Ich bin kein Gottesversteher
Am vergangenen Dienstagabend erhielt ich eine erschütternde Nachricht: Raphael, ein Informatikstudent, der mit ganz viel Freude und Leidenschaft in unserem Khg Chor mitgesungen hat, wurde tot in seinem Zimmer aufgefunden. Seine Schwester hatte ihn gefunden, die ihn abholen wollte zur Chorprobe. Noch ganz in Karnevalstimmung wurde ich jäh in die bittere Wirklichkeit des Lebens zurückgeworfen. Ein lebenslustiger junger Mann, gerade dabei, seine Bachelor Arbeit fertig zu stellen, hat sich entschlossen, sein Leben zu beenden. Keiner weiß warum; die Mutter, die Schwester, die Freundinnen und Freunde im Chor, sie sind alle ratlos. Warum nur? Was bewegt einen Menschen, sich seiner eigenen Zukunft zu berauben? Und eine nicht weniger wichtige Frage: Wie können Mutter, Schwester, Freundinnen und Freunde mit dieser entsetzlichen Wahrheit leben, dass Raphael, von einem Augenblick auf den nächsten aus dieser Welt ausradiert ist? Wie kann ich damit leben? Kann mein Glaube das auffangen, was menschlich überhaupt nicht aufgefangen werden kann?
Je länger ich lebe, umso vielschichtiger zeigt sich mir dieser Gott. Ich lerne zu respektieren, dass sich in Gott Wirklichkeiten verbergen, die weniger eindeutig sind, als sie mir nur der liebende und barmherzige Vater zeigen würden. Ich übe mich darin, das Leben nicht nur dann zu akzeptieren, wenn es schadlos und makellos ist und ich bemühe mich, Zufriedenheit im Leben nicht nur dann wahrzunehmen, wenn ich mittendrin stehe in einem ungefährdeten Leben, frei von Schicksalsschlägen und Rückschlägen. Ich ahne, dass es richtig ist, das Leben auch dann anzunehmen, wenn es gefährdet, geprügelt und geschlagen ist. Und ich entdecke ein Gefühl von Achtung und Ehrfurcht in mir, wenn ich zum Beispiel sehe, wie achtsam und einfühlsam Menschen, die Raphael kannten, mit seinem Tod umgehen.Da stehen, keine Antwort finden auf die bedrängenste Frage des Lebens, nämlich die Frage des „Warum“ und diese Erfahrung, diese Zeit aushalten. Davor habe ich großen Respekt.
Die Versuchung ist groß und nur zu verständlich, Gott und die Welt verantwortlich zu machen für das tragische Schicksal, auf ihn einzudreschen und in Verachtung zu versinken angesichts dessen, dass der, der doch allmächtig sein soll, so etwas zulassen kann. Grundsätzlich steht doch die Frage im Raum, ob Gott verantwortlich ist für alles, was das Leben in der Welt aus der Bahn wirft: für Krieg, für Terror, für Hunger und Not, vor Naturkatastrophen, oder für den viel zu frühen Tod von Raphael hier in unserer direkten Nachbarschaft?
Ich möchte mit Euch einen Antwortversuch wagen. Es bleibt ein Versuch, denn Gott bleibt bei aller Offenbarung immer auch ein verborgener Gott und ich hoffe, für mich und für uns, dass dieser Antwortversuch nicht nur eine vordergründige Vertröstung ist: Gott ist und bleibt ein Gott des Lebens und nicht der Vernichtung. Zugleich aber bleibt uns Menschen nicht erspart, uns unserer Endlichkeit wahrhaftig zu werden, sie anzuschauen, an ihr zu leiden und zu verzweifeln. Der Gott des Lebens erspart uns diese Wahrheit nicht. Gott ist insofern verantwortlich für die Brüche des Lebens in dieser Welt, da er Urheber allen Lebens ist und die Welt nun einmal so ist, wie sie ist. Nicht das einzelne Schicksal eines Menschen hat Gott zu verantworten, wohl aber, dass die Welt endlich ist, brüchig und unvollkommen. Und diese Erfahrung der Endlichkeit verlangt von uns Menschen eine Entscheidung: Vertraue ich – im Wissen darum, dass auch mein Leben durchkreuzt werden kann – dem Gott, der leidenschaftlich um mich kämpft und der mir Leben in Fülle schenken möchte? Dieses Vertrauen ist nicht nur auf Zukunft ausgerichtet, sondern darauf, heute, hier und jetzt leben zu können in dieser verdammten Endlichkeit.
Vor genau diese Frage wurde auch Jesus gestellt. „Will ich sein, wie Gott, also der Endlichkeit, der weltlichen Enge ausweichen, oder vertraue ich dem größeren Geheimnis Gottes, der mich eben in diese Welt gesetzt hat, und das wohl nicht ohne Sinn und Grund ? Die Versuchung, wie Gott sein zu wollen, würde in dem Fiasko enden, das Leben auf dieser Erde beenden zu müssen, denn es wäre nicht mehr zu ertragen. Die Hoffnung, in Gott Vertrauen zu finden dagegen gibt dem Leben Sinn, auch wenn es immer wieder sinnlos erscheint.
Ich tu mich heute schwer mit den Gedanken zum Evangelium. Vielleicht klingt manches holprig und theoretisch. Nicht nur dem sogenannten ‚lieben Gott‘ ein Ja entgegenzubringen, sondern auch dem versuchenden Gott, dem unverständlichen Gott, dazu bedarf es vielleicht einiger gedanklicher Klimmzüge aber noch mehr bedarf es eines offenen Herzens, das zu vertrauen wagt, wo es nicht leicht fällt. 40 Tage hatte Jesus Zeit, in diesen Gott hineinzuwachsen, um ihn tiefer verstehen zu lernen. Ich glaube, dass auch uns Zeit geschenkt ist, um in allen Widersprüchen des Lebens, die uns auch von Gott entfernen können, doch eben auch Vertrauen zu knüpfen zu eben diesem Gott, der eines will: eine leidenschaftliche Verbundenheit mit uns Menschen. Meine Hoffnung ist da, dass auch die Mutter, die Schwester und die Freunde Raphaels dies wahrnehmen dürfen und nicht minder wir, die wir ebenso wenig dem Schicksal entrinnen können wie eben Raphael.
Christoph Simonsen