Schön, dass es nicht nur weiße und schwarze Schafe gibt

Das Bild einer Schafherde lässt einen leicht in idyllische Schwärmerei verfallen. Auch in der Heiligen Schrift kommen Schafe eigentlich immer gut weg. Denken wir an den guten Hirten, der für seine Schafe sorgt, denken wir an das verlorene Schaf, das dem Hirten so unendlich wertvoll und wichtig ist; bei Matthäus werden die Schafe beim jüngsten Gericht gerettet, die Böcke nicht; bei Jesaja ist das Bild der Schafherde ein Synonym für die Wanderwege der Menschen. Nicht zu vergessen, das Opferlamm, das unschuldige Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird.
Nun ist heute auch von einem Hirten und von Schafen die Rede im Evangelium. Aber  anders als sonst, differenzierter und tiefschichtiger.
Der Beginn des heutigen Evangeliums mutet uns Wahrhaftigkeit zu: Sich in eine fremde Wohnung durchs Fenster einzuschleichen ist unredlich. Sich in das Leben anderer einzuschleichen, um ihnen den Blick auf die Wirklichkeit zu rauben ist ebenso unseriös wie unredlich. Wer den Menschen den Zugang zur Wirklichkeit raubt, ist ein Dieb; denn er  stiehlt nicht nur Wertgegenstände, die uns das Leben ein wenig versüßen, nein, er stiehlt ihnen viel mehr den Boden, auf dem sie stehen, so dass sie haltlos werden.  Ohne einen stabilen Bezug zur Wirklichkeit fallen wir ins Uferlose, und das endet unweigerlich in Wahnsinn. Wer Harmonie vorgaukelt, wo Bedrängnis ist, der ist ein Dieb. Ist Harmonie also schlichtweg eine Utopie? Und „Leben in Fülle“ nur eine Vertröstung, wohin auch immer? Tragisch und traurig, wenn es wirklich so wäre!

Schauen wir noch einmal in den Text des Evangeliums.
Im Evangelium hören wir, dass der Hirt seine Schafe kennt, jedes einzelne bei seinem Namen. Das heißt: Der Hüter weiß um die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit jedes seiner Schafe. Jedes Schaf bedarf eines eigenen Zugangs, es gibt keinen Kamm, über den alle in gleicher Weise geschert werden können. Der oder die einzelne ist im Blickfeld Jesu, nicht die Herde. Ihm ist  wichtig, die Lebenswirklichkeit des einzelnen wahr zu nehmen. Und die Lebenswirklichkeit des einen ist immer verschieden von der des anderen. Die Lebenswirklichkeiten der Menschen sind so verschieden wie die Lebensgeschichten der Menschen.
Das verstehen die Jüngerinnen und Jünger nicht. Das hören sie wohl zum ersten Mal und nehmen es auch zum ersten Mal wahr, dass der einzelne Mensch es wert ist, in je eigener, unverwechselbarer Weise angesprochen und gefunden zu werden. Die Zuwendung zum einzelnen hin, das ist das wunderbar Neue. Jesus bringt ihnen nahe, welches Menschenbild Gott in seinem Herzen trägt. Jesus führt fort, was die Prophetinnen und Propheten des 1. Bundes vorbereitet haben. Gott ist ein Gott für die Menschen; er existiert nicht um seiner selbst willen, er ist um unsertwillen. Im 1. Bund wurde diese Botschaft in besonderer Weise gerichtet an das Volk Israel, an die Herde als Ganzes also. Jahwe ist der Gott des Volkes Israel. Der Bund, den Gott mit den Menschen schloss, den haben die Menschen verstanden als einen Bund mit dem Volk. In dieser Theologie sind die Jüngerinnen und Jünger aufgewachsen; sie verstehen sich als Glied des Volkes, eingebunden in diese Gemeinschaft. Diese Überzeugung entwickelt Jesus weiter: Eingebunden sein in eine Gemeinschaft heißt doch in letzter Konsequenz weiter, dass der einzelne Mensch als ein Glied des Ganzen, des auserwählten Volkes wahrgenommen wird. Die Werthaftigkeit des Volkes Gottes ergibt sich aus der Werthaftigkeit jedes einzelnen. Jesus schält sozusagen diesen göttlichen Blick auf den einzelnen Menschen als Subjekt, als ein aus sich heraus von Gott geliebtes Wesen heraus aus der Theologie des Volkes, die das 1. Testament beschreibt.
Jesus bezeichnet sich dann weiter als die Tür. Er, der ohne Vorbehalt und ohne Vorbedingung auf den Menschen zugegangen ist, er ist die Tür zu einem Leben in Fülle. Er, der sich den Menschen ungeschützt und offenherzig gezeigt hat, der sein Leben preisgegeben hat, der die Einzigartigkeit seines Lebens nicht als etwas Exklusives wahrgenommen hat sondern als ein Gottesgeschenk, das allen gegeben ist; er, der aus dem Rahmen des bis dahin Vorstellbaren herausgefallen ist, weil er sich in keinen Rahmen hat einsperren lassen; er, der einer neuen Wirklichkeit der Gegenwart Gottes zum Durchbruch verholfen hat, jenseits aller Schablonen und Denksperren: Er ist die Tür zu einem erfüllten Leben.

Sich frei bewegen, noch mehr: frei werden dürfen als einzelne und einzelner, dazu, so die Botschaft Jesu, verhilft dieser Gott. Die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen ist immer eine Subjektive, weil nämlich die Geschichte eines jeden Menschen einzigartig ist. Aus dem, was wir erlebt haben und wie wir es erlebt haben eröffnet sich unser Blick auf die Gegenwart. Jesus hat immer die Genese eines Menschen ernst genommen; er hat den Menschen, der ihm gegenübersteht immer als ein Individuum wahrgenommen und angenommen. Deshalb haben sich alle bei ihm aufgehoben gefühlt, weil ihr ganzes Leben in den Blick kommen durfte. Wir müssen es wagen, einander kennen zu lernen. Das ist das Schlüsselwort. Wenn wir bereit werden, einander kennen zu lernen, wenn wir die Lebenswirklichkeiten des und der je einzelnen wert zu schätzen lernen, dann berühren wir das Leben in Fülle, weil wir uns befreien lassen aus Vorgeprägtheiten und Sterilität.

„Euch und allen Kindern gilt die Verheißung“, hörten wir in der Apostelgeschichte, nicht wenigen, nicht einigen, nicht Auserwählten, sondern allen gilt die Verheißung Gottes, zur Freiheit berufen zu sein. In diese Freiheit finden wir, wenn wir einander diese geschenkte Freiheit auch gönnen. Die Erfahrung dieser Freiheit beginnt mit der Neugierde, einander unsere Geschichte und unsere Geschichten zu erzählen. Nur so werden wir einander gerecht; und was noch wichtiger ist: Nur so werden wir einander in ein Leben in Fülle begleiten können...Predigt am 07. Mai

Christoph Simonsen

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