Predigten Oktober bis Dezember 2016
Sonntag, 18. Dezember
4. Adventssonntag im Lesejahr A – 2016
Evangelium: Mt. 1,18-24
Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes. Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns. Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.
Josef
In unserer lieben Mutter Kirche haben ja in der Regel eher die Männer das Sagen, was ja durchaus auch zu kritischen Anmerkungen Anlass geben kann. Der mütterliche Anteil ist eher dürftig wahrnehmbar, dann vielleicht, wenn Mutter Kirche sich gnädig zu ihren Schäfchen herabbeugt und Vergebung zuspricht.
Ihr hört vielleicht einen leichten bissigen Unterton aus dem heraus, wie ich gerade in zwei Sätzen ein Kirchenbild konterkariert habe, was ich aber dennoch nicht für ganz falsch halte. Die Genderfrage wird ja zurzeit sehr kontrovers diskutiert. Oder sollte ich besser sagen: Die Genderfrage ist für die Verantwortlichen der Kirche gar keine Frage, weil die Geschlechterrollen indiskutabel festgelegt sind.
Im heutigen Evangelium steht nun auch wieder ein Mann im Mittelpunkt: Josef. Aber dem sind so gar nicht die typischen Männlichkeitstypologien zu eigen, die wir ansonsten von den Männern in Mutter Kirche kennen. Josef ist kein Dogmenverkünder, kein Ritenspender, kein Soutanenträger und „Menschen-auf-Abstand-Halter“, kein „Ich-hab-hier-das-Sagen-Mensch“, kein „Nur-ich-kann-Jesus-vertreten-Berufener“. Heute steht ein Mann im Mittelpunkt, der nichts zu sagen hat. Und wenn ich die entsprechenden Texte der Heiligen Schrift richtig kenne, dann sagt er auch tatsächlich nichts. Aber was hat ein Mann in der Kirche zu suchen, der nichts zu sagen hat? Und warum dann hat Papst Franziskus diesem Mann neue Ehren erwiesen, indem er angeordnet hat, dass im römischen Hochgebet er neben Maria und den Aposteln ausdrücklich mit Namen zu erwähnen sei.
Also, auch wenn selbst dieser Papst letztens die Genderfrage für unangemessen hielt, so scheint er mir dennoch zurückhaltend andeuten zu wollen, dass die Spezifikationen der Geschlechter auch in der Kirche durchaus variabel sein können. Josef, der Mann, schweigt, während Maria, die Frau, scheinbar die Hosen anhat. Sie ist es schließlich, die die Dinge in die Hand nimmt.
Da stellt sich mir die Frage: Wie stellt sich das Weihnachtsgeschehen aus der Sicht des Josef eigentlich nüchtern betrachtet dar? Seine Verlobte wird schwanger und er weiß von nichts. Und er fragt auch nicht. Er schweigt. Ein Mann also, der froh ist, noch irgendwie eine abbekommen zu haben und das mit Fassung trägt, was nicht zu ändern ist? Nicht ganz! Er wollte seine Verlobte nicht bloßstellen. Aber gefallen lassen wollte er sich auch nicht alles. Was bleibt? Sich klammheimlich aus dem Staub zu machen? Eins zeichnet Josef aus: Er denkt, bevor er handelt. Das ist auch nicht so unbedingt „Mann-typisch“. Zumindest kenne ich das von mir: Dass ich zuweilen schon mal was mache, bevor ich darüber nachgedacht habe, wie sinnvoll das ist. Ich erinnere mich an meinen alten Mathelehrer, der mir wiederholt früher sagte: „Christoph, erst denken, dann reden“. Meine Erfahrungen in den kirchlichen Strukturen sind da durchaus ähnlich, dass mehr gehandelt wird, als dass nachgedacht wird. Wer nachdenkt, der wird automatisch ruhig, besonnen, nachdenklich eben. Wer nachdenkt, der gesteht sich ein, Wissensdefizite zu haben. Franz Alt, der nachsichtige Journalist sagte einmal, dass er sich mehr eine lebenssuchende und weniger eine dogmatische Kirche wünschen würde. Josef denkt also nach und bewahrt sich eine Ruhe, die ihn sogar gut schlafen lässt. Er schläft und er träumt. Träumer sind heutzutage ähnlich verpönt wie Gutmenschen. Wer träumt, der verlässt den Boden der Tatsachen, könnte man meinen. Ja das stimmt wohl auch. Aber wer zu träumen vermag, der öffnet sich neuen Welten, neuen Wahrheiten, unbewussten, unterbewussten Realitäten. Wer sagt denn, dass nur das wahr ist, wahrhaftig ist, was man mit den fünf Sinnen fassen kann? Träumer sind keine Spinner, Träumer sind Realisten der 4. Dimension.
Der Traum des Josef hat sehr reale Konsequenzen: Er macht, was man normalhin nicht macht; er verlässt Maria nicht. Und er sieht, was andere nicht sehen: Noch vor dem staunenden Besuch der Hirten, noch vor der jämmerlichen Angst eines Herodes, ja sogar noch vor allem Engel-Halleluja sieht er in dem unehelichen Kind ein Geschenk Gottes. Das sollten einem die Männer in der Kirche heute mal nachmachen: Vorreiter zu sein, eine neue Wahrheit zu erkennen, und nicht nur alte Wahrheiten zu verkünden.
Josef bleibt eine geheimnisumwitterte Persönlichkeit: Jenseits aller vorgegebener spießigen Bürgerlichkeit, behält er einen klaren Kopf und vertraut seiner inneren Stimme mehr als aller äußerlichen Moralität. Und Josef war ein Mann, der sich von Visionen leiten ließ. Die nackten Tatsachen (das nackte Kind in der Krippe) zwangen ihn zu einer nüchternen Bodenständigkeit ohne sich davon fesseln zu lassen.
Wenn wir jetzt mit großen Schritten auf Weihnachten zugehen, dann sollten wir nicht nur Maria bestaunen und das Kind verehren, wir sollten auch diesem Josef Respekt zollen, der die Rollenmuster des Lebens ziemlich in Frage gestellt hat in der Weise, wie er lebte und uns – mich zumindest – zur Nachdenklichkeit anregt, wie schnell und voreilig wir uns in Kirche und Welt von Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten leiten lassen, ohne vorher einmal nachzudenken.
Christoph Simonsen
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Sonntag, 11. Dezember
3. Adventsonntag im Lesejahr A – 2016
Evangelium: Matthäus, 11,2-11
Johannes hörte im Gefängnis von den Taten Christi. Da schickte er seine Jünger zu ihm und ließ ihn fragen: Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten? Jesus antwortete ihnen: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt. Als sie gegangen waren, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden; er sagte: Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Schilfrohr, das im Wind schwankt?
Oder was habt ihr sehen wollen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Mann in feiner Kleidung? Leute, die fein gekleidet sind, findet man in den Palästen der Könige.
Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Um einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch: Ihr habt sogar mehr gesehen als einen Propheten. Er ist der, von dem es in der Schrift heißt: Ich sende meinen Boten vor dir her; er soll den Weg für dich bahnen. Amen, das sage ich euch: Unter allen Menschen hat es keinen größeren gegeben als Johannes den Täufer; doch der Kleinste im Himmelreich ist größer als er.
Warten in Zeiten der Not
„Ich kann nicht mehr so weitermachen.“
„Das sagt man so.“
„Sollten wir auseinandergehen? Es wäre vielleicht besser.“
Es sei denn, dass Godot käme.“
„Und wenn er kommt?“
„Sind wir gerettet.“
„Also, wir gehen?“
„Gehen wir!“ (aus Samuel Beckett: Warten auf Godot)
Estragon und Wladimir warten auf Godot. Zwei Landstreicher irgendwo an einer Landstraße warten. Sie warten, sonst tun sie nichts. Aber sie warten vergeblich, Godot kommt nicht. Irgendwann kommt dann ein Ziegenhirte und sagt ihnen, dass sich die Ankunft Godots auf unbestimmte Zeit verzögern würde.
Estragon und Wladimir bleiben stehen. Es heißt ausdrücklich in dem Theaterstück: „Sie gehen nicht von der Stelle“. Wie sich das wohl anfühlt, nicht von der Stelle zu kommen? Würdet ihr euch an eine Bushaltestelle stellen, wenn ihr genau wüsstet, dass dort nie ein Bus anhalten würde?
„Ich kann nicht mehr so weitermachen“, sagt der eine zum anderen. Und der andere antwortet: „Das sagt man so“. Entspricht das nicht oft unserem Lebensgefühl: Man spürt so eine gewisse Unzufriedenheit, aber dann kommt sofort hinterher der andere Gedanke, dass es ja doch irgendwie läuft. Also lässt man es laufen: das Leben.
Am vergangenen Donnerstag hab ich einen ehemaligen Studenten hier aus Aachen besucht, der inzwischen mein Freund geworden ist. Er wohnt heute bei seiner Mutter im Sauerland. Er wartet auch. Er wartet auf seinen Tod. Eine schwere Krankheit hat ihn ereilt. Er kann nicht mehr alleine leben. Für die alltäglichen Dinge des Alltags braucht er Hilfe. Wir suchen nach einem Platz in einem Hospiz für ihn; einen Ort, wo er in Frieden sterben kann. „Ich kann nicht mehr so weitermachen“, das kann Andreas nicht sagen, denn er muss so weitermachen. Es bleibt ihm keine Wahl. Sein Warten ist alternativlos.
Estragon und Wladimir stehen an der Straße und warten. Wer Samuel Beckets Theaterstück schon einmal gesehen oder gelesen hat, der wird schwerlich auch nur eine gefühlsmäßige Regung bei ihnen wahrnehmen können. Sie warten regungslos, teilnahmslos, so, als sei alles irgendwie gleich, gleich-gültig. Das Warten von Andreas hat andere Züge: er weint, er lacht, er ist deprimiert und dann wieder aufbrausend. Soweit es ihm möglich ist, streckt er seine Arme aus, sucht meine Nähe, will mich umarmen, möchte mich festhalten, möchte das Leben festhalten, sein Leben einbinden in das meine. Es ist aussichtslos, aber er versucht es, er will das Leben festhalten, er will ein Morgen spüren.
„Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ Diese Frage richtet Johannes an Jesus über Mittelsmänner, da er selbst ja im Gefängnis sitzt. In den Augen von Andreas sah ich am vergangenen Donnerstag eine ähnliche Frage aufleuchten. ‚Bringst du mir mein heiles Leben zurück?‘ Er hat diese Frage nicht ausgesprochen, wohl wissend um dessen unmögliche Realisierung. Aber ich hab sie gespürt, lautlos gehört. Und ich habe versucht, eine Antwort zu geben. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, mit meiner Antwort Trost und Zuversicht zu schenken. Aber das war alles, was ich im Augenblick vermochte: Auf einen anderen zu verweisen. Dieses Gefühl, hilflos zu sein und dann auf einen anderen zu verweisen, hinterließ bei mir zunächst einen schalen Beigeschmack. Hab ich mich damit aus der Verantwortung gezogen? Ist der Verweis auf Gott Ausdruck menschlicher Hilflosigkeit? „Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ Wie hört das ein junger Mensch, der vom Tod gezeichnet ist? Sind diese Worte wirklich Trost oder nur Vertröstung?
In diesen Stunden, wo ich bei Andreas war, durfte ich spüren, dass das Ringen, meinem Glauben Raum zu geben und meine Hoffnung auf diesen menschgewordenen Gott weiter zu geben, wirklich Trost schenken durfte. Andreas wurde ruhiger und er vermochte zu lächeln. Und ich durfte hautnah erleben, dass der Verweis auf diesen kleinen wunderbaren Gott wohl tut, für einen Augenblick Kraft schenkt. Diese Worte, die Worte Jesu, bergen wirklich eine heilende Kraft in sich.
Warten, dass da einer ist, der Trost spendet, der einer Hoffnung auf heiles Leben Ausdruck verleiht, der Gott ins Gespräch bringt und so der Ausweglosigkeit des Lebens entgegentritt: Das ist Advent. Und dieses Warten ist voller Sehnsucht, voll von innerer Wachsamkeit und sogar erfüllt von Freude, auch da, wo der Tod ganz nahe ist.
Christoph Simonsen
Sonntag, 04. Dezember
2. Adventsonntag im Lesejahr A -2016
Evangelium: Matthäus, 3,1-12
In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der Wüste von Judäa: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. Er war es, von dem der Prophet Jesaja gesagt hat: Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften; Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung. Die Leute von Jerusalem und ganz Judäa und aus der ganzen Jordangegend zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan von ihm taufen. Als Johannes sah, dass viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt? Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt, und meint nicht, ihr könntet sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen. Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. Ich taufe euch nur mit Wasser (zum Zeichen) der Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand; er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.
Mut-Mensch statt Wut-Mensch
Eine Person darf im Advent nicht fehlen: Johannes der Täufer, der Fingerzeig Gottes, der Wegbereiter der Menschwerdung. Jesus fühlte sich wohl der Jüngergemeinschaft des Johannes zugehörig. Und in dieser Gemeinschaft wurde ihm wohl auch bewusst, wie groß die Sehnsucht der Menschen ist, die Sehnsucht nach Sinn, nach einem Ziel. Die Menschen, die zu Johannes kamen, waren von einer inneren Unruhe getrieben, von einer nagenden Unzufriedenheit. Wie sonst wäre zu verstehen, dass der Ruf nach Umkehr sie so angezogen hat.
Worin bestand diese Unruhe? Warum war da diese Unzufriedenheit in den Menschen? Wenn ich das Wort „Umkehr“ höre, dann denke ich an schwere Sünden, die ein Mensch bereut oder an nicht wieder gut zu machende Verfehlungen, die die Seele eines Menschen auffressen.
Waren das jetzt alles Schwerverbrecher, die da den Weg in die Wüste zu Johannes angetreten sind? So Typen, die sich ihre Verbrechen als Erfolgserlebnisse in den Arm eingeritzt haben; dann plötzlich so etwas wie ein Bekehrungserlebnis hatten und alle reumütig nach einer Standpauke des Johannes zur Umkehr bereit waren? Und wieso bitte kam dann Jesus zu dieser Räuberbande dazu?
Wohl kaum! Menschen wie ihr und ich haben sich da auf den Weg gemacht, Menschen, die Familie hatten, Freunde, die einer geregelten Arbeit nachgingen. Normalos sozusagen haben sich von dem Ruf nach Umkehr ansprechen lassen? Die unterscheiden sich durch nichts von uns. Die wussten ebenso wie wir um ihre Schwächen und Fehler.
Aber in einem Punkt haben sie sich dann doch vielleicht von uns unterschieden: Diese Menschen haben sich etwas bewahrt, was uns Heutigen vielleicht abhandengekommen ist. Sie haben sich der Frage gestellt, ob das, was ist, der Weisheit letzter Schluss ist. Ob das, was ihr Leben ausmacht, sie auch wirklich ausfüllt. Die Menschen, die damals zu Johannes gepilgert sind, sehnten sich nach einer Radikalität, die uns heute abgeht. Das Wort „radikal“ ist heute mit vielen negativen Konglomeraten verknüpft; Radikalität ist widerspruchslos gleich gesetzt mit Gewalttätigkeit, Verbohrtheit, Extremismus, mit Ausgrenzung und Abschottung. Von Wut-Menschen ist heute ganz oft die Rede; warum eigentlich nicht von Mut-Menschen? Ganz anders bei den Menschen damals. Sie suchten nach einer Radikalität des Ganz-seins, des Mensch-seins. Sie suchten nach einer Radikalität, die sie auf ihre Wurzeln zurückführt. Sie suchten nach dem Ursprung, was Leben Leben sein lässt.
Die Menschen, die damals mit Jesus zu Johannes gepilgert sind, sie signalisieren mir, dass Umkehr für alle Menschen eine Lebensbewegung ist, nicht nur für Sünder (obwohl wir natürlich alle auch Sünder sind). Das griechische Wort für Umkehr heißt „metanoia“. Und das bedeutet wörtlich übersetzt: Umdenken. Umkehr ist ein zutiefst rationaler Prozess; Umkehr beginnt im Kopf. Es geht nicht darum, moralisch perfekter sein zu sollen als zuvor; es geht nicht um eine Leistung des Gut-seins. Es geht um Mensch-werdung. Es geht darum, sich bewusst zu werden, was Mensch-sein bedeutet.
Dies alles beginnt damit, dass Menschen aus der Anonymität heraustreten. Sie machen sich auf den Weg und solidarisieren sich. Der Weg zur Menschlichkeit beginnt mit der Bereitschaft zur Veränderung des Ist-Zustandes und dem inneren Willen zur Vergemeinschaftung. Mensch-werdung, Mensch-sein schließt unweigerlich Wertschätzung und Gleichwertigkeit ein. Und dies alles ist, wie gesagt, keine sentimentale „gut-sein-wollen-Gesinnung“, es ist die Besinnung auf das Eigentliche, auf das Wesentliche, auf das Essentielle. Ohne dieses Heraustreten des Menschen aus dem Gewohnten gibt es keine Taufe, und auch keine Mensch-werdung.
Wir, die wir diesen Advent 2016 feiern, wir müssen uns fragen, ob wir Mensch werden wollen. Das würde die Fragen nach sich ziehen, wo heraus wir treten wollen, mit wem wir uns verbünden wollen und wem wir entgegen gehen wollen.
Christoph Simonsen
Sonntag, 28. November
1. Adventsonntag im Lesejahr A – 2016
Evangelium: Matthäus, 24,29-37
Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Er wird seine Engel unter lautem Posaunenschall aussenden und sie werden die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern. Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr das alles seht, dass das Ende vor der Tür steht. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater. Denn wie es in den Tagen des Noach war, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein.
Weihnachten vom Ende her denken
Warum krieg ich den Eindruck nicht los, dass mir da jemand die gute Laune verderben will? Am 1. Adventsonntag Weltuntergangsstimmung verbreiten, das find ich ganz schön mies.
Die Zeit des Advent, sie weckt Kindheitserinnerungen bei mir. Im Dezember jeden Tag ein Türchen am Adventkalender aufmachen zu dürfen, sich freuen dürfen auf etwas, was es schon bald zu feiern gibt, Weihnachten nämlich. Advent, das ist doch eigentlich eine Zeit des Lichtblicks in dunklen Dezembertagen. Das ist Plätzchen backen, abends mit Freunden ein Glas Glühwein trinken auf dem Weihnachtsmarkt, das ist sich Gedanken zu machen, wie man wem eine Freude bereiten kann mit einem kleinen Geschenk. Adventzeit, das ist doch irgendwie eine Zeit des Ausnahmezustandes frohmachender Gefühle und Gedanken; das ist eine Zeit sinnlicher Gefühle.
Und auch, wenn wir alle heute erwachsen sind, so versuchen wir doch zumindest, diese Zeit noch einmal lebendig werden zu lassen. Irgendwie würden wir doch alle gern in den nächsten Wochen in unsere Kinderschuhe schlüpfen und eine solch unbeschwerte und selig machende Zeit erleben. Und vielleicht machen wir das ja auch einfach, uns wieder zu freuen wie ein Kind; unbeschwert, glücklich, dankbar und zufrieden die nächsten Wochen verbringen und uns freuen darüber, beschenkt zu sein, beschenkt zu werden, von einem Gott, der uns Bruder und Freund werden möchte. Nichts anderes steht uns doch bevor als diese Zusage Gottes.
Warum wird uns ausgerechnet heute die bittere Wirklichkeit unserer Begrenztheit vor Augen geführt, die Unwiderruflichkeit unserer Endlichkeit, die Kläglichkeit unseres Lebens? Warum werden wir daran erinnert, dass sich die Sonne verfinstern wird, dass Himmel und Erde erschüttert werden und die Menschen jammern und klagen werden? Als wüssten wir das alles nicht auch so. Aber ausgerechnet heute am 1. Adventsonntag dies zu hören macht doch eigentlich kaputt, was uns so Not tut: Hoffnung. Soll vielleicht so die Sinnlosigkeit unserer oberflächlichen Freude entlarvt werden, die Vergeblichkeit unserer Erwartungen? Sollen wir so auf infame Weise unserer Freude entrissen werden, damit wir uns rascher fügen in das Schicksal unserer Tage? Es scheint, als hätte der Evangelist Freude daran, uns mit der Härte des Lebens zu konfrontieren, damit wir gewahr werden, dass allein Gott die Gabe eines Gnadenerweises zukommt und wir uns Erlösung verdienen müssen. Wir Menschen sind klein, Gott allein ist groß. Der Bruder-Gott, der Freund-Gott, den wir als Kind so sehr ersehnt haben, ist nur eine Illusion und ein Trugbild unserer menschlichen Einbildung. In Wirklichkeit ist Gott ganz anders.
Als Kind sind wir wohl verschont von solch schonungsloser Offenheit, aber heute, als Erwachsene, da bleibt keine andere Wahl, als sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass unser Leben und auch dass unser Gott anders ist und dass diese Zeit andere Akzente setzt, als dass Kerzenschein und Zimtgebäck uns erfüllen würden. Unser Leben ist anders und Gott ist anders.
Im heutigen Evangelium zum 1. Advent werden wir auf das andere verwiesen. Gott ist nicht dieses oder jenes, Freund oder Allmächtiger, Gott ist alles. Er ist alles in allem. Er ist im Anfang und er ist im Ende. Er ist Ermutiger und Ermahner. Er ist und er wird.
Diesen Gott mit Freude erwarten, diesen Gott, der mächtig wie ohnmächtig ist, das stünde uns heute gut an. Diesem Gott entgegenwarten, von dem wir alles erwarten dürfen und der doch alles in unsere Hand legt, das zeichnet erwachsenen Glauben aus.
Ob es uns gelingt, angesichts dieser schonungslos ehrlichen Gott-Mensch-Begegnung, mit guter Gesinnung, mit freudiger Erwartung und mit geschenkbereiter Offenheit zuzugehen auf den Tag der Menschwerdung? Eben in kindlicher Erwartung und in erwachsener Klarheit sich diesem Gott anvertrauen, der Anfang und Ende ist, der in allem dazwischen ist und der uns nichts nimmt von der Wirklichkeit unseres Lebens, aber mit uns lebt, um mit unserer Menschlichkeit alle Wirklichkeit zu verwandeln auf ein neues Morgen hin?
Nein, die Worte der Schrift sind keine Miesmacher; sie wollen uns nicht unsere Kindheit entzaubern. Vielmehr wollen sie die Geschichte unseres Lebens einbinden in ein ehrliches Ganzes; sie wollen Erwartungen wecken und Verantwortungen einen Sinn geben; sie wollen Türöffner einer grenzenlosen Freude sein in einer begrenzten Welt und sie wollen Wortgeschenke sein, damit unsere Geschenke füreinander Lebensgeschenke werden.
Christoph Simonsen
Sonntag, 20. November
Christkönig im Lesejahr C – 2016
Evangelium: Lukas, 23, 35-43
Die Leute standen dabei und schauten zu; auch die führenden Männer des Volkes verlachten ihn und sagten: Anderen hat er geholfen, nun soll er sich selbst helfen, wenn er der erwählte Messias Gottes ist. Auch die Soldaten verspotteten ihn; sie traten vor ihn hin, reichten ihm Essig und sagten: Wenn du der König der Juden bist, dann hilf dir selbst! Über ihm war eine Tafel angebracht; auf ihr stand: Das ist der König der Juden. Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du denn nicht der Messias? Dann hilf dir selbst und auch uns! Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil getroffen. Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Dann sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.
Leiden…. Ist eine Stadt am Meer
Leiden ist eine Stadt in Südholland, nahe der Nordsee, fast genau zwischen Den Haag und Amsterdam gelegen. 122.000 Menschen wohnen dort.
Leiden ist auch ein Zustand, der das Leben der Menschen einengt, der Schmerzen an Leib oder Seele verursacht, der Leben zur Qual werden lässt. Es gibt Leiden, die zeigen sich ungeschönt und ungeschminkt der Welt. Es gibt aber auch Leiden, die kein Außenstehender wahrzunehmen vermag, weil sie still und einsam gelitten werden. Gibt es überhaupt ein Leben ohne Leiden, sichtbares oder unsichtbares Leiden?
Wie viele Menschen von den 122.000 Einwohnern in Leiden gehen wohl aufgrund solcher Leiden gebeugt durch ihr Leben, niedergedrückt und niedergeschlagen, weil etwas an ihnen oder in ihnen ist, was sie quält? 100 oder 1000; 10.000 vielleicht. Und sind nicht alle Städte, alle Orte dieser Welt Leidens-Städte? Leiden ist überall. Auch hier, auch hier und jetzt in diesem Raum. Aus Angst heraus, aus Scham oder aus welchen Gründen auch immer, wird ganz viel Leiden versteckt, verdrängt, vergessen gemacht. Aber es ist da, es ist immer da. Schon einfache Fragen vermögen ein Leiden auszulösen; Fragen, die schmerzhaft vor Augen führen, dass wir strukturell permanent für die Ungerechtigkeit in der Welt mitverantwortlich sind. Wie wir leben, wie wir essen, wie wir uns kleiden, all dies ist mitverantwortlich dafür, dass anderen körperliches und seelisches Leid zugefügt wird. Alles Leben ist immer auch Leiden. Leiden vermag sich auch zu übertragen und so kann aus Leiden ein Mit-leiden entstehen.
Leiden schreit nach Veränderung. Leiden will überwunden werden. Leiden sucht ein Du, ein Gegenüber. Leiden sucht Trost und Heilung. Wie ein Schlag ins Gesicht muss Jesus da der Ruf der Soldaten und auch seines Mitgehängten gewirkt haben: „Hilf dir selbst“. Jesus schweigt. Was sollte er auch anderes tun? Und auch das ist Wirklichkeit heute: Nicht nur, dass das Leiden zugelassen, ignoriert, ja sogar heraufbeschworen wird, es wird auch noch verhöhnt, verharmlost und verspottet. Leiden ist überall und doch wird es übersehen oder vergessen gemacht oder als unvermeidbar hingestellt.
Einer ist da, der sieht das Leiden Jesu wie es ist. Auch er vermag das Leiden nicht wegzunehmen. Aber er sieht es, noch mehr, er fühlt es. Zwei Leidende, die einander nahe sind. Verändert das etwas? Macht das die Welt besser? Schmälert es das Leiden auch nur eines einzigen anderen Menschen? Nein das tut es wohl nicht! Aber es tröstet. Und noch mehr: Es legt die ganze Unsinnigkeit des Leidens offen und fordert heraus, nach Sinn zu suchen, nach Lebenssinn. „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“, antwortet Jesus zugewandt dem mitleidenden Gehängten.
Hinter Leiden, dem kleinen Ort in Südholland, öffnet sich die Weite des Meeres, der Nordsee und der Blick geht ins Unendliche. Er sagt mir, dass es mehr geben muss als die Leiden dieser Welt, die das Leben so schmerzhaft machen. Dieses „Mehr“ schenkt Jesus seinem Kreuznachbarn. Und er schenkt es auch uns.
Christoph Simonsen
13. November,
33. Sonntag im Jahreskreis C – 2016
Evangelium: Lukas 21,5-19
Als einige darüber sprachen, dass der Tempel mit schönen Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei, sagte Jesus: Es wird eine Zeit kommen, da wird von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem andern bleiben; alles wird niedergerissen werden. Sie fragten ihn: Meister, wann wird das geschehen und an welchem Zeichen wird man erkennen, dass es beginnt? Er antwortete: Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es!, und: Die Zeit ist da. – Lauft ihnen nicht nach! Und wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch dadurch nicht erschrecken! Denn das muss als erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort. Dann sagte er zu ihnen: Ein Volk wird sich gegen das andere erheben und ein Reich gegen das andere. Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen. Aber bevor das alles geschieht, wird man euch festnehmen und euch verfolgen. Man wird euch um meines Namens willen den Gerichten der Synagogen übergeben, ins Gefängnis werfen und vor Könige und Statthalter bringen. Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können. Nehmt euch fest vor, nicht im voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben, sodass alle eure Gegner nicht dagegen ankommen und nichts dagegen sagen können. Sogar eure Eltern und Geschwister, eure Verwandten und Freunde werden euch ausliefern und manche von euch wird man töten. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden. Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.
Gib acht auf dich
Am vergangenen Samstag hatte ich es wieder den ganzen Abend im Blick, als ich im Chico Mendes das Konzert von Arthur Gepting und Joe Astrey besucht habe: Unser großes Regal, vollgepackt mit den verschiedensten Brettspielen.
Ein Spiel allerdings hab ich nicht entdeckt bei meinem schweifenden Blick durch die verschiedenen Fächer. Ein Spiel, das ich als Kind mit meiner Lieblingstante und meinem Lieblingsonkel immer gespielt habe, wenn ich bei ihnen zu Besuch war. Es hatte keinen Namen und wurde auf keiner Spielemesse eigens vorgestellt. Ich weiß gar nicht: Vielleicht haben wir drei es sogar erfunden und ich könnte heute ein Copyright darauf geltend machen. Wir nannten es das „Verkehrtrum-Wort-Spiel“. Einer überlegte sich ein Wort, das er dann verkehrt herum buchstabiert aussprach und wir mussten herausfinden, welcher richtige Begriff sich dahinter verbarg. „Lese“ war also eigentlich der „Esel“ und „Dnuh“ war der „Hund“ und „Egeilf“ die „Fliege“. Uns hat das damals wahnsinnigen Spaß bereitet und es war witzig zu hören und zu sehen, wie die komischen Zungenbrecher den Mund verließen.
Nun ist mir letztens in Erinnerung an dieses Spiel aus meiner Kinderzeit ein mich nachdenklich stimmender Gedanke in den Sinn gekommen: Was geschieht, wenn ich das Wort „Leben“ verkehrt herum ausspreche? Nun: aus „Leben würde „Nebel“ werden. Darüber begann ich nach zu grübeln. Ja, mir erscheint das Leben manchmal wie ein Waten durch dichten Nebel. Da ist Angst, das Ziel aus dem Auge zu verlieren; da ist Angst, sich eine blutige Nase zu holen wegen eines Widerstandes, der sich einem in den Weg stellt. In der Tat: Wer würde sich nicht fürchten, wenn er nicht mehr erkennen würde, was um ihn herum ist? Aber nicht nur Angst löst eine Nebelwand aus. Neben der Angst, über der Angst baut sich auch Achtsamkeit auf. Wenn ich im Nebel stehe, dann bin ich in einer besonderen Weise, vorsichtig, behutsam. Mein sonst normales schnelles Eilen wird sozusagen abgebremst und ich taste mich langsamer voran, achte mehr auf den Weg und auf all das, was im Dunst des Nebels noch irgendwie erkennbar ist. Mit dieser Vorsicht ist die Hoffnung verbunden, sich keine Blessuren zu holen.
‚Gib acht auf dich‘. Das ist Jesu Botschaft heute an uns. Werde nicht zu großmäulig, sei nicht zu selbstgewiss, alles stünde immer da, wo es gestern noch gestanden ist. Die Vertrautheit, die dein Leben absichert, ist nicht selbstverständlich.
Daneben beschreibt das heutige Evangelium ziemliche Schreckensszenarien. Und sie sind alles andere als nur Utopie. Unsere Zeit heute kommt dem, was Jesus da beschreibt, schon ziemlich nahe. Genau in diese Situation hinein, die so ungewiss ist, so undurchsichtig, so unüberschaubar: Dort hinein bittet Jesus die Menschen, achtsam zu sein. ‚Gib auf dich acht‘ sagt Jesus und sei behutsam, dass du nicht fällst. Wäge deine Schritte ab und lass dich nicht blenden.
Jesus bereitet die Menschen – ich möchte es so sagen – auf den Lebensnebel vor, der sich über die Welt legt. Seine Sorge ist, dass die Menschen einfach weiter unbeirrt durchs Leben jagen, so als sei alles ungefährdet und abgesichert. Nichts im Leben ist sicher. Wir sollten uns nicht verführen lassen, rät er dann seinen Freundinnen und Freunden weiter. Und da ist was Wahres dran: Verführer gibt es viele; Verführer, die Sicherheit garantieren und Menschenleben gering schätzen. Im undurchsichtigen Dickicht des Lebens fällt man schon mal über sie drüber und merkt es erst, wenn man auf der Nase liegt. Das sind zwei sehr schöne und auch wichtige Ratschläge Jesu, auf sich acht zu geben und sich nicht einwickeln, verführen zu lassen von den Schwätzern dieser Welt.
Dann sagt er aber noch etwas. Etwas sehr Ungewöhnliches, was eigentlich dem diametral entgegensteht, was er zuvor gesagt hat: Wir sollen nicht nur Acht geben auf uns im Lebens-Nebel, der uns umgibt und die Sicht versperrt, wir sollten uns dabei auch anvertrauen, wir sollten uns überlassen. Das klingt doch paradox: Acht geben auf sich, also die ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren, und sich dann zugleich anvertrauen. Es ist aber nicht paradox.
Jesus führt uns vor Augen, worauf es im Ernstfall des Lebens ankommt. Ja: Es kommt auf mich selbst an. Im Ernstfall des Lebens kann ich nichts an niemanden delegieren. Ich bin wirklich auf mich gestellt und auf mich kommt es an. Ich muss mich meiner vergewissern: wer ich bin, woraus bin ich. In den Entscheidungsphasen meines Lebens muss ich mir selbst zur Frage werden und ich muss mir die Frage aller Fragen stellen: warum bin ich. In all diesen Fragen, diesen unruhigen Fragen, die nach einer Beantwortung der Daseinsberechtigung meiner selbst schreien, stellt sich unweigerlich die Gottesfrage. Ist Gott der Grund meiner Existenz und ist er das Ziel meiner Existenz. Mit dieser Frage ist Bangen und Zweifeln verbunden. Dem kann keiner entrinnen. Aber wer sich dieser Frage stellt und – wenn auch nur zögernd – mit ‚Ja‘ beantwortet, der wird in den Nebeln des Lebens ein tragendes Vertrauen spüren und ein Zutrauen, sich überlassen zu können, sich Gott überlassen zu können.
‚Gib acht auf dich‘ und vertraue dich an; vertraue dich Gott an, der Dir bei aller Ungewissheit, die das Leben auzeichnet, Freundschaft anbietet. Mit diesen beiden Ermutigungen möchte ich es wagen, durch den dicksten Nebel zu waten. Ja es stimmt: Auch im Lebensnebel können wir standhaft bleiben.
Christoph Simonsen
Predigt am 30. Oktober
Evangelium Lukas 19,1-10
Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt. Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich. Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.
„Mama, put my guns in the ground“ (Bob Dylan)
Mama, nimm dieses Abzeichen von mir.
Ich brauche es nicht mehr.
Es wird dunkel, zu dunkel um etwas zu sehen.
Ich fühle mich als klopfe ich an die Himmelspforte.
Mama, vergrabe meine Waffen.
Ich kann mit ihnen nicht mehr schießen.
Der lange schwarze Schatten senkt sich ab.
Ich fühle mich als klopfe ich an die Himmelspforte.
Ich vermute, die meisten von euch werden diesen Text in Englisch besser einordnen können:
Mama, take this badge off o‘ me
I can’t use it anymore
It’s gettin‘ dark, too dark to see
I feel I’m knockin‘ on Heaven’s door
Mama, put my guns in the ground
I can’t shoot them anymore
That long black cloud is comin‘ down
I feel I’m knockin‘ on Heaven’s door
Bob Dylan, der Literaturnobelpreisträger dieses Jahres bittet seine Mutter, ihn aus den Zwängen des Krieges (des Vietnamkrieges) zu befreien. Der Sohn bedrängt sie, mit all ihrer zur Verfügung stehenden Autorität als Mutter dem Krieg ein Ende zu setzen. Er fühle sich, als klopfe er an die Himmelspforte. Was heißt das anders als, er fühle sich vom Tod bedrängt. Wer so tiefe, bedrängende, beängstigende Gefühle in Worte zu fassen vermag, die keinen unberührt lassen, der hat in der Tat diesen großen Preis der Worte verdient.
„Ich fühle mich, als klopfe ich an die Himmelspforte“. So ähnlich müssen sich die Israeliten auch gefühlt haben in der Gefangenschaft Ägyptens. Davon erzählt die heutige Lesung nämlich. Es ist wie damals in den 70iger; Jahren und es ist wie heute, 40 Jahre später; und es ist wie zur Zeit des Übergangs zur neuen Zeitrechnung: Immer wieder Krieg und immer wieder Menschen, die sich nichts mehr ersehnen als Ruhe und Frieden und die Chance, ihr bescheidenes Leben leben zu dürfen. Und, Gott sei es gelobt, immer wieder gibt es Menschen, denen es gelingt, den Menschen Hoffnung zu schenken, Schuld hinter sich zu lassen und zurückzukehren zu einer erstarkten Kraft der Solidarität.
Dort, wo das Volk der Israeliten Knechtschaft durchleiden musste. Dort, gerade dort, spricht ein Mensch von Gott als dem großen Freund des Lebens. Dort, wo sich in den letzten Jahrzehnten der alten Zeitrechnung Gläubige und der Religion fern stehende Juden gegenseitig verfolgt haben und verleumdet; dort, wo die einst erfahrene Verbundenheit, als ein Volk zusammen zu gehören, in absurden Kleinkriegen geradezu verraten wurde; dort spricht einer von der Hoffnung, dass die Menschen von der Schuld und der eigenen und eigen verschuldeten Zerrissenheit lassen werden und zurückkehren zur Kraft der Solidarität. „Du Gott, hast mit allen Erbarmen. Du liebst alles, was ist“. Das ist kein Zufall, dass immer wieder Gott diese Hoffnung ist.
Wer von uns ist besessen von solch einer Zuversicht? Wer von uns könnte das heute in die Welt hinausrufen, dass Gottes Liebe grenzenlos ist, wo wir Menschen einander durch Grenzen trennen und Menschen an Grenzen ihrer Ohnmacht zerbrechen? Wer von uns kann sich zum Beispiel in Calais hinstellen, dorthin, wo gerade Unmengen von Bussen Unmengen von Menschen abtransportieren und Träume mit Füßen getreten werden und dort rufen, Gott liebe alles, was ist?
Das heutige Evangelium präzisiert diese Liebe Gottes, verdeutlicht, wie Gott handelt, um die Hoffnung der Menschen zu nähren.
Zachäus ist von Natur an von kleiner Statur. Man könnte ihn übersehen. Anerkennung hat er sich ergattert durch seinen Beruf als Zöllner. Dieser Zachäus nun steigt auf einen Baum, um Jesus besser sehen zu können. Er ist neugierig; er ist im wahrsten Sinn des Wortes gierig nach Neuem. Er will nicht mehr nur als Statussymbol wahrgenommen werden, sondern als Mensch, auch als kleiner Mensch.
Dies meint er erfahren zu können, wenn er Jesus näher kennenlernt. Zachäus will etwas verändern in seinem Leben, will ausbrechen. Er will ausbrechen aus dem gesellschaftlichen System, in dem die da oben die da unten ausnutzen. Er will – symbolisch gesprochen – anderen nicht mehr die Pistole auf die Brust setzen: Gib du mir von Deinem, damit es mir gut geht. Er hat die Nase voll davon, vom Gewinn der anderen zu profitieren als Zöllner. Das kann doch nicht der Sinn des Lebens sein, auf Kosten anderer zu leben. Das, so hat er gehört, hat dieser Jesus immer wieder gepredigt. Und davon, dass geben seliger ist als nehmen. Und davon, dass jede und jeder unendlich viel Reichtum in sich trägt. All das hat Zachäus neugierig gestimmt; deshalb ist diese Neugierde in ihm hochgekommen, um zu schauen, was das für einer ist, dieser Jesus. Und ob er glaubwürdig ist oder wie so viele andere nur ein Schwätzer vor dem Herrn.
Und was macht dieser Jesus? Er schaut Zachäus an. Ihn, auf den alle mit Verachtung schauen, weil er machtvolles Glied des Systems ist, ihn schaut er an und bittet um Gastfreundschaft. Und da spürt er: in der Gastfreundschaft erweist sich Zukunft: göttliche Zukunft.
Zachäus braucht diese Abzeichen nicht mehr, die ihn ausweisen als jemanden, der über andere bestimmt, über andere herrscht. Er braucht die Uniform des Zöllners nicht mehr, die ihm die Anerkennung der anderen sichert, wenn auch nur aus Angst vor der Macht, die sich in dieser Uniform präsentiert. Jesus sieht den Menschen in Zachäus, nicht den Staatssoldaten, den Parteisoldaten, den Systemsoldaten. Und Zachäus nimmt im Blick Jesu wahr, wie nah er der Himmelspforte im Sinne von Bob Dylan gestanden ist, weil er sich verkauft hat an den Staat, an die Partei, an das System und sein Leben dem Krieg verschrieben hat, dem Krieg der Gier.
„Mama, vergrabe meine Waffen, ich kann mit ihnen nicht mehr schießen“. Welche Waffen müssen wir vergraben? Und welche Abzeichen müssen wir ablegen, um Hoffnung verbreiten zu können statt Angst?
Christoph Simonsen
„Ist your light, thats lights the world“ – Predigt zum Semestereröffnungsgottesdienst am 23.Okt 2016
Wenn einem partout nichts einfällt, man hat den Bildschirm vor sich mit der leeren
Word-Maske, die Finger liegen wie gelähmt auf der Tastatur, ohne dass auch nur der leiseste Gedankenblitz die Fingerkuppen in Bewegung bringen lässt, was macht man da? Da hat wohl jeder hat seine eigenen kleinen Tricks, um die kleinen Zellen da oben im Kopf wieder irgendwie in Gang zu bringen, vermute ich mal. Aber was ist, wenn es mehr ist als nur Unkonzentriertheit oder Überarbeitung? Was ist, wenn diese Lähmung begründet ist in einem Zweifel an sich selbst?
Ich leg mich in die Badewanne, mach mir ruhige Musik an und versuche, mich von zu viel Druck und Zwang zu lösen. Da schweift mein Blick auf die Flasche mit dem Duschgel vor mir. Was steht da drauf: Its your light, thats lights the world“. Auf den Spruch musst du als Produktdesigner erst mal kommen in Verbindung mit einem Duschgel. Was wohl damit gemeint ist? Phosphoreszierendes Duschgel fände ich jetzt nicht wirklich prickelnd. Aber anders gedacht kann man schon eine Verbindungsbrücke bauen: ein schönes Bad, sich entspannt unter die Dusche stellen, vermag in der Tat neue Lebensgeister zu wecken und einen strahlen zu lassen. So können Badewannen-Zeiten zu lichten Zeiten werden. Manchmal können sie sogar Selbstzweifel runterwaschen.
Ich hatte mich in die Badewanne gelegt, weil ich mich leer gefühlt habe. Da war eine lähmende Leere. Das war kein black out so wie vor einer Prüfung, wo einem plötzlich der Wissensstoff verloren gegangen ist, weil man nervös ist.
Das war eine andere Art von Leere. Es ist schwer auszudrücken, aber vielleicht bringt es das viel zu schwache Wort „Sinnleere“ am ehesten auf den Punkt.
An diesem Abend, als ich mich in die Badewanne gelegt habe, weil mir bei der Vorbereitung zu dieser Predigt absolut nichts eingefallen ist da kam mir diese Sinnfrage in den Kopf, ob ich der Richtige bin, Euch die angemessenen Worte zum Semesterstart zu schenken. Worte, die ermutigen, die Lust aufkommen lassen auf die nächsten Monate hin, sich auf das Studium einzulassen, auch dann, wenn es einen zuweilen überfordert. Ich war verunsichert, ob ich nicht viel zu weit weg bin von euren Lebensräumen. Das ist eine verdammt wichtige Frage; die Frage, ob ich da richtig bin, wo ich bin. Wenn ich auf diese Frage keine Antwort habe, dann wird mein Leben ziemlich panisch. Deswegen die Suche nach der Ruhe in der Badewanne und deshalb auch ein großer Dank an den genialen Produktdesigner, der mich, ohne es zu wissen, aus einem ziemlichen Tief wieder herausgeholt hat mit seinem Spruch: „Its your light, thats lights the world“. Diese Überzeugung hat mir gut getan. Sie hat mir gut getan, weil sie mir wieder eine Brücke gebaut hat zwischen meiner Innenwelt und meiner Außenwelt; Welt und ich bedingen einander, brauchen einander. Dieser Spruch hat mir Mut gemacht, nach dem Licht in mir zu suchen. Manchmal braucht es solche Erinnerungen unverhoffter Art, um einen darauf aufmerksam zu machen, dass etwas in einem leuchtet.
Menschen mit einer Ausstrahlung, die vermögen andere zu begeistern, die wecken Neugierde, die können andere zu einem mutigen Leben anregen, zu einem echten, ehrlichen unverblümten Leben. Strahlende Menschen, die machen die Welt wirklich heller. Der Produktdesigner hat das gut erkannt. Und mich hat er neu mit der Nase drauf gestoßen.
Allen, die nicht das gleiche Duschgel benutzen wie ich, empfehle ich das heutige Evangelium. Da ist auch vom Leuchten die Rede; aber nicht nur, denn das Evangelium heute spricht auch von Menschen, die glänzen wollen. Leuchten ist etwas Grund weg anderes als Glänzen zu wollen.
Es gibt Menschen, die glänzen vor Selbstbewusstsein, weil sie überzeugt sind, nahezu perfekt zu sein. Sie alles richtig machen, ihnen kann keiner einen Vorwurf machen, sie sehen bei sich keinen Grund, sich auch nur irgendwie in Frage zu stellen. In den anderen Menschen sehen sie grundsätzlich das Unfertige, das Minderwertige und in Gott sehen sie den Erbsenzähler, dem man wie dem Prüfungsvorsitzenden die Erfolgsliste vorlegen muss mit der vollen Punktzahl und dann bekommt man das Lebenszertifikat ausgestellt. Menschen, die sich so Gott und den anderen präsentieren, die mögen glänzen mit ihren Erfolgen, aber sie strahlen nicht, sie leuchten anderen Menschen nicht, geben anderen nicht die Chance, im Licht zu stehen; ja noch mehr, nehmen anderen das Licht, um ihre Wege gehen zu können. Erfülltes Leben erweist sich für sie in einem normgerechten Leben.
Hinter diesem Menschen steht ein anderer Mann, unscheinbar, übersehbar. Aber keineswegs verzichtbar. Er zeigt sich mit seinen Niederschlägen, mit seinen Misserfolgen. Dieses Leben strahlt, weil es sich offen zeigt, ungeschönt, ehrlich und voller Erwartung. Dieses Leben weckt eine große Neugierde bei Gott und eine große Ehrfurcht. Wer sich seiner eigenen Unvollkommenheit stellt, all seine Zweifel und Fragen zulässt, ausspricht, Gott und den Menschen anvertraut, geht als Gerechter nach Hause. Aufrecht geht er nach Hause. Auch hinter uns stehen solche Menschen. Vielleicht, wenn wir ehrlich sind, gleichen wir diesem Menschen mehr als wir ahnen.
Die Gefahr ist groß, dass die Hochschulen und unsere Gesellschaft eher dem eine Zukunft versprechen, der glänzt mit guten Abschlüssen, mit exzellenten Ergebnissen. Solch ein Glanz stumpft ab, wird matt und nutzt sich ab. Führt mich nicht nach Hause sondern einzig in die Egozentrik und Selbstverliebtheit. Wer abends guter Dinge nach Hause gehen möchte, sollte sich die Ehrlichkeit vor sich selbst bewahren.
„Its your light, thats lights the world“. Ich hab mich mit manchem Selbstzweifel in die Wanne gelegt. Dank meines Duschgels bin ich drauf gestoßen, dass gerade dieser Selbstzweifel und die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit zu leuchten vermögen und mir und uns im beginnenden Wintersemester 2016/2017 helfen können, nicht übermütig und selbstgerecht zu werden. Übermut tut selten gut. Und Selbstgerechtigkeit verdunkelt die Strahlkraft der Menschlichkeit.
Christoph Simonsen
Franziskus – ein RadikalChrist (Predigt am 2.Okt 2016)
Einer, der mit den Ermahnungen des Paulus (2 Tim 1,7-14) und den Verweis auf die Botschaft Jesu ernst gemacht hat in einer sich wandelnden Gesellschaft war der Heilige Franziskus:
Sein Vater, der wohlhabende Kaufmann Pietro Bernardone, hatte sich das Leben seines Sohnes Giovanni Battista Bernardone, geboren 1181 wohl anders vorgestellt. Er wollte ihn zum Kaufmann machen und ließ ihm eine gute Ausbildung zuteilwerden. Der Sohn lernte Lesen, Schreiben, Rechnen, Latein und Französisch. Den Spitznamen Francesco (=Französchen) erhielt er aufgrund der Vorliebe der Eltern für Frankreich. Später sprach er immer dann, wenn er ganz bei sich war Französisch.
Nach einer unbekümmerten Jugend und ehrgeizigen Träumen von hohen Ritterwürden wurde Franz von Assisi 1205 durch das Miterleben eines Kriegszuges in Apulien krank und innerlich umgewandelt. Bei einem Gebet in San Damiano fühlte er sich von der dortigen Kreuzikone persönlich angesprochen. Die Legende berichtet, Christi Stimme habe zu ihm gesprochen: „Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät.“ Franz von Assisi begann daraufhin ein mönchisches Büßerleben in Gebet und strengem Verzicht und stellte zerfallene Kapellen in seiner alten Heimat wieder her.
Er zog als Wanderprediger durch das Land, wie einst Jesus in Armut und Demut. Bei den einen, insbesondere auch dem hohen Klerus, erntete er dafür nur Hohn und Spott, andere schlossen sich ihm an: Sie trugen das Gewand der armen Leute – eine grobe Tunika mit Kapuze und einen Strick als Gürtel.
Diesen „Lebensstil“ entnimmt er den Aussendungsworten Jesu an seine Jünger:
Evangelium: Lk, 10,3-9
3 Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.
4 Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe! Grüßt niemand unterwegs!
5 Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: Friede diesem Haus!
6 Und wenn dort ein Mann des Friedens wohnt, wird der Friede, den ihr ihm wünscht, auf ihm ruhen; andernfalls wird er zu euch zurückkehren.
7 Bleibt in diesem Haus, esst und trinkt, was man euch anbietet; denn wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn. Zieht nicht von einem Haus in ein anderes!
8 Wenn ihr in eine Stadt kommt und man euch aufnimmt, so esst, was man euch vorsetzt.
9 Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe.
Der Nährboden für die armen oder „minderen“ Brüder, wie Franziskus sie selbst nannte, war im 13. Jahrhundert bereitet. Die Gesellschaft befand sich im Umbruch. Die Städte blühten auf, die Menschen zog es weg von den bäuerlich dominierten Strukturen, hin zu städtischen Lebensformen. Das zeitigte dramatische Veränderungen in allen sozialen und wirtschaftlichen Bereichen. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich wuchs, Autoritäten wurden hinterfragt und die Kritik an der unfrommen und ausschweifenden Lebensweise auch hoher kirchlicher Würdenträger nahm zu.
Es ist ein allmählicher Umwandlungs- und Selbstfindungsprozess, den Franziskus erlebt. Später wird er diesen Prozess als göttliche Führung, als Gnade erkennen.
Es sind insbesondere 3 Charakterzüge Francescos, die diesen Wandel bewirken, bzw. fördern:
Er ist maßlos! Zum Eigentum und zum Geld hat er eigentlich nie ein positives Verhältnis. Diese Linie wird nahtlos in seine neue Identität eingehen. Sein ganzes Leben wird er von einer fraglosen Spontaneität geprägt sein, von einem verschwenderischen Einsatz, vom Gedanken des <<Umsonst>>.
Das Eigentum wird er schließlich für sich und seine Gemeinschaft grundsätzlich ablehnen.
Ein anderer Grundzug seines Charakters ist seine Eitelkeit und sein Größenwahn. Zu wiederholten Malen gibt er zu erkennen, dass er zu Größerem berufen ist, zum großen Fürsten, Ritter, Helden, und dass ihn einmal die ganze Welt verehren wird. Dieses Selbstbewusstsein wird Franz nie verlieren.
Er wird überzeugt sein, gesandt und gerufen zu sein, einen Auftrag zu haben, wie ein Prophet von göttlicher Inspiration getroffen zu sein, dass darum seiner Lebensform Gültigkeit zuzubilligen sei bis ans Ende. In geradezu paradoxer Weise steht dieses prophetische Selbstbewusstsein im Gegensatz zu einem ebenso großen Gefühl der Kleinheit, das Brüderchen und der unbedeutende kleine Diener zu sein.
Hinzu kommt seine außerordentliche Sensibilität für die Armen und Ausgestoßenen, sein ritterliches Verhalten zu allen Menschen. Schon früh geht ihm auf, dass Armut eine Provokation für das Herz ist, dass sich Ritterlichkeit und Freigebigkeit nicht nur auf Menschen beziehen dürfen, die Gleiches mit Gleichem vergelten können. Wenn es Adressaten für Freigebigkeit und Ritterlichkeit gibt, dann vor allem die, welche nichts zurückgeben können.
Das heißt aber auch aktiv auf die Armen und Ausgestoßen zuzugehen, sozusagen die Begegnung auf Augenhöhe zu suchen.
Er beschreibt diesen Wandlungsprozess in seinem Testament so: „Früher war es mir unerträglich bitter erschienen, Aussätzige auch nur anzusehen. Doch der Herr hat mich mitten unter sie geführt und Leib und Seele mit übergroßer Freude erfüllt.“
Franziskus radikalisierte sich, je mehr er sich in das Evangelium vertiefte und versuchte dies zu leben. (Radikal kommt aus dem Lateinischen von radix – Wurzel, von daher kann man Franziskus als Radikal-Christen bezeichnen)
Radikale finden gleichgesinnte Anhänger und stoßen Andere ab, die die Radikalität nicht teilen können. Auch diese Attraktivität und Ablehnung erfuhr das Leben des Franziskus:
Sein Vater enterbt ihn, weil er das Familienvermögen „maßlos“ an die Armen verteilt, anstatt sich seinem gesellschaftlichen Status entsprechend zu kleiden und auszustatten. Die Reaktion: Franziskus zieht sich vor dem Bischofspalast aus, wirft seine Kleider und sein Geld dem Vater vor die Füße und erklärt: Er sei Sohn Gottes, nicht mehr der Sohn des Pietro Bernadone, nackt und arm. Allein von den Gaben des himmlischen Vaters wolle er leben.
Franziskus verlässt die Stadt mit einem neuen Bewusstsein: Sohn Gottes, Herold des Großen Königs.
Er bricht mit seiner Familie, seinem Stand und auch mit seinen Freunden.
Parallel mit der gesellschaftlichen Radikalisierung geht die kirchliche Radikalisierung:
Entsprechend seinem Ritterideal will er in den Dienst Walters von Brienne treten, der im Dienst des Papstes steht. Auf dem Weg dorthin kommt die Wende durch einen Traum, in dem ihm klar wird, dass es nur einen Herrn gibt, der Anspruch auf seinen Dienst erheben kann, Gott.
Aber wie soll dieser Dienst aussehen, was ist der Auftrag seines Lebens? Er reist nach Rom, um dort ein neues Leben zu probieren als Bettler. In Rom erfährt er die Diskrepanz von äußerer und innerer Religion. Für ihn steht fest: Die Religion verlangt ein großherziges und spontanes Herz für Gott und die Menschen, die unauflösbare Verbindung von Mystik und Politik.
In Rom aber erlebt er, dass es Leute -Kleriker wie Laien- gibt, welche diese Einheit zerschlagen, die religiöse Akte vollziehen, aber kein Herz haben. Sie verehren die Apostel, doch sie können nicht geben.
Mit dieser Religion will Franziskus nichts zu tun haben. Er wird von nun an zu den Bettlern gehören, lieber draußen vor der Türe als drinnen bei den <<Frommen» sein.
Diese Konsequenz und Lebensweise wird unter den jungen Reichen Männer wie Frauen (also seinen Standesgenossen) attraktiv und schon bald schließen sich ihm Gleichgesinnte an, um mit ihm diese Lebensweise zu teilen.
In der damaligen Zeit waren Protest- und Armutsbewegungen nicht selten, insbesondere wenn sie von religiöser Radikalität geprägt waren und sich gegen die Kirche und den Klerus richteten. Franziskus aber wollte ja die Kirche von innen her erneuern und er stellte nicht deren Autorität und Struktur in Frage, sondern deren unevangelischen Prunk und Protz.
Wenn Menschen zusammen leben, brauchen sie Regeln. Diese forderten seine Brüder und Schwestern, wie sie sich nannten, von ihm ein. Er verwies sie auf das Evangelium allein. Er schreibt einige Kernsätze wie die Aussendungsworte und Verhaltensregeln der Bergpredigt sowie einige unbedingt notwendige Verhaltensregeln für das Leben in der Gemeinschaft auf und da sie ja eine Gemeinschaft in der Kirche sein wollen, brauchen sie für diese Regel die päpstliche Anerkennung. Die Skepsis der Autoritäten und Juristen in Rom, die sich auf die nicht vorhandene materielle Absicherung der Gemeinschaft beziehen, überwindet er mit dem Hinweis der göttlichen Berufung zum Leben in dieser Gemeinschaft und den Verweis darauf, da es ja Gottes Wirken sei, was sie vollziehen werde, also auch Gott auch für ihre materielle Absicherung sorgen werde.
Eine Gemeinschaft braucht einen Ort, um sich zu treffen und auch als geistliches Zentrum. Diesen Ort findet die Gemeinschaft in der Kapelle Portiuncula. Sie wurde zur Hauskirche der Brüder und Schwestern. (ähnlich wie hier in Aachen Kapharnaum).
Die Bewegung breitet sich in der damaligen bekannten Welt aus und ist dabei von der Versöhnungs- und Friedensbotschaft des Evangeliums inspiriert.
So versucht Franziskus selbst sogar während des Kreuzzuges zwischen Christen und Muslimen zu vermitteln. Erfolglos.
Aber er lernt die muslimische Sufi-Bewegung kennen und übernimmt einige ihrer Rituale.
Eine weitere Radikalisierung war eher mystischer Art:
Immer wieder versucht er sich in seinen Meditationen in Jesus hineinzuversetzen, von ihm her zu denken und zu fühlen. In der Fastenzeit 1224 während er das Bild des Gekreuzigten meditiert, identifiziert er sich sosehr mit ihm, dass die Wundmale Jesu an seinem Leib durchbrechen. Er versucht sie zu verbergen, auch vor seinen engsten Vertrauten.
Für uns heute noch schwerer nachzuvollziehen, verkörpert er so Christus. Diese Stigmatisation ist nur von Jesus her zu verstehen. Sie ist Hinweis, Zeichen, Sakrament. Aus sich selbst hat sie keine Kraft und keine Bedeutung.
Zweieinhalb Jahre später 1226 stirbt er nach langem Leiden, entkräftet von Malaria, Magen- und Darmgeschwüren, fast blind im Alter von 44 Jahren im Kreis seiner engsten Vertrauten, Brüder und Schwestern in Portiunkula. Diese beten, als er nackt auf dem Boden liegt, dem Kreuz zugewandt, den Psalm 142 und singen den Sonnengesang, den er nach seiner Stigmatisation 2 Jahre zuvor geschrieben hat.
Der heilige Franziskus gehört für mich zu den packensten Persönlichkeiten der Kirchengeschichte und er ist für mich wirklich ein radikaler Heiliger, weil er versucht hat, das was er von der befreienden Botschaft Jesu verstanden hat bis in die letzte Konsequenz zu leben.
Sein Leben und seine Botschaft bewegen und begeistern innerhalb und außerhalb der Kirche auch heute noch viele Menschen. Seine Spuren finden sich nicht nur in den franziskanischen Ordens- und Laiengemeinschaften, sondern auch in der Taizè-Bewegung in den Leitworten von Kampf und Kontemplation. Franziskanisches Gedankengut findet sich in der Befreiungstheologie Lateinamerikas (insbesondere beeinflusst von dem Franziskaner-Theologen Leonardo Boff) . Er findet auch im selbstgewählten und an ihm Maß nehmenden Namen erstmals auch einen päpstlichen Nachfolger.
In Papst Franziskus entdecke ich viel Franziskus sowohl in seiner Solidarität mit den Armen und Ausgestoßenen, als auch in seinen Friedensbemühungen, in seiner einfachen Lebensführung und in seinem Bemühen die Kirche zu reformieren und wieder zu einer glaubwürdigen Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu zu machen.
Konkretisierungen zu Franziskus angeregt von Anton Rotzetter, Franz von Assisi
neu zusammengestellt, verbunden und interpretiert von Guido Schürenberg im Hochschulgottesdienst am So 2.Okt. 2016