es geht immer darum, möglichst unauffällig möglichst viel Einflussnahme zu erwirken. Ob auf Plakaten, ob in den sozialen Netzwerken: überall wollen andere in meinen Kopf, in meine Gedanken und in meine Gefühle hineingreifen und ihrer Herr werden. Dieser geistigen Übergriffigkeit, dieser Oberflächlichkeit einer stumpfsinnigen und doch so oft erfolgreichen Besitzergreifung über mein Denken und Fühlen widersetzt sich Paulus vehement. Das wirklich Große, das, was wirklich leben lässt, das liegt in mir und dir und nicht in Schlagworten und appellativen Verkürzungen. Im Menschen liegt das Große, in der einmaligen Schönheit dieser Welt liegt das Große, in der Vielfalt des Lebens entfaltet sich Geist und Leben. Den Menschen sehen, die Welt sehen und darin eine Ahnung von Gott bekommen, von seiner Größe und seiner Treue zu uns: Dieses Lebenskonzept möchte uns Paulus nahe legen und davon zeugen die Fotografien von Herrn Emondts, der genau da hin gegangen ist, wo die Menschen und das Miteinander des Lebens nicht vielfältiger und auch nicht schwieriger sein könnten, nämlich in Jerusalem, wo Kulturen und Religionen und Geschichten aufeinanderstoßen. Im Blick auf die Menschen und ihre Geschichten verlieren die von außen gesetzten Gesetze und Normen, die vorgeben, über mich bestimmen zu können und zu müssen, ihre Macht. Um einen Gedanken aus dem Evangelium aufzugreifen: Neu geboren im Geist werden wir, wenn wir den Menschen in die Augen schauen, wenn wir im anderen, auch im Fremden, gewillt sind, das Göttliche zu suchen. Das macht unser Leben und unser Miteinander nicht leichter, aber gottgemäßer. Denn wer immer Gott für sich allein in Anspruch zu nehmen gewillt ist, sperrt Gott ein in die Enge des eigenen Denkmusters. Nicht das christliche Abendland gilt es zu retten, sondern den Frieden, den Gott in die ganze Welt hineingelegt hat. Wer sich auf diesen Gott beruft, und das tun Juden, Muslime und Christen in je eigener Tradition, der ist diesem Frieden verpflichtet. Und wer immer diesem einen Gott Heimat schenkt in seinem Leben, der wird sich mit seinem ganzen Leben dafür einsetzen, dass auch der je andere Gott in sich leben lassen kann. Wie schwierig das ist, das sehen wir eben in Jerusalem, wo Gott zerrissen und zerstückelt wird, weil je einzelne Gruppen ihn für sich allein besitzen wollen. Und zugleich sehen wir, wie schön das ist, diesen Frieden zu bewahren, wo Menschen verschiedener Religionen und Kulturen im Respekt voreinander in einer Stadt, in einem Land, in einer Welt auszukommen bemüht sind. Das ist das Große, von dem Paulus spricht, und für das Christus gelebt und gestorben ist. Und dieses Große ist in unsere Hände gelegt; an uns liegt es, dass Gott nicht zerstückelt und diese Welt im Frieden leben kann. Überlassen wir diese Verantwortung nicht den Kleinkarierten und Besserwissern unter uns…Predigt am 23. April
Christoph Simonsen