Der Traum von der einen Menschheitsfamilie

Jesus gelingt das: Den Menschen das zu geben, was sie für ihr Leben brauchen, wirklich brauchen. Die große Menge der Menschen beschenkt er mit seinen befreienden Worten, die Gott greifbar nahe kommen lassen und die von der Arbeit ermüdeten und enttäuschten Fischer beschenkt er mit einem großen Fischfang.
Jesus hat die Menschheit im Blick ebenso wie den einzelnen Menschen. Jesus erkennt die Sehnsucht der Menschen nach Gott, ihre Suche nach dem Großen und Ganzen, nach Sinn und Erfüllung, aber er erkennt auch ihre ganz einfachen Bedürfnisse, schlicht etwas auf dem Teller zu haben. Jesus schenkt Zukunft, aber er schenkt auch Gegenwart.
Eigentlich ist es ganz selbstverständlich, aber es ist dann doch die große Kunst des Glaubens: Einen Blick zu haben dafür, woran es den Menschen mangelt.
Dieser einfache Mensch Jesus hat eine Ausstrahlungskraft die gut tut, die das Leben weit macht, die Menschen miteinander verbindet. Wenn wir auf sein öffentliches Wirken blicken: Der Blinde, der Gelähmte, der Aussätzige, der Enttäuschte, der vom gestrengen Gesetz Gefangene, der habgierige Zöllner, die stadtbekannte Dirne, einfach Menschen, die nach wirklichen, tragfähige Antworten auf ihre Fragen lechzen, alle, die von ihrem trockenen Alltag nicht mehr leben wollen und auch die Fischer mit ihrem leeren Magen und mit ihrer leeren Geldbörse: sie alle finden den Weg zu einem, der ein Ohr für ihre Wünsche und Sehnsüchte hat und ein offenes Herz. Keinem sagt Jesus, dass seine Wünsche unberechtigt seien, keinen lässt er mit den unerfüllten Hoffnungen alleine. Was wäre das für eine Welt, die diesem Jesus nacheifern würde.
Dieser einfache Blick Jesu auf das, was nottut, könnte auch heute eine wunderbare Strahlkraft in unsere Welt hineintragen. Woran mangelt es uns heute am meisten? An der inneren Überzeugung, nur gemeinsam die Fragen und Sorgen der Welt meistern zu können.
Ich bin ganz eingenommen von der Reise Papst Franziskus in die Vereinigten Arabischen Emirate. In eine seiner Reeden dort sprach er von der einen Menschheitsfamilie. Es mag verschiedene Religionsgemeinschaften geben, verschiedene Kulturen, verschiedene Traditionen; aber über aller Verschiedenheit steht die eine Wirklichkeit, in einer Familie verbunden zu sein, weil wir alle einen Ursprung haben: den Schöpfer.
Seine Begegnung mit dem Großimam Al Tayyib wird hoffentlich so unvergesslich bleiben, dass die Fundamentalisten aller Gruppierungen und Religionen endlich begreifen, dass sie im Unrecht sind. Das Friedenszeichen, das die beiden großen Männer des muslimischen und des christlichen Glaubens gesetzt haben, ist bisher beispiellos. Ich möchte Euch einen Abschnitt aus der Rede von Papst Franziskus wiedergeben, der wunderschön zum Ausdruck bringt, wie heilsam das Leben sein könnte, wenn wir einander wahrnehmen, was jede und jeder einzelne zum Leben benötigt: „Wenn wir an die Existenz der Menschheitsfamilie glauben, folgt daraus, dass sie als solche bewahrt werden muss. Wie in jeder Familie geschieht dies vor allem durch einen täglichen und wirklichen Dialog. Dies setzt die eigene Identität voraus, die man nicht aufgegeben muss, um dem anderen zu gefallen. Aber gleichzeitig erfordert es den Mut zur Andersheit, was die volle Anerkennung des anderen und seiner Freiheit miteinschließt, und das daraus folgende Bemühen, mich so einzusetzen, dass seine Grundrechte immer und überall und von allen anerkannt werden. Denn ohne Freiheit ist man nicht mehr Kind der Menschheitsfamilie, sondern Sklave. Unter den Freiheiten möchte ich die Religionsfreiheit hervorheben. Sie beschränkt sich nicht nur auf die freie Ausübung der Religion, sondern sieht im anderen wirklich einen Bruder und eine Schwester, einen Sohn und eine Tochter derselben Menschheit, denen Gott Freiheit gewährt und die daher keine menschliche Institution zwingen kann, auch nicht in seinem Namen.“ Ich möchte mir wünschen, dass auch unsere jüdischen Geschwister und die Menschen hinduistischen Glaubens sich diesem Gedanken anschließen. Die Welt wird dann anders aussehen und sie wird eine Zukunft haben.
Schauen wir wieder auf Jesus, der Vorbild für alle sein kann, nicht nur für uns Christinnen und Christen, denn den Juden ist er Bruder, den Moslems ein Prophet: Jesus hat kein Lasso benutzt, um Menschen einzufangen. Ganz im Gegenteil: Wer sich in Jesu Nähe wusste, der fühlte sich frei und er fand zu neuen Kräften, sich zu öffnen und zu entfalten. In Jesu Nähe wagten es die Menschen, frei und offen zu reden von ihren Träumen, mögen sie noch so unerfüllbar bisher gewesen sein. Menschen zu fangen heißt für den Botschafter Gottes: sie zu befähigen, die ihnen von Gott geschenkte Freiheit zu nutzen: die Freiheit der Gedanken, die Freiheit der Gefühle und darauf zu vertrauen, dass für Gott kein Ding unmöglich ist. Jesus fesselt die Menschen nicht mit Stricken, sondern mit Augen, die leuchten und mit Worten die befreien und mit einer Botschaft, die zur Liebe einlädt, weil sie selbst Liebe ist. Papst Franziskus hat in der vergangenen Woche in kaum vorstellbarer Weise gezeigt, dass Liebe alles andere als emotional ist. Nein, Liebe ist sehr konkret. Und nur so kann sie ihre Kraft entfalten.
Christoph Simonsen

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