Predigten Oktober – November 2015


Christkönig im Lesejahr B – 2015
Lesung: Daniel 7,2a.13b-14
Ich, Daniel, hatte während der Nacht eine Vision: Da kam mit den Wolken des Himmels  einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten / und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen / müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige,  unvergängliche Herrschaft.  Sein Reich geht niemals unter.Die entwaffnende Vision der Menschen guten Willens
„Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“. Viele von uns kennen diesen Spruch von Helmut Schmidt. Sind Visionen also Spinnern und Verrückten vorbehalten? Haben Visionen im konkreten gesellschaftlichen Leben nichts zu suchen? Oder noch krasser gefragt: Erwachsen unter Umständen aus Visionen sogar unverantwortliche Handlungsweisen, die Menschen Schaden zufügen und das Zusammenleben gefährden?  Nicht wenige denken so. Zur Zeit von Helmut Schmidt galt es, das Gleichgewicht des Schreckens zu wahren. Pershings standen den SS20 gegenüber. Die Atomraketen wurden gegeneinander aufgerechnet. Sicherheit war gewährleistet, wenn keine der beiden Weltblöcke einen Überhang an atomarer Stärke hatte. Wer dann bei Demonstrationen die Heilige Schrift zitierte und rief: „Schwerter zu Pflugscharen“, der wurde in eben diese Ecke gestellt, ein Visionär zu sein. Ihnen galt dieser unwirsche Rat, zum Arzt zu gehen, denn Schmidt hielt sie für unrealistische Schwärmer, die den Frieden in Europa gefährden. Die Heilige Schrift gehöre auf die Kanzeln der Kirchen, nicht aber auf die Rednerpulte der Parlamente.Gleichwohl waren dem in der vergangenen Woche verstorbenen ehemaligen Bundeskanzler die christlichen Werte nicht nur vertraut, sie waren ihm auch lebensbestimmend und sie waren ihm Richtschnur für sein politisches Handeln. Und 40 Jahre nach dieser bedrohlichen Situation geben die meisten heute dem ehemaligen Kanzler recht: Das Aufrüsten der Waffenpotentiale bis zu einem Gleichgewicht hat den Frieden sicherer gemacht. Dennoch glaube ich, hat Helmut Schmidt mit seiner Einschätzung der Friedensdemonstrationen damals den Menschen Unrecht getan. Vielleicht hat er zwei Begriffe nicht genügend differenziert, denn sein Anliegen wäre, so glaube ich heute, klarer formuliert, hätte er anstatt „Vision“ „Utopie“ gesagt. ‚Wer Utopien nachläuft, der solle zum Arzt gehen‘.  Ohne Visionen ist das Leben des Menschen perspektivlos. Ohne Visionen wird alles Leben fahl und beliebig. Wir Menschen brauchen Visionen, die uns antreiben, dem Leben Sinn zu geben. Was dagegen dem Leben Schaden zufügt, sind selbstgemachte und unerreichbare Utopien, die keine Verknüpfung haben mit der Realität des Lebens.Freitag der 13. war ein Schicksalstag für viele Menschen. Ein unvorstellbarer Terrorakt hat Menschen mitten aus dem Leben gerissen. Menschen, die vielerorts das Leben feiern wollten ist das Leben genommen worden. Familien sind in unendliche Trauer geworfen, einem ganzen Land ist die Würde genommen worden. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ diese große Vision, die einzige Art menschlichen Zusammenlebens, wie Gott es sich gedacht hat, liegt zertrümmert am Boden. So scheint es. Aber empfindsame Menschen hier im freien und aufgeklärten Europa fühlen gerade jetzt in niederschmetternder Weise, wie Menschen in den Ländern fühlen müssen tagaus und tagein in ihrer angestammten Heimat, die ihnen zur Mördergrube wurde und die deshalb Zuflucht bei uns suchen.
Utopisch ist es dagegen zu glauben, dass Racheakte und Vergeltungsschläge wieder gut zu machen vermögen, was zuvor zerschlagen wurde.Die Vision eines geschwisterlichen Zusammenlebens, die Vision, frei und selbstbestimmt seine Wege gehen zu können, die Vision der gleichen Würde aller Menschen ermutigt die vielen Flüchtenden, all das zu verlassen, was ihnen Heimat und Sicherheit gibt und sich auf den Weg zu machen in neue Länder, die ihnen Heimat werden möchten; und die Vision ermutigt die Franzosen und alle, die sich ihnen solidarisch fühlen, sich nicht der Logik des Terrors zu unterwerfen, sondern dem zu trotzen, was unfrei macht und feindlich gesinnt ist. Visionen im guten Sinne verbinden, versöhnen, überwinden Gräben und bauen Brücken. „Was krumm ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden.“ Diese Vision des Propheten Jesaja nimmt Gestalt an in dem Menschensohn, den Daniel in seiner Vision erkennt und der in Jesus Christus dann später Mensch geworden ist. Er wird den Hochbetagten (wie Daniel sie nennt), den Weisen und Erfahrenen, den Mächtigen und den Verantwortlichen Zeugnis von einer Wahrheit ablegen, die einzig in dieser Vision grundgelegt ist, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.Es wundert nicht, dass am letzten Sonntag des Kirchenjahres, bevor nun die Zeit des Advent beginnt, die Texte der Heiligen Schrift daran erinnern. Gott selbst ist der Vater dieser Vision und wer immer diese Vision in sich trägt, der trägt Gott in sich. Diese göttliche Vision ist das Gegenteil dessen, was andere visionär nennen aber nichts anderes ist als fanatischer Terror und blinder Egoismus. Die sich Kämpfer im Namen Gottes nennen, die sich leiten lassen von der wahnwitzigen Vision, das Werk Gottes zu verrichten, indem sie Menschen töten und in Angst und Trauer versetzen, um die Spreu vom Weizen zu trennen, verraten eben diesen Gott und maßen sich an, seine Stelle einzunehmen. Nicht der blutige Kampf Mann gegen Mann, System gegen System, Staat gegen Staat wird jemals ermöglichen können, dass diese Vision erkennbar, erfahrbar, erlebbar wird, sondern einzig das Eintreten für die Wahrheit, dass Gott ein Gott der Barmherzigkeit ist, ein Gott, der das Leben will, wird dazu führen, dass diese Vision zur Wirklichkeit wird. Es ist keineswegs utopisch, Waffenhandel zu unterbinden; es ist nicht utopisch, Konzerne, die mit der Waffenproduktion Unsummen von Geld zu verdienen, umzurüsten, und Mähdrescher und Pflugscharen zu bauen. Dies alles mag visionär sein, aber es ist nicht utopisch, will heißen, es ist nicht unmöglich, es ist nicht jenseits aller menschlicher Vorstellungskraft. Aber es muss gewollt sein. Diese Vision, die im letzten eine Vision Gottes ist, die uns ins Herz gelegt wurde: Für diese Vision bin ich nicht bereit, zum Arzt zu gehen. Dafür gehe ich lieber auf die Straße.
Erlaubt mir ausnahmsweise, meine Gedanken mit einem Gebet zu beenden, dem Gebet der französischen Bischofskonferenz, welches sie nach dem grausamen Terrorakt in einer Gedenkfeier gemeinsam gebetet haben:
„Herr, entwaffne sie – und entwaffne uns! Entwaffne sie. Wir wissen, dass diese extreme Gewalt das tägliche Brot im Irak, in Syrien, Palästina, Zentralafrika, Sudan, Eritrea und Afghanistan ist. Heute hat sie sich unser bemächtigt.
Entwaffne sie, Herr. Lass in ihrer Mitte Propheten aufstehen, die ihre Abscheu und ihre Scham herausschreien darüber, wie sehr das Bild des Menschen, das Bild Gottes entstellt worden sind.
Entwaffne sie, Herr. Gib uns alle nötigen Mittel, um Unschuldige entschlossen zu beschützen. Aber ohne Hass. Entwaffne auch uns, o Herr: In Frankreich, im Westen … hat uns doch die Geschichte einiges gelehrt… Lass uns nicht in Verzweiflung versinken, auch wenn wir bestürzt darüber sind, wie weit sich das Böse in dieser Welt verbreitet hat.
Entwaffne uns und gib, dass wir uns nicht hinter verschlossenen Türen, betäubten Erinnerungen und Privilegien, die wir mit niemandem teilen wollen, verschanzen. Entwaffne uns, damit wir deinem Sohn ähnlich werden. Nur seine Logik ist wirklich auf der Höhe dessen, was uns widerwahren ist: „Nicht sie nehmen mir das Leben, sondern ich bin es, der es dahingibt.“Christoph Simonsen


„Wer will ich sein?“ – Ökumenischer Hochschulgottesdienst von KHG und ESG am S. 15.Nov.

„Wer will ich sein?“

Paris?
Der Libanon?
Amerika?
Der Irak?
Christ?
Deutscher?
Geschöpf?
Macher?
Bin ich begnadet?
Bin ich Gnade?
Bin ich gesegnet?
Bin ich Segen?
Bin ich frei?

Der heutige Abschnitt aus dem Paulusbrief an die Römer hat überaschende, teilweise unangenehme, aber auch realistische Antwortmöglichkeiten.

Aber er benutzt zwei Worte, die heute abgenutzt und theologisch parfümiert klingen. Und wenn „Liebe“ für manche Theologenduft mit Pilcher-Nachgeschmack ist – dann ist „Sünde“ für viele eher Marke „nasser Hund“.

Bis vor einigen Jahren konnte ich mit dem Begriff „Sünde“ überhaupt nichts anfangen. Es schwingt so viel an Vorwurf, an Verurteilung und an Abwertung mit. Es erinnert mich an mittelalterliche Bußregister und an elterliche Strafpredigt. Aber dann erhielt ich -ausgerechnet durch eine Erklärung meines Dogmatikprofessors- eine andere Sicht, die mir überraschend lebensnah schien. Und direkt mit dem Begriff „Liebe“ zusammen hängt.

Was ist Liebe? – Liebe ist das unbedingte Anerkennen des Anderen als Anderen. Wenn ich jemanden liebe, dann will ich, dass er er ist (oder dass sie sie ist). Wer liebt, will den anderen nicht als erstes verändern. Alain de Botton bemerkte einmal sehr treffend: Selbst auf die Frage „Warum liebst Du mich nicht mehr?“ gibt es genau die gleiche Antwort wie auf die Frage „Warum liebst Du mich?“ In beiden Fällen lautet die Antwort letztlich: Weil Du Du bist.

Natürlich ist auch bei Liebenden nicht immer alles einfach und wunderbar. Natürlich können sie an Situationen verzweifeln. Aber dann wünscht man veränderte Situationen, geheilte Zustände. Frei nach einem Kirchenvater des 3. Jahrhunderts: Wer „Ich liebe Dich“ sagt, sagt „Ich will, dass Du bist.“ Wer jemanden liebt, wünscht nicht zugleich, der andere sei jemand ganz anders.

Wenn nun Gott „die“ Liebe ist – und zugleich der für Menschen nicht mehr begreifbar Andere, der jeden Einzelnen von uns genauso anders seiend will, wie er, Gott, selber ist, dann folgen daraus zwei Konsequenzen zum Sündenverständnis:

  1. Sünde ist dann der Versuch, Gott zu imitieren, zu kopieren, genauso zu sein wie er. Denn damit würde das Anderssein des Menschen, aber auch Gottes Anderssein, angegriffen. – Interessant ist dabei die andere Seite der Medaille. Denn gerade wer auf die Weise „wie Gott“ ist, dass er -gewissermaßen im Kleinen- so anders ist, wie Gott es im Großen ist – der begeht eben gerade keine Sünde.

Wir sollen anders sein. Eigen. Besonders. Keine Kopien. Wir sind alle Originale. Aber Anderssein geht nicht alleine. So kommen die Mitmenschen in den Blick:

  1. Sünde ist auch der jede Behinderung eines Menschen in seinem Anderssein. Hier zeigt sich die Verbindung von Freiheit und Liebe. Und nach dieser Definition wird es mir selber unmöglich, zu behaupten, ich hätte nie gesündigt. Denn ich schaffe es in meinem Leben nicht, jedem einzelnen Menschen gerecht zu werden. Ich schaffe es nicht, weil ich manchmal keine Zeit habe, manchmal keine Geduld, manchmal bin ich blind. Und das schließt meine Haltung mir selber gegenüber mit ein: Bin ich selber wirklich zu jeder Zeit ich selber?

„Sünde“ heißt im Griechischen so viel wie „ein Ziel verfehlen“ – und so sagen wir ja auch, dass wir „gefehlt“ haben, wenn wir einen „Fehler“ gemacht haben.
Ein letzter Verständnishinweis noch zu Paulus: Wenn er vom Fleisch spricht, meint er damit weder Grillgut, noch das, was wir jeden Morgen aus dem Bett schleppen. Zumindest nicht ausschließlich. Der Körper ist für Paulus der gesamte Mensch – ohne das was er Geist nennt. Das schließt z.B. auch seine Entscheidungen, seine Taten, sein Instinkt, seine Reflexe. Wenn Paulus vom Fleisch spricht, meint er den ganzen Menschen, soweit er zur „sündigen“, also in sich mit Fehlern behafteten Welt gehört. Meint er den Menschen, der in die neue Schöpfung eingeht – dann spricht er vom Leib.

Paulus Brief an die Römer (7, 14-25; Übersetzung – Zürcher Bibel 2007)

  1. Wir wissen ja, dass das Gesetz zum Geist gehört;

ich dagegen bin vom Fleisch bestimmt – und verkauft unter die Sünde.

Was ich bewirke, begreife ich nicht;

denn nicht, was ich will, treibe ich voran, sondern was ich hasse, das tue ich.

Wenn ich aber gerade das tue, was ich nicht will, gestehe ich dem Gesetz zu, dass es Recht hat.

Dann aber bin nicht mehr ich es, der handelt, sondern die Sünde, die in mir wohnt.

  1. Denn ich weiß: In mir, das heißt in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes.

Denn das Wollen liegt in meiner Hand, das Vollbringen des Rechten und Guten aber nicht.

Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das treibe ich voran.

Wenn ich aber gerade das tue, was ich selbst nicht will,

dann bin nicht mehr ich es, der handelt, sondern die Sünde, die in mir wohnt.

  1. Ich entdecke also folgende Gesetzmäßigkeit (nomos): Dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse nahe liegt.

In meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes, in meinen Gliedern aber nehme ich ein anderes Gesetz wahr, das Krieg führt gegen das Gesetz meiner Vernunft und mich gefangen nimmt durch das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.

Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib?

Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!

Also gilt: Mit der Vernunft diene ich dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde

Nachdem ich vor kurzem den Abschnitt noch einmal las, fiel mir das Zitat von Karl Valentin ein: „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.“ Paulus wiederholt sich, schreibt gewissermaßen zwei nahezu gleiche Strophen mit abschließendem Jubel. Das macht das Lesen ermüdend.

Denn eigentlich sagt Paulus uns: Wir wollen gut sein – aber wir tun das Schlechte. Und diese Spaltung geht mitten durch uns hindurch.

Und Sünde betrifft dabei alle, es gibt bei Paulus keinen Hinweis, dass besondere Menschen dem „Gesetz der Sünde“ nicht unterworfen seien.

Darum schätze ich Paulus‘ Gebrauch des Wortes „ich“. Ob er damit wirklich sich selber meint ist bei Fachexegeten umstritten. Aber er lenkt damit meine Aufmerksamkeit auf mich. Ich lese keinen Text über Menschen und denke „die anderen“. Ich muss mich mit mir selber auseinandersetzen.

Und Paulus gesteht klar ein, dass es unausweichlich im Leben Scheitern gibt. Das unterscheidet ihn von vielen Aussagen, die mir in meiner Arbeit begegnen, wo Menschen an den empfundenen hohen Ansprüchen scheitern. Wo Menschen glauben, sie müssten „besser“ sein.

Das ist aber zugleich auch der Aspekt der mich an dieser Stelle am meisten stört. Sünde ist bei ihm unausweichlich. Die Freiheit Gutes zu tun, wird hier nicht mitgedacht. Aber wenn immer die Sünde in meinem Körper handelt, ist das genauso unfrei, wie es eine Welt ohne Böses wäre. Dabei leben wir doch in einer Welt, in der Gutes wie Böses geschieht. Weil wir Freiheit mit unserem Leben mitgeschenkt bekommen. Weil wir die Wahl haben, wer wir sein wollen.

„Wer wollen wir sein?“

Mir ist die Frage noch nicht präzise genug. Es gilt zwei mögliche Bedeutungen der Frage auseinanderzuhalten: „Wer bin ich?“ und „Was bin ich?“

„Was ich bin, hat fast gar nichts damit zu tun, wer ich bin. Es hat vielmehr nur mit der Fehlbildung zu tun, wie jemand glaubt, erscheinen zu müssen, um Status und Macht gegenüber anderen zu behaupten. Folglich verwandeln sich Menschen in Wesen, die, wie Kierkegaard es so prägnant formulierte, völlig im Bann des Bedürfnisses nach Anerkennung von Leistungen stehen.“ (Arno Gruen, Dem Leben entfremdet, München 2013, 13.f.)

Damit wir uns nicht missverstehen. Studenten müssen sich Leistungen anerkennen lassen. Man könnte jetzt ausführlich diskutieren, ob das in dem Maß geschehen muss, wie es seit den letzten Reformen an der Tagesordnung ist. Aber ohne Leistungen funktioniert natürlich auch wieder nichts. Relevant ist hingegen, wie sie jeder einzelne zu ihnen positioniert. Zieht er sein ganzes Selbstverständnis aus ihnen? Oder nimmt er sie mit, wie einen Ast, der auf einer Bergwanderung als Wanderstab dient?

„“Wer bin ich?“ Diese Frage erfordert eine ständige Konfrontation mit sich selbst und schließt eine Verantwortung für das eigene Tun, das eigene (Da-) Sein, mit ein. Diese Selbsterkenntnis bringt die „Erkenntnis des Schmerzes“ (Carlo Emilio Gadda), des eigenen Schmerzes genauso wie des Schmerzes der anderen mit sich, und lässt die eigenen Grenzen, aber auch die der anderen spürbar und wahrnehmbar werden.“ (Arno Gruen, Dem Leben entfremdet, München 2013, 13.f.)

Die Frage „Wer bin ich“ zielt somit auf Selbsterkenntnis und Selbstannahme. Es ist die angewendete Eigenliebe im Sinne der eingangs aufgestellten Definition. Und das hat sie mit Paulus gemeinsam. Jeder hier kann selber entscheiden, wie weit er Paulus Diagnose teilt.

Zudem aber öffnet sie auch erst den wahren Blick auf andere. Wer nur „was“ sein will, also jemand, der sich im Konkurrenzkampf mit anderen behauptet und definiert, kann den anderen auch nur als Konkurrent, als Gegenspieler wahrnehmen. Wer hingegen fragt „wer“ er ist, kann diese Frage auch an Fremde herantragen.

Wer mit der Frage „Wer bin ich“ sich selber nachfühlt, erfüllt den zweiten Teil des Gebots „Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst.“ und landet damit fast automatisch bei der Nächstenliebe. Weil er sein eigenes Anderssein erkennt und damit auch andere annehmen kann.

Der letzte Schritt ist das Gebot der „Feindesliebe“. Und ich gebe zu: Bei Menschen, die ein Attentat verüben, scheint dies nahezu unmöglich. Das Einzige was ich bisher zumindest für einen ersten Schritt halte: Ich kann mich auch bei den größten Verbrechern nicht an ihrem Tod freuen. Ich bekomme es nicht hin. Ich halte ihren Tod weder für gerechtfertigt noch für etwas zu Bejubelndes. Und ich bleibe unruhig, wenn ich keinen Grund für ihr Handeln erfahren kann. Keinen, den ich nachvollziehen kann. Nichts davon rechtfertigt das große Verbrechen, dass sie begangen haben. Aber nichts ihrer Verbrechen rechtfertigte weitere Tötungen.

Störrisch halte ich an der Feindesliebe fest. An dieser verblüffenden Haltung Jesu, der sagte „Halte die andere Wange hin.“ Vieles ist darüber theoretisiert worden. Dass man die rechte Wange hinhalten soll, weil der Gegenüber verwirrt feststellt, dass man da gar nicht so leicht draufschlagen kann. Als Rechtshänder. Oder dass die römischen Besatzer im Unterschied zu den jüdischen Einwohner mit dem Handrücken schlugen und damit eben die rechte Wange trafen.

Letztlich aber besagt die Aufforderung genau eines: Die Gewaltspirale zu unterbrechen. Einfach nicht mehr mitzumachen.
Das fordert von uns nichts Einfaches. Es fordert die Fähigkeit, in schweren Augenblicken die Trauer an die Stelle der Rache zu setzen.

 

Der Predigt folgte eine auszugsweise Lesung des Textes „Die Welt ist unbewohnbar“ von Eugène Ionesco. [Eugène Ionesco: Werke. Bd. 6. Prosa.-2 Hrsg. Von François Bondy u. Irène Kuhn. München: Bertelsmann 1985. P. 553-556. Erstveröffentlichung in Le soir (Brüssel), 14.Februar 1979.]

Nachträglich verschriftlichte Fassung von Tobias Kölling, Pastoralassistent in der KHG


32. Sonntag im Jahreskreis B – 2016

Evangelium: Markus 12,41-44
Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.

Entspann dich: zeig dich mal wieder
Habt ihr auch so einen praktischen verlängerten Arm, an dem ihr euer Handy befestigen könnt, um dann kunstvoll ein Selfie zu fotografieren?  „Ich war hier“, so kann man denn anderen dokumentieren. ‚Ich, vielleicht mit einer Freundin oder einem Freund, habe diesen Ort oder jene Landschaft besucht. Ich war bei dieser Fete oder bei jener außergewöhnlichen Lokation‘.

Wie kommt es, dass dieser Wunsch, dieses Bedürfnis, sich selbst anderen zu zeigen, immer mehr an Interesse gewinnt? Mir scheint  zumindest so, dass dem so ist. Sicher mag es viele Beweggründe dazu geben, ernst zu nehmende und auch weniger schmeichelhafte. Und ich will jetzt nicht mehr hineindeuten als notwendig ist, schließlich ist diese Selfie-Tradition für viele ja auch nur ein netter Spaß. Aber ich hege doch die Vermutung, dass dieser Wunsch, sich selbst in Erinnerung zu rufen, auch in einer gewissen Angst oder Sorge  begründet ist, in dem ganzen Gemengelage von Globalisierung und Vermassung unserer Gesellschaft unterzugehen. ‚Ich bin auch da, nicht nur die großen dieser Welt, nicht nur die vielen, die in der ersten Reihe stehen und täglich die Zeitungsgazetten füllen.‘

Wenn ich im Kreis einer Familie oder auch hier in unserer Gemeinschaft ein Kind taufen darf, dann sage ich immer sehr gern, dass sich mit diesem neuen Erdenbewohner das Angesicht der Welt erneuert und reicher wird an Menschlichkeit. Welche Mutter und welcher Vater hören das nicht gern, dass ihr Kind ein wunderbares und einmaliges Erdengeschöpf ist!  Aber das ist nicht nur einfach so daher gesagt von mir. Nein, davon bin ich wirklich überzeugt, wer sich als Kind Gottes erfährt und wem diese Kindschaft zugesprochen ist, der ist für diese Welt unverzichtbar, der hat dieser Welt was zu sagen und zu geben und der wird die Kraft und die Phantasie haben, dieser Welt ein neues Gesicht zu geben, ein menschliches Gesicht.

Und nichts brauchen wir doch heute mehr, als einander immer wieder diese gute Chance zu schenken, in Gesichter zu schauen, die von Menschlichkeit gezeichnet sind, die Zuversicht ausstrahlen und die in ihren Augen ein großes „Ja“ aufleuchten lassen: ‚Ja, wir finden in diesem Leben Sinn. Ja, wir nehmen dieses Leben ernst und wir freuen uns an ihm. Und: Ja, wir schaffen das. Uns wird dieses Leben gelingen.‘ Gerade heute, wo immer mehr Menschen lautstark und oft aggressiv
überzeugt kundtun, dass wir es nicht schaffen, dass wir uns schützen müssen, dass wir Vertrautes von Fremdem trennen müssen, gerade deshalb sind die wichtiger als je zuvor, die davon überzeugt sind, dass uns das Leben mit und trotz der vielen Herausforderungen gelingen wird.

Wenn Selfies nur ein Spaß sind, ok, dann ist es so. Aber vielleicht können wir sie auch mal ernster unter diesem Aspekt betrachten: Als ein öffentliches Bekenntnis dafür, seine Unbefangenheit, seine Fröhlichkeit, sein Bekenntnis zu diesem Leben, zu dieser Welt zu bekunden und als eine Ermutigung für andere, sich auch zu zeigen. Es zeigen sich in unseren Tagen so viele Verzerrungen von Menschlichkeit, dass ich um jedes Bild froh und dankbar, das Zuversicht ausstrahlt. Und ein sich zeigen ist immer auch ein sich schenken.

Die arme Witwe, die uns Jesus im Evangelium als Vorbild zeigt, sie hätte allen Grund gehabt, sich nicht zu zeigen, sich vielmehr zu verstecken: Sie war arm, sie hatte nichts, und wenn sich einer nach ihr umgeschaut hat, dann sicher nicht liebevoll sondern eher verächtlich. Aber diese alte Frau zeigt sich in ihrer Armut. Sie zeigt sich und sie schenkt sich; sie zeigt ihre Armut, sie zeigt ihre Bedürftigkeit und ihre Unvollkommenheit. Sie schämt sich nicht dafür, nicht ins glatte Bild der Gesellschaft hineinzupassen: Sie zeigt sich und sie schenkt sich. Nicht, dass sie einen für die anderen doch eher unbedeutenden Geldbetrag opfert, macht sie so außergewöhnlich. Nein, das ist es nicht. Sie bereichert ihre Umgebung, weil sie  all den anderen verhärteten Gesichtern ein menschliches Gesicht entgegenstellt. Jesus stellt den selbstgerechten und selbstverliebten Schriftgelehrten diese alte Frau als Vorbild vor Augen, unübersehbar.

Diese alte Frau wurde auch ohne Handykamera zu einem herausfordernden Selfie für all jene, die wohl irgendwann in ihrem Leben verlernt haben, sich in dankbarer Weise zu zeigen. Denn anstatt ihrer selbst und der Einmaligkeit ihres Wesens und ihrer Persönlichkeit haben sie nur noch eine kalte und lieblose Schablone dessen gezeigt, was sie einmal waren. Die Schriftgelehrten wollten nicht schenken, aus Angst zu verlieren; sie wollten absichern, was sie hatten und haben dabei sich selbst verloren. Die Witwe aber, sie hat alles gewonnen, denn wer sich zeigt und wer schenkt, der gewinnt auch.

Ich würde mich freuen, wenn dieser Selfie-Boom nicht nur ein großer Spaß wäre, sondern eben auch diese innere Haltung zum Ausdruck bringt, sich mit Freude und Zuversicht zu zeigen und zu schenken, damit wir alle dadurch gewinnen. Denn jedes menschliche Gesicht, das sich dem anderen zuwendet, vertreibt die Angst vor dem anderen, der doch nichts anderes ist als unser Nächster.

Christoph Simonsen


Allerheiligen 2015

Evangelium Matthäus 5,1-12a
Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie.
Er sagte: Selig, die arm sind vor Gott; /
denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; /
denn sie werden getröstet werden.
Selig, die keine Gewalt anwenden; /
denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; /
denn sie werden satt werden.
Selig die Barmherzigen; /
denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die ein reines Herz haben; /
denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; /
denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.
Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; /
denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.
Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein.

Es braucht mehr Trapezkünstler und Clowns
Vielleicht kennt ihr das auch, dass einem plötzlich Gedanken in den Kopf steigen über die man sich selbst wundert. „Wie komm ich denn jetzt da drauf?“, fragt man sich dann allein im Stillen.
So ging es mir am vergangenen Montagabend. Meistens schaue ich mir Anfang der Woche schon die Bibeltexte an, die am folgenden Sonntag dann im Gottesdienst bedacht werden wollen. Und ich weiß nicht wie und warum, aber ich erinnerte mich an Kinderzeiten, in denen ich mit meinem Vater in den Zirkus gegangen bin. Wir beide waren begeisterte Zirkusfreunde. Ich hab schnell versucht, den Schalter im Kopf abzustellen, denn was um Himmels willen hat das kirchliche Fest Allerheiligen mit einem Zirkus zu tun? Nichts! Oder vielleicht doch? An diesem Abend erschloss sich mir jedenfalls kein Zusammenhang. Tags drauf hab ich einen neuen Versuch gestartet, aber auch da kriegte ich den Zirkus nicht aus dem Kopf. Also dachte ich mir, da muss vielleicht wirklich ein Zusammenhang bestehen. Das war in den 60iger Jahren, als es noch die großen Zirkusunternehmen gab: Zirkus Krone aus München oder der Schweizer Nationalzirkus. Es war auch in den 60iger Jahren, als mein Vater sich entschieden hat, ein Wagnis einzugehen und neu gebaut hat. 1966 sind wir umgezogen und mein Vater eröffnete seinen eigenen kleinen Lebensmittelladen. Auf knapp hundert Quadratmetern gab es alles für den Alltag. Ich hab als Kind immer gesagt: Bei uns gibt es alles von Grünkohl bis zum Bohnerwachs. Und so war es auch. Damals war mir natürlich nicht bewusst, welch großes Wagnis mein Vater da eingegangen ist. Heute weiß ich, wie schwer es für ihn war, mit seinem kleinen Tante Emma Laden gegenüber den damals schon aufkeimenden großen Discountern zu konkurrieren. Vielleicht war die Zirkuswelt so etwas wie ein Gegenmodell zu unserem Familienleben. Natürlich ist mir heute bewusst, dass auch ein Leben in und mit dem Zirkus alles andere als paradiesisch ist. Was für mich und ich glaube auch für meinen Vater nach Freiheit und Abenteuer roch, das roch für die Artisten dort sicher eher nach Pferdemist und Achselschweiß. Der Besuch im Zirkus für uns beide damals war dennoch so etwas wie ein Ausbrechen aus der Normalität des Alltags.

Der Zirkus fiel aus dem Rahmen unseres Lebens heraus. In unserem Leben musste immer alles passen. Und den Rahmen bildeten vorgegebene Normen und Konventionen. Einen, der auf dem Hochseil tanzt nur so, weil er es kann, ohne dass es einen nachhaltigen Nutzen oder Gewinn hat, den haben wir für zwei Stunden bestaunt und bewundert und waren womöglich sogar ein bisschen neidisch, denn wir wussten, tags darauf musste ich nach der Schule wieder an die Obsttheke und mein Vater hinter den Fleischtresen. Und was damals galt, ist auch heute vielen noch Lebensgrundlage: Wer in Sicherheit leben will, der darf sich nicht irgendwelchen Experimenten oder überflüssigen Spinnereien hingeben.

Die Heiligen, deren Leben wir heute ehrfürchtig anschauen – und hier spannt sich der Bogen zwischen der Zirkuswelt und dem heutigen Fest – diese Heiligen bestaunen wir in der Kirche, verehren wir sogar, aber ansonsten hat das gläubige Leben bitte gefälligst in geregelten und geordneten Bahnen abzulaufen. Die Kirche klopft sich selbst auf die Schulter, weil sie die doch eigentlich selbstverständliche freie Rede in der zurückliegenden Bischofssynode als bahnbrechende Errungenschaft verkauft. Dabei ist nichts, aber auch gar nichts Neues in dem Schlussdokument zu erkennen, so dass der Theologieprofessor Hans Joachim Höhn schlicht feststellt: „Man ist im Soll geblieben und verzeichnet dennoch einen Zuwachs auf der Habenseite.“
Menschen, die darauf gewartet haben, endlich, endlich nach so vielen Bekundungen der Wertschätzung, nicht allein aus Barmherzigkeit, sondern aus ehrlicher Überzeugung nicht mehr nur als Mitglieder zweiter Klasse wahrgenommen werden, wurden vollends enttäuscht. Diese Kirche, die sich so selbstverliebt auf die Schultern klopft, feiert heute einen heiligen Franziskus oder einen heiligen Don Bosco und all die anderen, die geehrt werden, nicht weil sie Teil des Systems waren, sondern weil sie aus dem Rahmen gefallen sind. Wir feiern heute Menschen, die daran geglaubt haben, dass in jedem Geschöpf Gott selbst zuhause ist. Wir feiern Menschen, die gesucht und gerungen haben mit sich selbst und mit Gott und nicht selten auch mit Oberen und Vorgesetzten. Wir feiern Menschen, die eine Vielfältigkeit der Gegenwart Gottes in dieser Welt bezeugten. Und wir: Wir sind schon dankbar um eines gegenwärtigen Papstes, der eben dies alles auch versucht und dann doch von seinem eigenen System ausgegrenzt wird.

Es ist sicher kein Zufall, am heutigen Allerheiligentag die Seligpreisungen zu hören. Die Heiligen, sie waren und sind wohl Menschen, die in den Preisungen eine Handlungsaufforderung für sich erkannt haben. Wenn also die Seligpreisungen so etwas wie ein Aushängeschild unseres Glaubens sein möchten, nicht nur eine fromme Erwartungshaltung ausdrücken, sondern ein konkreter Aufruf sind, wenn sie das Werkzeug sind, den einengenden Rahmen eines Christentums aufzubrechen, das nur im abgesicherten Modus zur Zeit funktioniert, dann müssen wir wohl ran, wir und alle, die darauf vertrauen, dass Gottes Auftrag ist, Mauern  und Stacheldrahtzäune niederzureißen und Brücken zu bauen zwischen arm und reich, zwischen oben und unten, zwischen mächtig und ohnmächtig. Die Heiligen sind uns Vorbild und Mahnung, Herrschaftsstrukturen darauf hin zu prüfen, ob sie dem Brückenbau dienen oder dem Machterhalt.

Auch wenn es den Zirkus, so wie es ihn damals zu meiner Kinderzeit heute so nicht mehr gibt, Clowns, Trapezkünstler und Jongleure braucht es heute mehr denn je.
Christoph Simonsen


30. Sonntag im Jahreskreis B – 2015
Semester Eröffnung des Wintersemesters 2015/2016

Evangelium: Markus 10,46-52
Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.

„Was soll ich Dir tun?“ – Was soll ich tun?
Es ist vier Wochen her, da saß ich am Strand und schaute aufs Meer; und in diesem Augenblick wurde mir wieder einmal bewusst, was für ein unbeschreiblich schönes Gottesgeschenk es ist, das Licht der Sonne zu sehen. Diese Erfahrung hab ich vor 14 Tagen schon einmal mit Euch geteilt im Gottesdienst, aber sie ist mir so wertvoll, dass ich sie uns gern heute in Erinnerung rufe. Wobei meine Gedanken heute keine Wiederholung der Predigt von vor 14 Tagen sein soll, wo ich ja eine Fotokopie dieses Bildes mitgebracht hatte. Die Strahlen der Sonne funkelten auf dem Wasser, so dass die Kieselsteine auf dem Grund wie Edelsteine funkelten. Dieses Bild werde ich nicht vergessen: Das Licht der Sonne, das ins Wasser des Meeres fällt.

Dieses Blickes wegen maße ich mir an, mich in die Empfindungen des blinden Barthimäus hineinversetzen, dessen Schicksal im Tiefsten wohl keiner nachempfinden kann und dem ich deshalb nichts mehr gönne, als von solch einem Licht beschenkt zu werden. Und ich verstehe seine innige Bitte, die so unerfüllbar scheint angesichts seiner Blindheit von Kindheit an:“Ich möchte wieder sehen können“. Was für ein Gefühl muss das wohl gewesen sein, als dann Jesus diese scheinbar unerfüllbare Bitte erhört!

Ob aber dem blinden Mann auch die andere Seite bewusst gewesen ist, die sich mit seiner Bitte verknüpft, wieder sehen zu können?
Ein Mensch, der sehen kann, kann sich auf Nachfrage nicht damit herausreden, nichts gesehen zu haben.
Ein Mensch, der sehen kann, kann sich nicht heraushalten aus dem Geschehen in der Welt, mit der Begründung nichts gesehen zu haben.
Ein Mensch der sehen kann, kann nicht die Verantwortung auf andere schieben.
Ein Mensch, der sehen kann, hat keine Entschuldigung, sich den Wirklichkeiten des Lebens zu entziehen.
Das Vermögen, sehen zu können, ist nicht nur ein Privileg, es ist vor allem eine Herausforderung und es zieht ein hohes Maß von Verantwortung nach sich.

Barthimäus richtet diese bewusste Bitte an den Sohn Davids: „Ich möchte wieder sehen können“. Barthimäus hegt den Wunsch, wieder teil zu haben und teil zu nehmen am Leben in der Gesellschaft. Sehen können ist mehr als die Gewähr, nicht mehr der Gefahr zu unterliegen, über einen Stein zu stolpern oder gegen eine Wand zu laufen. Wer sieht, der sieht eben nicht nur die Strahlen der Sonne sondern auch die aggressiven Fäuste der Menschen. Sehen können folgert unweigerlich, sich zu anderen und zu anderem zu verhalten aus eigener Sicht und Verantwortung heraus. Sehen können bedeutet nicht nur, der Passivität entronnen zu sein, sondern eben auch, zur Aktivität verpflichtet zu sein. Kurzum: Wer zu sehen vermag, der ist auch zum Handeln verpflichtet. Aber das ist leichter gesagt als getan. Wir sehen viel, wir lesen viel. Unsere Augen sind nahezu rund um die Uhr im Dauereinsatz. Ist uns eigentlich bewusst, wem und was unsere Augen tagaus und tagein ausgesetzt sind? Ich bin dankbar für jeden Sonnenstrahl, der mein Auge und mein Herz berührt. Aber ebenso zornig bin ich im Blick auf all das, was unsere Schöpfung so unendlich leiden lässt und was Menschen einander antun. Natürlich weiß ich, dass ich als einzelner die Welt nicht zu retten vermag. Aber wenn wir gemeinsam behutsamer, zärtlicher und würdevoller mit den Ressourcen unserer Welt umgehen, dann ist das sehr wertvoll. Ich bin sehr froh, dass wir uns z.B. in unserer Kneipe bemühen, Euch Lebensmittel anvertrauen, von denen wir wissen dürfen, dass sie soweit es irgendwie geht, natürlich belassen wurden und dass sie geschöpft wurden unter Arbeitsbedingungen, die man menschlich nennen darf. Und ich bin unendlich dankbar, dass es für uns eine Selbstverständlichkeit ist, Menschen aller Nationen, Religionen und Kulturen willkommen zu heißen und wir keinen unter einen Generalverdacht stellen. Und ich wäre froh, wenn möglichst viele von Euch, hier und wo sonst auch immer mittun, der Schöpfung und den Menschen zu dienen. Es gibt so viele, die sehen und dann verschämt weggucken, weil das, was sie sehen, ihren Lebensrhythmus in Frage stellen würde. Und es gibt so viel zu lernen in den Hochschulen hier, aber lebens- und liebenswürdig zu zu leben, das lernen wir vor allem dann, wenn wir die Gaben unserer Sinne nutzen.

Jesus sagt dem Barthimäus zum Schluss: „Geh hin…“. Geh in das Geschehen dieser Welt, die jetzt noch mehr auch die deine geworden ist. Bleib nicht mehr am Straßenrand sitzen aus Angst, es könnte dir Schlimmes widerfahren, sondern geh hinein mit Mut und Eigensinn und bring ein, was das deine ist. Bring dich ein, mit deinem Leben, mit den Fähigkeiten, die du nun sehenden Auges noch kraftvoller und selbstbewusster einbringen kannst als zuvor. „Geh hin, bring dich ein, halte dich nicht mehr heraus.“

Und er sagt weiter: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen“. Jesus unterstreicht, dass der Glaube, der in Barthimäus lebt, die Kraft ist, sich der Verantwortung zu stellen, die Welt mit eigenen Augen zu sehen. Glaube verschließt nicht den Blick auf die Welt, Glaube weitet die Sicht auf die Welt. Diese Glaubensweite wünsche ich uns allen in diesem Wintersemester 2015/16. Und ganz viele Sonnenstrahlen wünsche ich uns, gerade im bevorstehenden Winter.

Christoph Simonsen