Lerne zu leben
Von wem lernen wir, wie Leben geht? Wir lernen viel, wenn der Tag lang ist; wir lernen sogar, wie man am effektivsten lernt, wenn man sich zum Beispiel auf Klausuren oder Prüfungen vorbereiten muss. Aber leben zu erlernen, dazu ist mir bisher keine Methode mit Erfolgsgarantie bekannt. Reingeworfen werden wir ins Leben, ungefragt, so wie wir gezeugt werden, ungefragt. Der Beginn, der allererste Beginn unseres Lebens mag Liebe gewesen sein, aber die Welt, in die hinein wir geboren werden, die ist so wirr und so verstörend, wie es eben im heutigen Evangelium beschrieben ist. Realistischer kann ein Bibeltext kaum sein. Die Meere toben, Völker sind bestürzt und Menschen sind von Angst getrieben. In dieser Unordnung, in diesem Chaos sollen und müssen wir leben. Von wem lernen wir, uns in dieser Welt zurecht zu finden? Wer bringt uns bei, in dieser Welt nicht nur zu überleben, sondern wahrhaftig und erfüllend zu leben?
Die Botschaft des Evangeliums heute zu Beginn der Adventzeit hat es in sich. Und – ich kann es nicht anders sagen – sie lädt nun wirklich nicht ein zu Rorate Gottesdiensten bei Kerzenschein oder zu gemütlichen Glühweintreffen auf dem Weihnachtsmarkt. Sie beschreibt zum einen die Welt in einer Weise ungeschönt, wie man es deutlicher nicht schreiben könnte und sie macht zum anderen ernst mit der Tatsache, dass alles Leben an ein unwiderrufliches Ende kommt. Sich dieser Wirklichkeit zu stellen, dazu sind wir aufgefordert. Besinnliche Worte hören sich anders an. Advent ist nicht in erster Linie eine Wohlfühlzeit; es ist vielmehr eine Zeit, in der sich existentielle Fragen in den Vordergrund drängen: Was erwarten wir vom Leben und von wem erwarten wir Hilfe und Beistand, der uns das Leben lehren könnte? Eine weitere Frage schließt sich an: Was ist das Ziel meines/ unseres Lebens und wie geh ich/ gehen wir auf dieses Ziel zu? Diese lebens- und sterbenswichtigen Fragen gilt es herunter zu brechen in das konkrete Leben.
Am vergangenen Dienstag habe ich einen lieben alten Freund getroffen. Meistens läuft das zwischen uns so ab: Ich bekomme eine Mail mit der unmissverständlichen Frage „Bierchen?“ Und ich antworte direkt hinterher: „Klar gern, wann und wo?“ Wir kennen uns schon ewig aus Zeiten, wo ich noch Kaplan war, und das ist 35 Jahre her. Dann haben sich unsere Wege in ganz verschiedene Himmelsrichtungen verzweigt und jetzt wohnt er mit seiner Familie – was für ein Zufall – auch in Aachen. Und so alle halbe Jahre treffen wir uns dann auf ein besagtes Bierchen. Wir stellen uns im Gespräch dann die Fragen, die Menschen sich oft stellen: ‚Wie geht es dir? Was machst du so? Womit beschäftigst du dich gerade? Wie sehen deine nächsten Pläne aus?‘ Eigentlich sind das Allerweltsfragen, die man sich so im Vorübergehen auf der Straße stellt. Aber hier in unserem Gespräch entfalten sie einen ernst nachdenklichen Tiefgang. Von wem lernen wir das Leben? Von Menschen, die uns die richtigen Fragen stellen und die wirklich neugierig und interessiert auf unsere Antworten sind. Von Menschen, die in die Seele und das Herz schauen möchten, ohne darin mit Gewalt einbrechen zu wollen. Von Menschen, die nicht weglaufen vor der Wirklichkeit, sich aber auch nicht von ihr beherrschen lassen wollen. So geht mir ein Gedanke nach, der am Dienstag in unserem Gespräch aufgekommen ist: ‚Es ist nicht leicht, in unserer Zeit heute positiv zu denken.‘
Und wir zählten auf, woran wir uns gerade reiben, was uns fassungslos macht: Mein Freund entsetzte sich über die Präsidentenwahl in Brasilien, wo ein nationalistischer, homophober, radikaler und die Gesellschaft spaltender Kandidat die Wahl gewonnen hat. Er selbst ist sehr vertraut mit diesem großen und wunderbaren lateinamerikanischen Land und seine Erklärung war so einfach wie verstörend: die Reichen und die Mittelschicht des Landes können einfach nicht ertragen, dass die Kleinen und die Armen auch ihre Rechte einfordern. Das zu verhindern, dazu sei der neue Präsident gerade der Richtige. Ein anderes Thema, das einen den Pessimismus lehren könnte, war die Stimmungslage in Europa, hier vor unserer Haustür und die Angst vor nationalistischen Strömungen, die auch hier zu spüren sind. ‚Es ist nicht leicht, in unserer Zeit positiv zu denken‘. Viel leichter ist es, in Jammern und Klagen, auch Anklagen zu verfallen.
Wir könnten die nächste Zeit nutzen, unser Denken und Fühlen genauer anzuschauen und uns fragen, ob und wie es uns gelingt, in unseren Begegnungen konstruktiv, positiv, wohlwollend und zugleich doch auch realistisch ins Gespräch zu kommen. Zu leben lernen wir, indem wir das Leben zu unserem Thema machen.
Deshalb ist Gott Mensch geworden, um uns zu lehren, positiv auf das Leben zuzugehen, auch und gerade, weil es uns immer wieder Lügen straft und zerreißend und zerstörend ist. In der Menschwerdung seines Sohnes hat er es vorgemacht. Kalt war es damals, düster und scheinbar aussichtslos und fake News gab es damals wie heute. Um Gott zu gefallen leben wir, sagt Paulus. Also um dem zu gefallen, der positiv, zuversichtlich und menschenfreundlich auf das Leben in dieser Welt geschaut hat. Vollkommener zu werden darin, in dieser Weise Gott zu gefallen, dazu sollen und können wir einander behilflich sein. Und dann wären wir zweifelsohne gute Lehrmeister des Lebens.
Christoph Simonsen