Heute beginnt der Weltuntergang
Am vergangenen Sonntag haben wir ja bereits des Heiligen Martin gedacht, diesem Edelmann, der zwar hoch zu Ross gesessen ist, sich aber nicht zu schade war, herabzusteigen, um einem Bettler die Hälfte seines Mantels zu schenken. So konnte der arme Mann sich wärmen – mitten im kalten Winter. Und ohne ein Geheimnis zu verraten, gleich nach unserem Gottesdienst dürfen wir uns noch einmal in unsere Kindheit zurück beamen, Sankt Martin Lieder singen und uns gemeinsam an der Erkenntnis erfreuen, wie schön es sein kann, wenn Menschen miteinander teilen, was sie haben. „Wenn jeder gibt, was er hat, dann werden alle satt“ und auch das ist wahr: dann wird allen warm. Könnten wir dann nicht dankbar und zufrieden sein, wenn wir das erreicht haben: Eine Welt, in der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Hand in Hand miteinanderwalten und alle Menschen ohne Klassen- und Rassenunterschiede in Eintracht miteinander auskommen?
Sich dieser Aufgabe zu widmen ist doch Herausforderung genug angesichts einer Welt, in der so viele Menschen buchstäblich erfrieren, verhungern, verdursten und auf vielerlei Weise ausgestoßen am Rande stehen? Diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit zuerst überhaupt einmal als einen Makel wahrzunehmen und sich verpflichtet zu fühlen, dem mit allen Kräften entgegenzuwirken, hätten wir damit nicht genug zu tun und eine Lebensaufgabe aufgetragen bekommen – buchstäblich für ein ganzes Leben? Sollen wir uns dann auch noch mit Fragen beschäftigen, die unseren Horizont übersteigen und ins Unendliche führen?
Im ersten Zuhören erscheint es so, als würden uns die heutigen Worte Jesu nicht nur in eine andere Welt führen, sondern darüber hinaus auch in eine Mauer aus Angst und Bitterkeit einengen wollen. Wenn Himmel und Erde sowieso vergehen, was soll uns dann der arme Mann auf der Straße noch kümmern? Wenn sowieso alles Zugrunde geht, was Menschen sich füreinander aufbauen, warum sich dann noch mühen und anstrengen, dann soll doch jede und jeder machen was er und sie will. Zum Schluss werden doch eh alle in einen Topf geschmissen. Wenigstens bis dahin will man sich das Leben so angenehm wie möglich machen.
Weltuntergangsstimmung macht entweder zynisch oder ängstlich, und beide Befindlichkeiten werfen einen auf sich selbst zurück. Ein „Du“ oder sogar ein „wir“ findet keinen Platz mehr im Kopf und im Herzen; was einzig zählt ist die eigene Haut; nur so kann das Leben für einen noch Sinn machen. Weltuntergang, der ein absolutes Ende bedeutet, macht das Leben zu einem Überlebenskampf. „Nur die Harten kommen durch“. Das einzige, was wir brauchen, sind Schutzanzug und Boxhandschuhe.
Klar, dieses Szenario erschreckt uns alle. Aber spiegelt es nicht doch ein Stück unserer Wirklichkeit wieder? Vielen in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft gleicht das Leben doch einem Kampf, Erster, Bester, Größter, Erfolgreichster, Intelligentester zu sein oder zu werden. Die Qualität des Lebens misst sich an dem Platz, auf dem man steht: vorne oder hinten. Nichts gegen eine gesunde Portion Ehrgeiz und Selbstbewusstsein und auch nichts gegen ein gutes Quantum Leistungsbewusstsein. Aber wenn die Triebfeder all dessen ist, hier und heute deshalb das Beste herauszuholen, weil nur das hier und das heute zählt, dann bleibt nicht aus, dass unsere Erde zu einem einzigen Schlachtfeld wird, wo jeder gegen jeden kämpft.
Der Weltuntergang, den Jesus zeichnet, hat ein anderes Gesicht. Er malt nicht ein Bild vom Ende, sondern von der Voll-Endung. Nicht, dass das Leben an ein unweigerliches Ende kommt, ist vorrangig, sondern dass das Leben vollendet wird. Ohne die letzte Begrenztheit des Lebens zu verschweigen, verheißt Jesus aber darüber hinaus, dass alles Leben eben nicht nur endet, sondern voll-endet im wahrsten Sinn des Wortes. Das Leben endet voll. Nicht aus eigener Kraft, sondern aus verheißener und geschenkter Zu-Gabe. So, wie der Feigenbaum nicht aus sich selbst heraus Frucht tragen kann, sondern nur, wenn er gepflegt wird, wenn er bewässert und beschnitten wird, so wird auch unser Leben Frucht bringen, wenn wir erkennen, dass wir bei all unseren Fähigkeiten immer auch bedürftige und auch abhängige Wesen sind und wir dann Frucht bringen, wenn wir unsere eigenen Möglichkeiten zu ergänzen bereit sind mit dem, was außerhalb unserer Kraft liegt. Voll-Endung ist kein Endpunkt, den man mit einem Datum benennen könnte; Voll-Endung ist Lebensaufgabe. Wer der Verheißung der Voll-Endung vertraut, der sieht das Leben als Gabe und Aufgabe. Voll-Endung ist Leben hier und jetzt; aber eben nicht einzig darum, das Leben für sich zu krallen und anzuhäufen, sondern um Frucht zu bringen. Frucht, die der Welt, die den anderen schmeckt und die Welt und die Menschen sättigt.
Deswegen sind nicht die Boxhandschuhe und der Schutzanzug die Garanten des Lebens, sondern die offene Hand und das offene Herz.
Der heilige Martin hat dem armen Mann seinen Mantel, mehr noch aber seine offene Hand und sein weites Herz geschenkt. Mir ist der heilige Martin nicht nur eine träumerische Kindheitserinnerung, mit ist er bis heute lebendiger Verweis darauf, dass ein Mensch, der auf die Voll-endung durch Gott vertraut, sich den Menschen und der Welt verpflichtet weiß.
Christoph Simonsen