Gib acht auf dich
Am vergangenen Samstag hatte ich es wieder den ganzen Abend im Blick, als ich im Chico Mendes das Konzert von Arthur Gepting und Joe Astrey besucht habe: Unser großes Regal, vollgepackt mit den verschiedensten Brettspielen.
Ein Spiel allerdings hab ich nicht entdeckt bei meinem schweifenden Blick durch die verschiedenen Fächer. Ein Spiel, das ich als Kind mit meiner Lieblingstante und meinem Lieblingsonkel immer gespielt habe, wenn ich bei ihnen zu Besuch war. Es hatte keinen Namen und wurde auf keiner Spielemesse eigens vorgestellt. Ich weiß gar nicht: Vielleicht haben wir drei es sogar erfunden und ich könnte heute ein Copyright darauf geltend machen. Wir nannten es das „Verkehrtrum-Wort-Spiel“. Einer überlegte sich ein Wort, das er dann verkehrt herum buchstabiert aussprach und wir mussten herausfinden, welcher richtige Begriff sich dahinter verbarg. „Lese“ war also eigentlich der „Esel“ und „Dnuh“ war der „Hund“ und „Egeilf“ die „Fliege“. Uns hat das damals wahnsinnigen Spaß bereitet und es war witzig zu hören und zu sehen, wie die komischen Zungenbrecher den Mund verließen.
Nun ist mir letztens in Erinnerung an dieses Spiel aus meiner Kinderzeit ein mich nachdenklich stimmender Gedanke in den Sinn gekommen: Was geschieht, wenn ich das Wort „Leben“ verkehrt herum ausspreche? Nun: aus „Leben würde „Nebel“ werden. Darüber begann ich nach zu grübeln. Ja, mir erscheint das Leben manchmal wie ein Waten durch dichten Nebel. Da ist Angst, das Ziel aus dem Auge zu verlieren; da ist Angst, sich eine blutige Nase zu holen wegen eines Widerstandes, der sich einem in den Weg stellt. In der Tat: Wer würde sich nicht fürchten, wenn er nicht mehr erkennen würde, was um ihn herum ist? Aber nicht nur Angst löst eine Nebelwand aus. Neben der Angst, über der Angst baut sich auch Achtsamkeit auf. Wenn ich im Nebel stehe, dann bin ich in einer besonderen Weise, vorsichtig, behutsam. Mein sonst normales schnelles Eilen wird sozusagen abgebremst und ich taste mich langsamer voran, achte mehr auf den Weg und auf all das, was im Dunst des Nebels noch irgendwie erkennbar ist. Mit dieser Vorsicht ist die Hoffnung verbunden, sich keine Blessuren zu holen.
‚Gib acht auf dich‘. Das ist Jesu Botschaft heute an uns. Werde nicht zu großmäulig, sei nicht zu selbstgewiss, alles stünde immer da, wo es gestern noch gestanden ist. Die Vertrautheit, die dein Leben absichert, ist nicht selbstverständlich.
Daneben beschreibt das heutige Evangelium ziemliche Schreckensszenarien. Und sie sind alles andere als nur Utopie. Unsere Zeit heute kommt dem, was Jesus da beschreibt, schon ziemlich nahe. Genau in diese Situation hinein, die so ungewiss ist, so undurchsichtig, so unüberschaubar: Dort hinein bittet Jesus die Menschen, achtsam zu sein. ‚Gib auf dich acht‘ sagt Jesus und sei behutsam, dass du nicht fällst. Wäge deine Schritte ab und lass dich nicht blenden.
Jesus bereitet die Menschen – ich möchte es so sagen – auf den Lebensnebel vor, der sich über die Welt legt. Seine Sorge ist, dass die Menschen einfach weiter unbeirrt durchs Leben jagen, so als sei alles ungefährdet und abgesichert. Nichts im Leben ist sicher. Wir sollten uns nicht verführen lassen, rät er dann seinen Freundinnen und Freunden weiter. Und da ist was Wahres dran: Verführer gibt es viele; Verführer, die Sicherheit garantieren und Menschenleben gering schätzen. Im undurchsichtigen Dickicht des Lebens fällt man schon mal über sie drüber und merkt es erst, wenn man auf der Nase liegt. Das sind zwei sehr schöne und auch wichtige Ratschläge Jesu, auf sich acht zu geben und sich nicht einwickeln, verführen zu lassen von den Schwätzern dieser Welt.
Dann sagt er aber noch etwas. Etwas sehr Ungewöhnliches, was eigentlich dem diametral entgegensteht, was er zuvor gesagt hat: Wir sollen nicht nur Acht geben auf uns im Lebens-Nebel, der uns umgibt und die Sicht versperrt, wir sollten uns dabei auch anvertrauen, wir sollten uns überlassen. Das klingt doch paradox: Acht geben auf sich, also die ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren, und sich dann zugleich anvertrauen. Es ist aber nicht paradox.
Jesus führt uns vor Augen, worauf es im Ernstfall des Lebens ankommt. Ja: Es kommt auf mich selbst an. Im Ernstfall des Lebens kann ich nichts an niemanden delegieren. Ich bin wirklich auf mich gestellt und auf mich kommt es an. Ich muss mich meiner vergewissern: wer ich bin, woraus bin ich. In den Entscheidungsphasen meines Lebens muss ich mir selbst zur Frage werden und ich muss mir die Frage aller Fragen stellen: warum bin ich. In all diesen Fragen, diesen unruhigen Fragen, die nach einer Beantwortung der Daseinsberechtigung meiner selbst schreien, stellt sich unweigerlich die Gottesfrage. Ist Gott der Grund meiner Existenz und ist er das Ziel meiner Existenz. Mit dieser Frage ist Bangen und Zweifeln verbunden. Dem kann keiner entrinnen. Aber wer sich dieser Frage stellt und – wenn auch nur zögernd – mit ‚Ja‘ beantwortet, der wird in den Nebeln des Lebens ein tragendes Vertrauen spüren und ein Zutrauen, sich überlassen zu können, sich Gott überlassen zu können.
‚Gib acht auf dich‘ und vertraue dich an; vertraue dich Gott an, der Dir bei aller Ungewissheit, die das Leben auszeichnet, Freundschaft anbietet. Mit diesen beiden Ermutigungen möchte ich es wagen, durch den dicksten Nebel zu waten. Ja es stimmt: Auch im Lebensnebel können wir standhaft bleiben…Predigt am 13. November
Christoph Simonsen