Als Mensch sind wir einander verpflichtet
„Lasst uns froh und munter sein und uns heut im Herrn erfreu’n. Lustig, lustig tralalarallalla; heut ist Martins Abend da“. Ich bin mir sicher, dass sich viele an dieses Lied erinnern. Ja, heute ist Martin’s Abend. Und ich hoffe, ihr habt heute frohe Augenblicke erleben dürfen. Dennoch: nein! Das Leben ist nicht lustig. Der Bettler, dem Martin ja bekanntlich einen Teil seines Mantels geschenkt hat, ist mehr als ein Sinnbild dafür, dass sich in unserer direkten Umgebung Menschen aufhalten, denen – um eine Erfahrung der Lesung wiederzugeben – die Vorräte des Lebens ausgegangen sind. Wir brauchen nur vor der eigenen Haustür der Khg zu schauen, da schlafen jede Nacht auf der Veranda des Chico zwei obdachlose Männer. Die Witwe aus Sarépta hat ein vergleichbar aussichtsloses Leben, sie und ihr Sohn: Einmal noch etwas essen, die allerletzten Lebensmittel, die letzten Mittel zum Leben also, genießen – und dann sterben, weil nämlich nichts mehr da ist, was leben lässt. Ob ein halber Mantel auf die Dauer das Leben sichert, ist da mehr oder weniger eine rhetorische Frage. Und auch der Kaffee, den Fr. Wolf oder Eveline oder Beate unseren beiden Übernachtungsgästen früh morgens ab und zu reicht, ist nicht mehr als ein Wermutstropfen, die kalte und ungemütliche Nacht zu beenden. Kurz nach neun, wenn das Chico öffnet, sind die beiden längst verschwunden und während des Tages machen sie sich im wahrsten Sinn des Wortes unsichtbar. Elend und Not will keiner gern sehen. Elend ist unappetitlich, schmutzig und ich selbst musste mich dabei ertappen, dass ich im Gespräch mit anderen zu der Überzeugung gelangt bin, dass die beiden Männer ihre wenige Habe – eine Schaumgummimatratze und einen Müllsack mit ein wenig Kleidung nicht einfach so über den Tag im Gebüsch liegen lassen dürfen. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr schäme ich mich dafür. Diese verdammten Güterabwägungen, was zählt mehr: Das Verständnis für das Einlagern dessen, was den beiden gehört und was das Gelände der Khg hinter dem Chico unschön aussehen lässt, oder eine geordnete Umgebung um unser Zentrum herum, was nicht abschreckend wirkt für unsere Gäste. Was zählt mehr: Der offene Blick auf das Elend unserer Gesellschaft oder eine vorgetäuschte Reinheit, die jeden Mitarbeiter des Ordnungsamtes das Herz höher schlagen lässt? Ich habe mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen für letzteres entschieden – und–dafür schäme ich mich heute, gleichwohl ich weiß, dass es wohl nicht anders geht, wenn wir nicht Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen wollen.
Über die beiden Texte des heutigen Tages ließe sich viel nachdenken und reflektieren. Mir ist heute eines wichtig: Elija und nicht anders Jesus haben etwas revolutionär Wichtiges gesehen und gewürdigt, was alle anderen wohl übersehen haben und auch nicht sehen wollten. Diese Frau hat sich in ihrer würdelosen Lebenssituation eine Menschlichkeit bewahrt, die beispiellos ist: Selber am Rande des Existenzminimums bewahrte sie sich trotzdem einen Blick für die Not anderer. Sie hätte allen Grund gehabt in sich zu versinken, aber sie bewahrte sich einen Blick für die Welt. Elija und auch Jesus haben alle anderen entlarvt, die sich für was Besseres gehalten haben, weil ihr Leben zwar äußerlich sauber und geordnet erscheint, im Inneren aber von Selbstüberschätzung zugemüllt ist.
So viele Gesellschaftssysteme und Ideologien haben sich schon daran versucht, die Armut zu besiegen und nur zu oft ist daraus neues Unrecht erwachsen. Es bleibt wohl die unbeantwortbare Frage im Raum stehen, ob wir je die Armut aus der Welt schaffen können. Was wir aber können: wir können ihr anders begegnen. Wir schließen von der Lebenssituation eines Menschen auf seinen Charakter, auf seinen Bildungsgrad, ja sogar auf seinen Wert in unserer Gesellschaft. Wenn wir in Erwägung ziehen, dass sich hinter der Fassade der sichtbaren Armut ein bewundernswerter Mensch verbirgt, ein Mensch, der sich seine Menschlichkeit bewahrt hat, ein Mensch, der nicht anders als man selbst Teil eines Ganzen ist, einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft und der in sich die gleiche Sehnsucht trägt wie man selbst, nämlich wahrgenommen und beachtet zu werden, dann, ja dann ist der erste Schritt getan, Armut nicht als ein Schicksal wahrzunehmen, das den einen ereilt und die andere – Gott sei Dank – nicht, sondern Armut als das anzusehen, was sie ist: ein menschliches Unrecht, dem jeder Mensch entgegenwirken kann, indem er tut, was menschlich ist. Und menschlich ist es, immer im anderen den Menschen zu sehen. Diese Menschlichkeit hat sich die Witwe aus Sarepta bewahrt und auch der Bettler am Straßenrand, der in Martin nicht zuerst den Ritter, den ‚hoch-zu-Ross-Sitzenden‘ gesehen hat, sondern auch den Menschen. Die Bereitschaft, die Fähigkeit zu teilen beginnt mit dieser Erkenntnis: Als Mensch sind wir einander verpflichtet, nicht mehr und nicht weniger.
Christoph Simonsen