Gebt dem Tod seine Würde zurück
Es kommt nicht oft vor, dass man von einem Theaterregisseur zu einer Premiere eingeladen wird. Deshalb kann ich mich auch bis heute noch so gut an diesen grandiosen Abend im Bochumer Schauspielhaus erinnern. Heiner Müller’s Drama „Germania Tod: Berlin“ wurde aufgeführt. Ich hab mich an diesen unvergesslichen Abend diese Woche auch deshalb erinnert, weil ja gerade im Fernsehen die große Serie „Babylon Berlin“ gezeigt wird. Die Fernsehserie wie auch das Theaterstück ermöglichen einen düsteren Blick in die deutsche Geschichte.
in dem Drama von Müller sind einzelne aufeinanderfolgende Szenen aufgereiht, die jeweils unabhängig voneinander sind und Augenblicke der deutschen Geschichte interpretieren. Und in all diesen unterschiedlichen Szenen gibt es eine verbindende Persönlichkeit, die immer wieder in Erscheinung tritt – manchmal ganz leise, unauffällig, dann wieder plötzlich unerwartet mit großem Getöse, aber auch heiter und spielerlisch, dann wieder sarkastisch und plump. Immer wieder betritt er die Bühne, mal von vorn, mal von hinten, von rechts oder links, einmal sogar mit einem Seil von oben: der Sensemann. Der Tod ist ständig präsent auf der Bühne. Die politische Botschaft des Schriftstellers, der ja der linken Szene der ehemaligen DDR entstammte, war eindeutig: Deutschland hat immer wieder den Tod in die Welt hinausgetragen, angefangen beim tödlichen Streit der Nibelungen über die Kleinstaatenkriege hin zu den beiden Weltkriegen, ja sogar bis zu den politischen Auseinandersetzungen während des Nato-Doppelbeschlusses in den siebziger und achtziger Jahren. Der Tod spielt immer mit.
Und der Schriftsteller hat Recht damit. Der Tod ist nicht nur biologisch unausweichlich, er ist nicht nur schicksalhaft, viel zu oft ist er auch schuldbeladen. Es ist wie in dem Schauspiel: Irgendwie spielt er immer eine Rolle; man mag ihn in die Ecke stellen, man mag ich durch Siegesgeschrei überbrüllen wollen, man mag ihn sich zuweilen wegtrinken, man mag ihn aufs Mittelmeer verbannen, wo keine Kameras ihn dokumentieren können, man mag ihn an den Rand der Großstädte verbannen in noble Seniorenresidenzen, man mag ihn umbenennen dadurch, dass die Krankenkasse jetzt Gesundheitskasse heißt: Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen den Tod anderer zu verantworten haben. Er mag noch so schnell wieder vergessen sein, wir können sicher sein, dass er uns wieder einholt.
Jonas, der Student, der sich Anfang dieses Jahres das Leben genommen hat: ich hab seiner im März hier im Gottesdienst gedacht. Wenn auch konkret kein anderer seinen Tod zu verantworten hat, so ist doch unzweifelhaft, dass er gestorben ist, weil ihm das Leben in dieser konkreten Welt zu schwer geworden ist. Wer erinnert sich heute noch an ihn? Der Journalist, der im Hambacher Forst ums Leben gekommen ist: auch seiner wurde hier im Gottesdienst bedacht. Gar nicht lange her, ein paar Wochen erst, aber wer hätte ihn heute noch im Gedächtnis? Zwei junge Iraner, die im Winter letzten Jahres in ihrer Heimat gehängt wurden wegen ihrer Homosexualität. Längst vergessen! Die ermordeten Männer, Frauen und Kinder der muslimischen Minderheit der Rohingya in Bangladesch. Weiß jemand heute noch von Ihnen? Die Christinnen und Christen in Saudi Arabien die bis heute verfolgt und aus fadenscheinigen Gründen hingerichtet werden. Ein Dreizeiler wert und vergessen. Der Tod ist immer dabei und so tragisch er ist, so vermeidbar ist er oft auch, weil er von uns Menschen zu verantworten ist. Natürlich nicht von uns persönlich, aber wenn ich so sagen darf, von unserer Spezies: der Menschheit an sich. Ich will hier sicher nicht einer kollektiven Schuld das Wort reden, worauf ich hinaus möchte, ist etwas anderes. Es bedarf heute und eigentlich immer so etwas wie einer kollektiven Scham. Scham und Ehrfurcht braucht es, damit der Tod wieder den Stellenwert im Leben erhält, den er verdient: Der Tod ist der Moment im Leben, in dem sich alles Leben verdichtet und in Würde seinen Höhepunkt findet als Hinübergang auf Gott hin. Die Toten, jeder einzelne und die unzähligen Vielen sind unserer Ehrfurcht würdig und wir Lebenden müssen uns dank einer ehrlichen Scham immer wieder neu unserer Verantwortung bewusst werden. Aber was noch wichtiger ist: in solch einer Ehrfurcht hätte Gott eine Chance. Er hätte die Chance, uns berühren zu können. Menschen, die sich der Hybris hingeben, über Leben und Tod entscheiden zu können, kann Gott nicht berühren.
„Lass uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit“. Diese Offenheit auf Gott hin ermöglicht es, die Chance der menschlichen Schwäche zu erkennen. Diese Offenheit auf Gott hin ermöglicht es, dem Tod Würde und Respekt entgegenzubringen und ihn nicht mehr als Mittel eigenen Machterhalts wahrzunehmen. Gott zeigt Mitgefühl dem gegenüber, der schwach ist.
Der Hebräerbrief ist wohl in der Sprache wie auch in seinen Gedanken der schwierigste Text in der Heiligen Schrift. Er gilt als der Text, der am tiefsten die Menschwerdung Gottes reflektiert. Gott ist immer der Andere, der Unbegreifliche, der außerhalb alles Weltlichen Existierende. Und zugleich ist er der Nächste, der Solidarischste, der Vertrauteste. Er ist der, der dem Menschsein am nächsten kommt und zugleich ist er der, der dem Menschen am wahrhaftigsten zeigt, wie unmenschlich er – der Mensch – ist, indem er – Gott – uns in vollkommener Weise das Menschsein vor Augen führt. Jedem Lebewesen möchte Gott ein unverwechselbares Leben wie auch ein nicht fremdbestimmtes Hinübergehen in die Himmel schenken. Jeder Tod, jedes Sterben, das verursacht ist durch Menschenhand aufgrund von Machtüberschätzung, Besitzanspruch und Egoismus ist ein Eingriff in die Hoheit Gottes. Jeder Tod aber, der würdevoll und dankbar ein Leben an sein Ende bringt, ist ein Hinweis auf das Erbarmen und die Gnade Gottes, und den Lebenden die Hilfe gewährt, dem Leben wie dem Tod mit Ehrfurcht und Respekt zu begegnen. Die Geschichte der Welt schenkt uns auch dafür konkrete Beispiele: Zum Beispiel das Leben und Sterben des Erzbischofs Oscar Romero, der in diesen Tagen heiliggesprochen wurde. Er ist erschossen worden von Soldaten, weil er die Würde der Ärmsten in seinem Dienst hervorgehoben hat. Die vielen unwürdigen Tode, die die Menschheit zu verantworten hat: Sie mögen uns heute Mahnung sein, Leben und Tod in gleicher Weise die Ehre zu erweisen, die sie verdienen.
Christoph Simonsen