Radikal anders oder anders radikal

Kara, Max, Lucila, Hannes, Armin, Jana, Claudius, Elisa, Jonas, Amelie, Andreas: Das sind einige Namen der Studierenden, denen ich in den vergangenen Tagen begegnet bin. Mit jedem Namen verbindet sich eine je eigene, ganz persönliche Lebensgeschichte, die sie mir anvertraut haben. Keinem von ihnen bin ich zuvor begegnet, aber so bald werde ich sie alle nicht mehr vergessen. Eine einzige Begegnung vermag unendlich viel zu bewirken. Alle in je verschiedener Weise haben mir meine Sesshaftigkeit, meine Bequemlichkeit, meine Unbeweglichkeit bedrängend vor Augen geführt. Mein Leben wurde mir neu zur Frage, und dafür bin ich dankbar. Mir bis dahin fremde Menschen haben von sich erzählt; jede dreiviertel Stunde, die ich mit einem von den jungen Bewerberinnen und Bewerbern für das Stipendium teilen durfte habe ich als eine geschenkte Zeit empfunden. Einander von den Quellen zu erzählen, wo man her kommt und aus denen man lebt und von den Mündungen, auf die zu man sich bewegen möchte. Das ist nicht einfach, aber es ist frei von Konkurrenzdenken und Leistungsvermögen, denn kein Leben ist mit einem anderen vergleichbar. Vom eigenen Leben zu erzählen, das ist in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich, lieber erzählen wir von dem, was wir haben und können als davon, wer wir sind. Biographien heute müssen geradlinig sein, ungebrochen, das ist gut für Wirtschaft und Industrie. Dass aber gerade gebrochene Biographien, Lebensumwege und Lebenssuche zu einem erfüllten Ziel führen, das ist in unserer schnelllebigen Welt nicht vorgesehen. Dabei sind es gerade oft die Umwege, die uns zu uns selbst führen.
Simon, Andreas, Jakobus, Johannes; vier Männer, die sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt darüber definiert haben, was sie machen – fischen nämlich, arbeiten, Geld verdienen, Familie ernähren, all das, was uns auch antreibt, fleißig zu sein und strebsam. Dann sind sie einem Mann begegnet, der sie auf eigenartige Weise angeschaut und angesprochen haben muss. In diesem Augenblick ist etwas Lebensentscheidendes passiert. Im Blick Jesu erkannten sie sich selbst und im Ruf Jesu hörten sie Unerhörtes: ‚Du bist mehr als das, was du gelernt hast! Du kannst Größeres als das, was dir bisher zugetraut wurde! Du bist der Ort, wo Gott zuhause ist!‘ Was dann passiert ist, kann man kaum in Worte fassen. Kein Wunder, dass die Heilige Schrift da so knapp und nüchtern daherkommt: sie ließen zurück, was war und folgten Jesus. Sie sind ausgebrochen; ausgebrochen aus ihrem bisherigen Leben, ausgebrochen aus dem Korsett der von außen gesetzten Normen und Verpflichtungen, ausgebrochen aus dem Karussell des immer wieder Gleichen und Gewohnten.

Was Zebedäus wohl gedacht hat in dem Moment, als seine Söhne sich von ihm verabschiedet haben? Ob er sie innerlich für verrückt erklärt hat und gedacht hat, seine Söhne seien schon bald wieder zurück? Ob er versucht hat, sie zurückzuhalten? War er traurig, war er wütend? Man weiß es nicht. Davon ist nichts festgehalten. Dem Verfasser des Evangeliums scheint das wohl auch nicht wichtig gewesen zu sein. Es gibt Augenblicke im Leben, da darf man keine falsche Rücksicht nehmen auf die Erwartungen der anderen.
Eine solche Radikalität des Lebens, des Glaubens, des Vertrauens scheint heute undenkbar. Wer von uns könnte sich den Erwartungen unserer Gesellschaft entziehen, nicht nur steuerzahlend zum Wohle aller beizutragen, sondern vor allem dem Verantwortungsbewusstsein folgend für sich und seine Lieben, für Lebenssicherheit und Zukunft Sorge zu tragen? Diesem Dilemma sind wir, die wir heute Abend alle zur Ehre Gottes hier sind, in gleicher Weise ausgesetzt. Eine Radikalität des Glaubens steht einem Verantwortungsbewusstsein für das Leben entgegen. Oder etwa doch nicht? Denn wenn dem so wäre, so müssten wir doch alle der Verzweiflung nahe sein.
Vielleicht genügt es – für heute zumindest – wenn wir, wie ich es erfahren durfte in den Gesprächen mit den Kunststudierenden – wenn wir uns offen halten, unser Leben zur Frage werden zu lassen und wenn wir die Brüche in unserem Leben nicht kaschieren, sondern sie bewusst anschauen. Und dann: Im Gespräch bleiben, sich hinterfragen und die Radikalität des Glaubens ins eigene konkrete Leben hineingreifen zu lassen und sich so eine Offenheit bewahren für das Wort Gottes, das wäre schon einmal ein Anfang. Wer weiß, was dann in uns und mit uns geschieht. Nur Gott allein…Predigt am 21.Januar

Christoph Simonsen