Predigten Fastenzeit – Pfingsten 2016
Pfingstsonntag, 15. Mai
Lesung Apostelgeschichte, 2,1-11
Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.
„Alle wurden mit Heiligem Geist erfüllt“ – Wirklich Alle
„Was ist mit dir los?“ Mit dieser Frage leitete Papst Franziskus am Tag nach Christi Himmelfahrt seine Ansprache ein anlässlich der Verleihung des Aachener Karlspreises. „Was ist mit dir los, Europa?“ Und in dieser Frage offenbarte sich, ohne dass es explizit ausgesprochen werden musste, eine große Sorge; die Sorge nämlich, dass der Geist Europas, der Geist der Dichter und Denker, der Philosophen und Wissenschaftler, der Geist des Wagemutes und der Grenzenlosigkeit, der Geist der Vielfalt und der freien Gesinnung unterdrückt werden könnte durch ein Grundgefühl der Angst. Angst lähmt, lässt erstarren, macht unbeweglich. Die Angst ruft einem zu: ‚Halte fest, was du hast. Und halte es gut fest, sonst nehmen es dir andere weg‘. Angst verkrampft.
Mir gingen diese Worte nicht aus dem Sinn, als ich einige Tage später das Haus der Familie Mann in Lübeck und natürlich auch das Buddenbrocks-Haus besuchte und darin die eindrückliche Ausstellung über das Leben und Werk dieses großen Schriftstellers Thomas Mann. Thomas Mann, der seine eigene Schulzeit später als „stumpfsinnige Zeit“ beschrieben hat und mit der mittleren Reife die Schule mit Ach und Krach verließ, der dann 1901 den Roman „Die Buddenbrocks“ schrieb und den bürgerlichen Verfall am Beispiel einer Lübecker Kaufmannsfamilie beschrieb und dafür 1929 den Literaturnobelpreis erhielt: dieser Thomas Mann ging schweren Herzens am Tag der ersten Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 ins Exil, gleichwohl nicht seine Bücher verbrannt wurden, wohl aber die seines Bruders Heinrich und seines Sohnes Klaus Mann. Den Nationalsozialismus nannte er „eine Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsrohheit mit Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Munde hat“.
Immer, wenn ich in Berlin bin, muss ich einen Augenblick verweilen auf dem Bebelplatz direkt neben der Oper unter den Linden und nur einige Schritte entfernt von der Hedwigskathedrale. Dort auf dem Bebelplatz liegt ganz unscheinbar eine Glasplatte auf dem Boden, über die die meisten hinweggehen. Wer aber stehen bleibt und hineinschaut, der blickt hinein in einen leeren Raum, an dessen Wände weiße Bücherregale stehen – leer. Offensichtlicher kann man sich ein Leben ohne das freie Wort nicht vorstellen. Ein Leben ohne die Kraft des Wortes, ein Leben ohne das Geschenk bewegender Geschichten kann nur in Armseligkeit enden, in absolute Leere. Wen wundert es, dass Thomas Mann und viele andere nicht leben konnten und nicht leben wollten, wo das freie Wort und der freie Gedanke verfolgt wurden. Worte verbinden, Worte decken auf; Worte vermitteln, Worte erschrecken auch. Aber da, wo Worte sind, da ist immer auch ein Funke Hoffnung, dass sich etwas klären kann, etwas aufklaren kann. Der Papst spricht in seiner Rede von einer dynamischen und multikulturellen Identität und von der Mehrpoligkeit Europas. Wenn die bitteren Erlebnisse, die Thomas Mann durchleben musste, nicht erneut Wirklichkeit werden sollen, dann ist es wohl an der Zeit, die Worte des Papstes all den Damen und Herren ins Hausaufgabenheft zu schreiben, die in unseren Tagen in ihrer Wortwahl und in ihrem Gedankengut dem nahe kommen, wovor der Schriftsteller und die Seinen damals geflohen sind. Was aber viel wichtiger ist, dass wir diese Worte aus Rom hören und uns fragen, was sie für uns bedeuten und welche Konsequenzen sie für uns bedeuten.
Am Pfingsttag hörten die Menschen sich alle in ihren verschiedenen Sprachen sprechen und sie verstanden sich. Göttlicher Geist bricht die Grenzen der Sprach- und Verständnislosigkeit auf. Göttlicher Geist schafft Verstehen.
Ich stelle mir vor, dass der Geist Gottes so arbeitet wie der Läufer eines Reißverschlusses. Er fügt zusammen, was getrennt ist. Und er tut es so behutsam, dass keiner beschädigt wird. Er möchte das Leben in der Welt zusammenhalten; er möchte Menschen einen, indem er sie miteinander verzahnt. Damit dieser Geist wirken kann, bedarf es einer Voraussetzung: Wir Menschen müssen uns zusammenstellen.
Das Bild des Reißverschlusses hinkt an einer Stelle, denn dort müssen die einzelnen Noppen sortiert in Reih und Glied stehen, im Blick auf den Hl. Geist, dürfen die Menschen ruhig etwas chaotischer beieinander stehen, nicht so aufgeräumt. Es genügt, wenn wir uns zur Verfügung halten, damit der Läufer – der Hl. Geist eben – im wahrsten Sinn des Wortes über uns fahren kann und uns zu verbinden vermag. Und eben das verlangt uns dieses Fest des Heiligen Geistes ab: Uns zur Verfügung zu stellen, ohne Uniformität zu verlangen oder zu erwarten. Nicht eine Uniformierung des Denkens und Redens schafft Raum für ein geisterfülltes Leben, sondern, wie der Papst es zusammenfasst: die Fähigkeit, zu integrieren – und ich füge hinzu: integrieren macht nur dort Sinn, wo etwas unterschieden und unterscheidbar ist und bleiben darf), die Fähigkeit des Dialogs – und ich füge hinzu: Dialog macht da Sinn und macht auch da nur wirklich Spaß, wo in der Verschiedenheit das Wertige gesucht wird) und zum Dritten ist der Papst der Überzeugung, dass die Fähigkeit, Neues zu schaffen, unerlässlich dafür ist, dem Geist Gottes Raum zu geben – wo ich wieder hinzufügen möchte dass eben dies die größte Herausforderung ist, denn nur der Mut zum Neuen vermag die Angst zu verbannen, die das Alte, das Erreichte und Errungene als Lebensziel fest zu zementieren versucht.
„Was ist los, mit dir?“ Was ist los mit uns, möchte ich abschließend fragen. Vertrauen wir dem Geist Gottes, der uns ermutigt, Wege ins Ungewisse zu gehen, oder vertrauen wir den Stimmungsmachern unserer Tage, die zwar bisher noch keine Bücher verbrennen, aber sehr wohl die Geister dazu rufen?
Christoph Simonsen
Sonntag, 02. Mai
Evangelium: Johannes 14,23-29
Jesus antwortete ihm: Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. Wer mich nicht liebt, hält an meinen Worten nicht fest. Und das Wort, das ihr hört, stammt nicht von mir, sondern vom Vater, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch gesagt, während ich noch bei euch bin. Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht. Ihr habt gehört, dass ich zu euch sagte: Ich gehe fort und komme wieder zu euch zurück. Wenn ihr mich lieb hättet, würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer als ich. Jetzt schon habe ich es euch gesagt, bevor es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, zum Glauben kommt.
Wenn Mensch und Wort verschmelzen
Der Mond ist aufgegangen
Die goldenen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar
Der Wald steht still und schweiget
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar
Dieses zur Ruhe einladende Kinderlied, das schon so vielen Kindern von ihren Müttern oder Vätern vor dem Schlafengehen vorgesummt wurde, ermöglicht uns vielleicht heute Abend, einen Einblick in die Gefühlswelt Jesu zu erhalten. Die Botschaft dieses Gedichtes bedarf keiner Erläuterung; mit ganz einfachen Worten beschreibt es einen Zustand der Natur. Ganz wenige Worte, die nichts anderes zum Ausdruck bringen als das, was die Natur immer wieder vollzieht im immerwährenden Rhythmus. Ganz wenige Worte, die die Welt beschreiben. Und wir, die wir diese Worte hören, werden unweigerlich verzaubert im Angesicht der Wunder, die die Welt uns bereitet. Es ist wohl wirklich so, dass diese wenigen Reime Wunderbares in mir, in uns erwecken: Staunen und zugleich eine ganz tiefe Ruhe.
Ich möchte Euch noch ein zweites Gedicht anvertrauen heute. Es ist von Erich Fried und es trägt den gedankenoffenen
Titel: „Aber vielleicht“
Aber vielleicht
Meine großen Worte
werden mich nicht vor dem Tod schützen
und meine kleinen Worte
werden mich nicht vor dem Tod schützen
überhaupt kein Wort
und auch nicht das Schweigen zwischen
den großen und kleinen Worten
wird mich vor dem Tod schützen
Aber vielleicht
werden einige
von diesen Worten
und vielleicht
besonders die kleineren
oder auch nur das Schweigen
zwischen den Worten
einige vor dem Tod schützen
wenn ich tot bin
Wenn auch diese beiden Texte aus ganz verschiedenen Zeiten stammen und offensichtlich nicht vergleichbaren Genres angehören, so verbindet sie beide etwas eklatant Selbstverständliches: Sie beschreiben, was ist. Matthias Claudius beschreibt einen Zustand der Natur, und auch Erich Fried fasst nichts anderes in Worte als das, was dem Lauf der Natur zu eigen ist: Was immer auch geschieht, am Ende steht der Tod.
Wenn Menschen beschreiben, was ist – mögen sie es tun als Poeten so wie Claudius und Fried, oder mögen sie es tun als normale Weltbeobachter – wenn Menschen beschreiben, was ist, so erliegen sie oft nicht nur einer gewissen Nüchternheit, nein, sie verfallen auch sehr oft einer Stimmung, die geprägt ist von Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit. Ich selbst kann mich nicht davon freisprechen. Wenn ich versuche, die Welt zu beschreiben, dann mündet dies nicht selten in Frustration oder in ein schicksalhaftes ‚sich-Fügen‘.
Als Dichter sind Matthias Claudius und Erich Fried Meister des Wortes. Aber nicht gute Rhetorik und auch nicht eine Brillanz der Sprache machen einen Dichter zu einem guten Dichter (und im Übrigen gilt das auch für eine Predigt). Von Belang ist, ob das Wort eine Kraft in sich trägt, an der man sich halten kann. „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten“. Wo Mensch und Wort in Einklang sind, wo Mensch und Wort eine Einheit sind, da ist das Wort mehr als eine Zustandsbeschreibung, da ist das Wort, da ist der Mensch, der dieses Wort prägt und spricht, eine Hoffnung.
Der letzte Gedanke in dem Gedicht von Erich Fried beginnt mit einem Hinweis auf den eigenen Tod. Alles Leben endet mit dem Tod, da kommt kein Weg dran vorbei. Umso wunderbarer und staunenswerter ist, dass diese Wirklichkeit, die unwiderruflich ist, eingebunden ist in Trost und Hoffnung. Nicht Frustration im Angesicht des Todes, sondern Hoffnung, genährt durch Lebensworte, gefunden, gefühlt und irgendwann endlich dann ausgesprochen; Worte, in denen Liebe, Leidenschaft, Wahrhaftigkeit offenbar wird – lebendige Worte, stärker als der Tod.
„Jetzt schon habe ich es euch gesagt, bevor es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, zum Glauben kommt“. Auch Jesus konnte der Unausweichlichkeit des Lebens nicht entrinnen. Er ist gestorben und er ist nicht mehr bei uns. Aber seine Worte klingen zeitlos, grenzenlos, maßlos in die Materie unserer Welt hinein, durchdringen alles, was ist, und erheben alles in einen den Tod überdauernden Frieden.
Aber vielleicht
werden einige
von diesen Worten
und vielleicht
besonders die kleineren
oder auch nur das Schweigen
zwischen den Worten
einige vor dem Tod schützen
wenn ich tot bin
Das „Vielleicht“ des Poeten Erich Fried darf sich für den, der zu glauben wagt, in eine Gewissheit verwandeln.
„Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.“
Christoph Simonsen
Sonntag, 24. April
5.Sonntag der Osterzeit im Lesejahr C – 2016
Evangelium: Johannes 13,31-33a.34-35
Als Judas hinausgegangen war, sagte Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist in ihm verherrlicht. Wenn Gott in ihm verherrlicht ist, wird auch Gott ihn in sich verherrlichen, und er wird ihn bald verherrlichen. Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.
Vom Glück
Schließt doch bitte einmal für einen kleinen Augenblick und fragt euch im Stillen, wann ihr das letzte Mal so richtig glücklich gewesen seid. Glück braucht auch einen Ausdruck: Vielleicht habt ihr Luftsprünge vor Glück gemacht, weil ihr euch verliebt habt zum Beispiel, oder weil ihr euch selbst näher gekommen seid und Dankbarkeit empfunden habt dafür, dass ihr so seid, wie ihr seid.
Klar, ich bin auch glücklich, wenn mir mal etwas Tolles gelungen ist, eine Prüfung zum Beispiel oder das Abendessen für liebe Gäste. Aber diese Art Glück meine ich nicht; solch ein Glück ist temporär und auch bald wieder vergessen. Dem gegenüber gibt es ein Glück, das grenzenlos ist, das sich so tief in die Seele einbrennt, dass es nicht mehr verloren gehen kann. Eine Erfahrung des Glücks ist immer ein Geschenk, denn Glück kann man nicht machen. Sicher ist euch unvergessen, wer euch glücklich gemacht hat, und welche Begegnung, welches Wort, welches Ereignis euch so getroffen hat, dass ihr bis heute davon zehren könnt?
Die wunderbare Dichterin und Theologin Dorothee Sölle hat Jesus einmal als den glücklichsten Menschen bezeichnet. Sie schrieb: „Ich halte Jesus von Nazareth für den glücklichsten Menschen, der je gelebt hat. Jesus erscheint mir in den Evangelien als ein Mensch, der seine Umgebung mit Glück ansteckte, der seine ganze Kraft weitergab, der verschenkte, was er hatte.“ Und dann schrieb sie weiter: „Je glücklicher einer ist, um so leichter kann er loslassen“.
Ich glaube, von diesem Glück wollte Jesus weitergeben, als er so überschwänglich im Kreis seiner Freundinnen und Freunde von der Verherrlichung sprechen konnte, wobei wir an anderer Stelle noch einmal darüber nachdenken müssten, was dieses Wort eigentlich bedeutet: Verherrlichung.
Etwas ist ungewöhnlich am heutigen Evangelium. So, wie wir es sonst kennen, beginnen die Texte mit „In jener Zeit…“. Diejenigen, die die Texte für die Gottesdienste zusammenstellen, retuschieren auf diese Weise, dass der Text aus einem größeren Kontext herausgenommen wurde. Heute aber ist die Zeitangabe konkreter: „In jener Zeit, als Judas hinausgegangen war…“ Um den heutigen Text zu verstehen, ist diese Konkretisierung wohl wichtig. Und da ist noch eine weitere Auffälligkeit: Jesus spricht von sich in der dritten Person. Er sagt nicht: ‚Ich bin verherrlicht und Gott ist in mir verherrlicht‘, vielmehr spricht er vom „Menschensohn“, der verherrlicht ist und Gott in ihm.
Diese genauere Zeitangabe „als Judas hinausgegangen war“, die verdeutlicht so klar, wie man es nicht klarer sagen kann, dass Jesus sich ganz gewiss nicht in einem momentanen Glücksrausch befunden haben kann. Er ist gerade dem begegnet, der ihn verraten später wird. Vielleicht haben sie sich freundlich unterhalten, Judas hat sich aus Angst oder Scham oder aus welchen Motiven auch immer, hinter Äußerlichkeiten versteckt, so getan, als sei alles in bester Ordnung und Jesus hat sicher gespürt in seiner tiefen Empfindsamkeit, dass etwas nicht stimmen kann in dieser Begegnung.
Wenn nun ein Mensch im Bewusstwerden seines ungerechten Lebensendes von Verherrlichung reden kann, dann muss da in ihm etwas lebendig sein, das solch eine verkrampfte Begegnung nicht nur erträglich macht, sondern schlicht unbedeutend. Und ich denke, es war diese tiefe Einsicht, gehalten zu sein, geliebt zu sein; so sehr gehalten und so sehr geliebt, dass dieser Schutz und diese Liebe zur Selbstidentifikation werden, die alle Verlogenheit, alle Oberflächlichkeit vergessen macht. Ich bin, weil ein anderer in mir ist, der mir gut ist. Und diese Lebenskraft kann mir keiner nehmen, nicht einmal alle Verlogenheit dieser Welt.
Dass Jesus von sich selbst in der dritten Person spricht, verdeutlicht dies signifikant. Letzte Woche hörten wir, wie Jesus sagte: „Ich und der Vater sind eins. Im Menschensohn vereinen sich Vater und Sohn. Auch wenn das jetzt albern klingen mag, aber diese tiefe Verbundenheit zwischen Jesus und seinem Vater macht aus einem „Ich“ ein „Wir“. Das ist wie bei tief vertrauten alten Ehepaaren, wo der eine oder die andere auch wie selbstverständlich das „Wir“ in den Mund nimmt, weil man wie selbstverständlich immer für den anderen mitredet. Das mag manchmal übergriffig erscheinen, aber wenn es ehrlich gemeint ist, dann ist es nichts anderes als eine Bestätigung tiefster Verbundenheit.
Glück ist mehr als ein Gefühl oder Empfinden. Glück ist ein Geschenk, das einem nur in der Verbundenheit gewahr wird; Glück ist eine duale Wirklichkeit, aus der heraus das Leben als ein Erfülltes erkannt werden kann. Ach ja, und eine Erläuterung bin ich euch noch schuldig: Ein Leben in diesem Glück, oder besser: aus diesem Glück heraus, ist ein herrliches Leben. Ein solches Leben ist verherrlicht, weil es so ist, wie es ist, weil es geschenktes Leben ist und weil es als Geschenk wahrgenommen wird.
Ich hoffe und wünsche, Euch ist gerade eben solch ein Glücksmoment in den Sinn gekommen. Ich verspreche euch, ihr braucht diesen Augenblick nicht festzuhalten. Er hält euch fest und verherrlicht euch vor Gott. Das macht euer und unser Leben so grenzenlos wertvoll.
Christoph Simonsen
Sonntag, 17. April
Lesung: Offenbarung 7,9.14b-17
Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen. Es sind die, die aus der großen Bedrängnis kommen; sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht. Deshalb stehen sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm bei Tag und Nacht in seinem Tempel; und der, der auf dem Thron sitzt, wird sein Zelt über ihnen aufschlagen. Sie werden keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden und weder Sonnenglut noch irgendeine sengende Hitze wird auf ihnen lasten. Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt, und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.
Oh wie schön ist (nicht nur Panama) diese Erde
An Bodenhaftung soll es uns heute im Gottesdienst nicht fehlen. Wir haben zwar eben in der Lesung einen Blick in den Himmel gewährt bekommen, und der verheißt ja auch viel Schönes und Angenehmes. Aber noch sind wir ja hier auf der Erde. Und ich weiß nicht, wie es euch ergeht, aber ich bin da ganz gern: auf der Erde. Auch wenn das himmlische Leben gar zu verlockend klingt und Erde und Himmel ja so gar nicht kompatibel scheinen. Im Himmel, da stehen die Menschen aller Nationen gemeinsam vor einem Thron, hier auf der Erde werden sie von Mauern und Zäunen getrennt. Im Himmel tragen alle Palmzweige in den Händen, auf der Erde halten die Menschen alles Mögliche in ihren Händen, in den seltensten Fällen Blühendes. Im Himmel tragen sie alle blütenweiße Hemden, auf der Erde ist so manches Hemd blutverschmiert. Und trotzdem ist mir die Erde näher als der Himmel. Nicht nur, weil ich ja überhaupt keinen Einfluss darauf habe, mir nichts dir nichts einfach in den Himmel hüpfen zu können. Auch nicht nur, weil ich die Erde kenne, während der Himmel mir nur Verheißung ist. Nein, mir ist die Erde näher, weil ich sie einfach gern habe, es gibt so viel Wunderbares zu entdecken und man kann sich an so Vielem freuen. Dabei ist mir schon klar: die Erde gern zu haben, kann einem manchmal abhandenkommen, so dass einen eine ungewisse Himmelssehnsucht antreiben mag. Aber dann frage ich mich immer, ob diese Sehnsucht nach dem Himmel nicht eher einer Flucht gleicht, weil die alte liebe Erde mir mal wieder zu anstrengend geworden ist. Meistens erlischt diese Liebe, wenn das Leben schematisch zu werden droht, wenn alles Leben über einen Kamm geschoren wird. Und sie erlischt auch wenn ich mich in Schwärmereien ergebe und den Bodenkontakt verliere. Schwärmerei mutiert so rasch in Frust, weil es ja doch nie so wird, wie es sein könnte. Und Frust macht so viel kaputt. Das ist schon eine Kunst zu lieben, realistisch zu bleiben und zugleich sich der Wurzeln zu erinnern, aus denen heraus alles Leben entstanden ist.
Leider waren am vergangenen Dienstag nicht so viele bei der Theaterrevue hier in der KHG, als das Hope Theater aus Nairobi uns so eindringlich gezeigt hat, wie leidenschaftlich Menschen um das Wohl der Erde ringen, wie wertvoll ihnen die Güter dieser Erde sind: Wasser, Nahrung, Tiere und Pflanzen. Ich möchte Euch heute Abend von dieser Erfahrung gern etwas weiter geben. Die Erde hat so viele Schätze für uns bereit, dass eigentlich nur Dank und Ehrfurcht eine angemessene Haltung unsererseits ihr gegenüber sein können. Ich freue mich, dass eine kleine Gruppe Studierender den Kontakt zu uns hier in der KHG gesucht haben, der Möglichkeit des Foot-sharing hier bei uns einen Ort zu geben. Lebensmittel teilen heißt immer auch Leben teilen. Die Erde hält so viele Kostbarkeiten für uns alle bereit. Deshalb möchte ich den Bodenkontakt nicht verlieren, weil dieser Boden, diese Erde mir alles gibt, was meinem Leben ermöglicht, sich entfalten zu können, wachsen zu können. Die Erde ist alles andere als perfekt und schon gar nicht ist sie himmlisch. Aber alles, was diese Erde mir bietet, was in ihr grundgelegt ist, hat Himmel öffnende Wurzeln. Himmel ist für mich weniger ein Zustand, weniger eine Ortsbeschreibung, als ein Bild, das Gott in mein Innerstes gemalt hat, um mir meiner persönlichen Verantwortung gewiss zu werden, in Dankbarkeit und Ehrfurcht allem zu begegnen, was mir aus seiner Hand anvertraut wurde.
Deshalb wird uns ausnahmsweise gleich der Strohballen zum Tisch für das Mahl der Liebe, weil der Strohballen uns daran erinnern möchte, wie viel Lebenskraft jeder einzelne Halm getragen hat, da aus den Körnern Brot für so viele Menschen gebacken werden konnte und selbst das getrocknete Heu, auf dem wir heute feiern, morgen den Pferden im Stall zum Ausruhen zurückgegeben werden kann. Das Edelste, was wir Gott anbieten können, sind eben die einfachen Dinge der Natur.
Deshalb habe ich uns eingeladen, uns auf die Erde zu setzen ausnahmsweise und nicht schön aufgereiht auf Stuhlreihen, um uns einander die Erfahrung zu schenken, dass wir hier auf der Erde keine Angst zu haben brauchen: weder voreinander noch vor all dem Neuen, was uns die Erde schenkt. Wir dürfen uns sicher fühlen, wir müssen keine Ordnungen konstruieren, keine Strukturen, wir müssen nicht trennen zwischen profan und sakral, um Gott zu gefallen.
Wenn wir dies bedenken, können Jesu Worte all das Denkkomplizierte in eine große Schlichtheit überführen. Erde und Himmel beschreiben nicht zwei Wirklichkeiten, in denen die eine auf die andere folgt und die eine die Erprobung zur Erlangung der anderen ist. Die Erde ist nicht Jammertal und der Himmel ist nicht Schlaraffenland. Jesus führt zusammen, was immer zusammengehörte und nur von den Menschen getrennt wurde, weil die Menschen immer der Überzeugung anhängen, in der Differenzierung behaupte sich das Leben. Wir Menschen differenzieren, unterscheiden, trennen und zementieren damit immer Bewertungen. Weil der Mensch bewusst zu reflektieren vermag, ist der Mensch mehr wert als das Tier. Weil das Tier Instinkten nachzugehen vermag, ist es mehr wert als die Pflanze. Weil der Mehrzeller mehr kann als der Einzeller und so immer weiter. Wir Menschen bewerten das Leben immer. Nicht weil wir unterscheiden, reißen wir die Welt auseinander, sondern weil wir in unseren Unterscheidungen Wertungen vornehmen, ist die Welt so zerrissen, wie sie ist.
Der eine Mensch aber, der ganz aus Gott ist, der führt all das wieder zusammen: Himmel und Erde, Mensch und Natur. Jesus lehrt uns, dass alles eins ist, was von Gott geschenkt und geschaffen ist. Einzig der Vater ist größer und alle, die auf seine Stimme hören, sind eins. „Lass alle eins sein, damit die Welt glaube“, heißt es bei Johannes an anderer Stelle.
Ich wünsche uns für das neue Semester ganz viel Bodenhaftung und eine große Portion Ehrfurcht vor dieser wunderschönen Erde in all ihrer Vielfalt. In dieser Achtsamkeit wird uns der Himmel ganz nahe sein.
Christoph Simonsen
Sonntag, 10. April
Evangelium: Johannes 21,1-19
Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal. Es war am See von Tiberias und er offenbarte sich in folgender Weise. Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus (Zwilling), Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen. Simon Petrus sagte zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sagten zu ihm: Wir kommen auch mit. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot. Aber in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas fangen. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr sei, gürtete er sich das Obergewand um, weil er nackt war, und sprang in den See. Dann kamen die anderen Jünger mit dem Boot – sie waren nämlich nicht weit vom Land entfernt, nur etwa zweihundert Ellen – und zogen das Netz mit den Fischen hinter sich her. Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot. Jesus sagte zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr gerade gefangen habt. Da ging Simon Petrus und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht. Jesus sagte zu ihnen: Kommt her und esst! Keiner von den Jüngern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch. Dies war schon das dritte Mal, dass Jesus sich den Jüngern offenbarte, seit er von den Toten auferstanden war. Als sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Lämmer! Zum zweiten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe! Zum dritten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Da wurde Petrus traurig, weil Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: Hast du mich lieb? Er gab ihm zu Antwort: Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich lieb habe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe! Amen, amen, das sage ich dir: Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen würde. Nach diesen Worten sagte er zu ihm: Folge mir nach!
Glaubensgeschichten sind Liebesgeschichten
Ohne Zweifel sind wir heute Zeuginnen und Zeugen einer außergewöhnlichen Liebeserklärung geworden. Das mag ein Zufall sein angesichts der Tatsache, dass in der vergangenen Woche der Papst sein Schlussdokument der letzten Bischofssynode über die Liebe „amoris laetitia“ (Die Freuden der Liebe) publiziert hat, und wenn es so ist, dann sollten wir dieses Zufallsereignis auch nutzen. Eines steht dabei fest, der Papst wählt eine viel blumigere, emotionalere Sprache als Jesus selbst. Der große Romantiker scheint Jesus nicht gewesen zu sein. Das Gespräch zwischen Jesus und Simon Petrus ist sehr nüchtern, total knapp und dazu auch scheinbar gleich mit Zweifeln durchwoben. Dreimal fragt Jesus seinen Geliebten: „Liebst du mich?“ Jesus scheint sich der Liebe seines Freundes wenig sicher zu sein. Die Enttäuschung des Petrus kann ich sehr gut verstehen. Allerdings könnte man das Gespräch auch ganz anders verstehen: Jesus kann nicht oft genug hören, in Petrus eine tragende Liebe gefunden zu haben.
Halten wir also zunächst einmal fest: Wir sind eingebunden in eine deutlich nüchterne Liebeserklärung zwischen zwei Männern und es bleibt ungeklärt, ob diese von Unsicherheit oder von Überschwänglichkeit geprägt ist. Unzweifelhaft ist nur die Ernsthaftigkeit dieses Gespräches. Der zweite Teil des Gespräches beleuchtet einen Blick die Zukunft der beiden Liebenden. „Amen, amen, das sage ich dir“; wer so spricht, der meint es ernst und der bekundet, sein Gegenüber zu kennen, wirklich zu kennen. Nicht dass die Worte Jesu autoritär klingen, wohl aber bestimmend, authentisch und zukunftsorientiert.
Ich entdecke in dieser Liebesgeschichte, an der wir teilnehmen dürfen, für mich und für uns einige Aspekte, über die nachzudenken lohnt:
• Glaubensgeschichten sind Liebes- und Beziehungsgeschichten; Liebe, ist Leben in Beziehung und Gott ist ein Gott der Liebe und der Beziehung.
So wenig eindeutig das Wort „Liebe“ auch ist, so unmissverständlich ist es doch. Aus freien Stücken aufeinander verwiesen sein, sich in Freiheit gebunden wissen und auf das Wohlsein des je anderen bedacht sein, das sind die Säulen einer Liebesbeziehung. Nur Liebe und Vertrauen macht Bindung möglich. Beziehung zu Gott und Beziehung zu einem Menschen unterscheiden sich da durch nichts. Und im Blick auf die Tatsache, dass wir heute einer Liebeserklärung zwischen zwei Männern beiwohnen dürfen, muss dies gesagt sein: Die in der Vergangenheit immer wiederholten und heute längst überholten Überzeugungen, die das durch Papst Franziskus mit Lehrkraft versehene Dokument zur gleichgeschlechtlichen Liebe festhalten, lassen die vielen warmherzigen Aussagen über die Liebe in diesem Schlussdokument verarmen und verkümmern und entlarven sich von selbst als neurotische Angstphantasien. Schauen wir also lieber weiter auf die tiefsinnigeren Texte der Liebe, die uns in der Heiligen Schrift geschenkt sind.
• Liebe bedarf immer der Vergewisserung und Glaube also auch.
Dreimal fragt Jesus den Petrus, um sich seiner Liebe zu vergewissern. Das klingt penetrant, aufdringlich. Wie immer wir diese Aufdringlichkeit Jesu bewerten, gewiss ist, dass zwischen den beiden Geliebten ein Kontakt da ist, der von einer lebendigen Unruhe wach gehalten ist. Liebe braucht Unruhe, Glaube ebenso. Wer hüten möchte, behüten möchte, der sollte wach sein und aufmerksam, sich selbst und den Anvertrauten gegenüber.
• Liebe lebt im Heute und hat Zukunft im Blick und Glaube also auch.
Die Liebesgeschichte Jesu mit Petrus hat schon in der Vergangenheit einige markante Ereignisse durchlebt und durchlitten. Nun hören wir heute von einer Begegnung nach der Auferstehung und also nach den angstbesetzten Lügen und Verleumdungen Petri. Die wiederholte Frage nach der Liebesgewissheit ist von daher sicher verständlich. Liebende aber rechnen nicht vor und karten nicht nach. Sie suchen nach dem Fundament der Liebe und sie schauen nach vorne. Liebende klammern das Schwierige, das Tragische, all das, was kein Mensch erwarten kann oder erwarten mag nicht aus. Sie tragen es zusammen, sie tragen einander.
• Liebe ist realistisch und Glaube also auch.
Die ganze Begegnung zwischen Jesus und Petrus ist getragen von einer auffälligen Nüchternheit. Tragfähige Liebe kann nicht allein von Romantik leben, sie bedarf eines stabilen Realitätssinnes. Was am Ende des heutigen Evangeliums im ersten Hören etwas Bedrohliches in sich trägt, birgt doch bei aller Härte die österliche Hoffnung in sich: Es mögen Zeiten der Abhängigkeiten kommen, Zeiten, über deren Gestaltung ein Mensch seinen Einfluss verliert. Aber auch in Zeiten des Sich-weg-Gebens wird einer da sein, der dich gürtet, der dich hält. Dass das Papstdokument das Scheitern einer Liebesbeziehung in diesem Licht sieht, auch dann gegürtet, von Gott gehalten zu sein, ist sicher ein Novum in der Kirche und gebührt Respekt und Anerkennung. Selbst wenn eine Liebe ihr Ende findet, wenn das Licht erlischt und die Wärme verloren geht, so darf die Liebe nicht in Frage gestellt werden und sie darf auch neu gesucht werden. So ist es vielleicht auch mit unserem Glauben und unserer Sehnsucht nach Liebe. Selbst wenn uns Menschen die Liebe ganz weit abhanden gekommen sein sollten, sie lebt als Ahnung und Sehnsucht in uns drin. Und diese Ahnung und diese Sehnsucht wach zu halten in uns, dazu einander zu helfen, ist uns aufgetragen über alle Realität eines möglichen Scheiterns hinweg.
Christoph Simonsen
Sonntag 03. April
Evangelium:Joh 20,19-29
Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert. Thomas, genannt Didymus (Zwilling), einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder versammelt und Thomas war dabei. Die Türen waren verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
Wo sind unsere Visionen?
Ostern ist ein Fest, das verbindet: es verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander, es verbindet Trauer und Hoffnung, es verbindet Realistisches und Visionäres, und nicht zuletzt verbindet es Gott und Mensch auf ganz neue Weise.
Auf eine Bindefunktion möchte ich heute, am Ehrentag des Hl. Thomas eingehen, der zwar als „Ungläubiger“ in die Geschichte eingegangen ist, aber in meinen Augen alles andere als ungläubig gewesen ist. Er hilft uns, unser eigenes und persönliches Verhältnis von Realität und Vision anzuschauen und zu bedenken. Ist es nicht so, dass die Realität jede und jeden einzelnen uns so in die Pflicht nimmt, dass Visionen in der Tat zur Luxusware mutieren.
Visionen bedürfen eines inneren Antriebes, gespeist aus Sehnsucht und Phantasie; Visionen überschreiten Grenzen, sind uferlos, greifen ins Unermessliche. Visionen machen stark, beleben, sind lusterfüllt. Ist es da verwunderlich, dass viele der Überzeugung sind, junge Menschen seien ohne Visionen? Wer kann es sich heute erlauben, Überzeugungen und die Umsetzung von Wertvorstellungen Zeit einzuräumen, wenn gerade mal zwischen Studium, Praktika, Prüfungsstress, dem Blick auf die zukünftige Berufswelt und der Last, alles zu sortieren, Zeit ist, den Koffer oder den Rucksack neu zu packen? Und die, die heute auf die Straße gehen, um ihren Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, mit welcher Motivation auch immer, begegnen einem mit einer bedrohlichen Aggression, und am allerwenigsten mit einer überzeugten Vision.
Vision waren gestern, heute ist Besitzstandswahrung angesagt. Es geht um Existenzsicherung, es geht um Ich-Stand, um Selbstwertempfinden, aber nicht mit anderen, sondern gegen sie. Da-sein beinhaltet heutzutage noch lange nicht das gesellschaftliche Recht, da zu sein; Da-sein muss begründet und will errungen sein. In diesem Kontext Menschen Visionen abzuringen, kann einen einzelnen Menschen überfordern. Da ist es doch gleich besser, sich von jeglichen Visionen zu verabschieden. Sind wir also wirklich zurückgeworfen auf einen nüchternen Lebens- und Über-Lebens-Kampf?
Ich möchte mich mit euch dieser Frage stellen und hab uns heute eine dreiteilige künstlerische Arbeit von Heiner Koch mitgebracht. Zugleich möchte ich euch an die beiden im Evangelium angedeuteten Adjektive erinnern: Unverhofft und unerwartet. Bei der Suche nach neuen Visionen – so wünsche ich es mir mit euch – ist das heutige Evangelium wirklich eine heilsame Bereicherung.
Drei Tafeln verschiedener Größe hat der Künstler einander zugeordnet. Eine kleine schwarze rechteckige, einem geschlossenen Buch ähnlich, eine zweite Tafel, wertvoll vergoldet in einer Form, die die üblichen Maße übersteigt und eine dritte Tafel, größer als die beiden anderen und wieder wie die erste rechteckig gestaltet. Sie unterscheidet sich im Material und in der Farbgebung von den beiden anderen sichtbar. Verschlossen undurchlässig die erste Tafel, sich verströmend golden die zweite Tafel, klar konturiert die dritte Tafel, die hinter dem vordergründigen schwarzen Grundton verhalten einen goldenen Hintergrund freilegt.
Lassen wir jetzt einfach mal alle möglichen kunsthistorischen Überlegungen hinter uns und lassen den Assoziationen freien Lauf. Mir bieten sich beim ersten Anschauen dieses Triptychons eine nachvollziehbare Wahl verschiedener Lebensmuster an: dunkel verschlossen, golden überhöht und – noch ein wenig neblig beschrieben – dunkel realistisch mit einer golden verborgenen Kraftquelle.
Diese drei Lebensmuster zeigen sich auch im eben gehörten Evangelium: Die Jünger haben sich eingeschlossen, die Lebensweite, die sie in der Begegnung mit ihrem Freund Jesus erfahren haben, haben sie nach dem vermeintlichen Tod Jesu zugeklappt wie ein Lebensbuch, sie waren kraftlos, in ihren Gedanken verstrickt, isoliert und ausschließlich auf sich gestellt. Verlassen, mutlos, ratlos ob ihrer weiteren Zukunft. Der Kampf ums Überleben stand wieder im Vordergrund und einzig die Frage beschäftigte, wie sie ihr Leben wieder einigermaßen in den Griff bekommen könnten.
Die gleichen Jünger, gerade noch des Lebens überdrüssig, schwelgen in unermesslicher Freude, als sie den Herrn sahen. Das schwarze, zugeklappte Lebensbuch öffnet sich und wandelt sich sekundenschnell in eine weite Tafel, vor Lebensgold nur so strotzend. Das erscheint mir nahezu unheimlich. Wie können die gleichen Menschen von jetzt auf gleich von Trübsal in Überschwänglichkeit hinüberspringen? Das erscheint mir unheimlich, auch nicht gerade glaubwürdig und schon gar nicht stabil. Wer so wankelmütig von 0 auf 100 switchen kann, dem trau ich – ehrlich gesagt – wenig Standfestigkeit zu.
In diese Situation stößt Thomas, der Zauderer, dazu. Der Botschaft „Wir haben den Herrn gesehen“ begegnet er zögernd, will diese unglaubliche Botschaft eingebunden wissen in die Wirklichkeit seines Lebens; er will die Wunden sehen, er will, das vernarbte Leben sehen. Die Freiheit, die Weite des Glaubens ist für ihn unentbehrlich verwoben mit Verletzungen des Lebens.
In der Weise, wie Jesus dem Thomas begegnet, zeigt sich mir eine Anerkennung seines Zauderns. Jesus spricht ihn an, nimmt ihn ernst, erfüllt seine Wünsche. Er bestärkt ihn in seiner Lebens- und Glaubenssuche. Glaube will ins Leben hineingreifen, durch das Leben hindurch scheinen, manchmal mehr, manchmal weniger. Glaube will im Leben wachsen und darf nicht über dem Leben schweben.
Ähnlich ist es mit den Visionen. Visionen, die das alltägliche Leben aus Angst und Perspektivenlosigkeit heraus ersetzen sollen und eine neue heile Welt vorgaukeln, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt; sind sie aber verwoben dem Leben und bereit, dieses zu hinterfragen, dann haben sie auch die Kraft, das Leben zu bereichern. Unser christlicher Glaube ist solch eine realistische Vision. Er verbindet sich mit dem Leben und unverhofft und unerwartet ereignet sich Auferstehung – mitten im Leben und nirgendwo anders.
Christoph Simonsen
Ostersonntag, 27. März
Auf dem Weg: im Leben geschieht Unvorstellbares, da geschieht Unvorhersehbares und Unbeschreibbares. Auf dem Weg: im Leben, da ist man vor nichts sicher, selbst vor dem Leben nicht; da wo kein Leben war, da ist plötzlich wieder welches; da wo der Tod zuhause ist, in den Gräbern der Erde, auf den Schlachtfeldern der vielen hässlichen Kriege, da wo die Hoffnungslosigkeit am schmerzlichsten ist tief in der Seele eines Menschen, da bricht etwas auf, da keimt ein winziges Samenkorn. Das ist unvorstellbar, da wo der Tod am totesten ist, da bewegt sich etwas. Obwohl man noch gar nichts erkennt, spürt man es. Da ist eine unmissverständliche Ahnung von etwas Neuem, von neuem Leben, von Bewegung und Aufbruch.
Eine solche Ahnung aufkeimenden Lebens ist tausendmal anregender, aufregender, lebendiger, als alle Aufgeklärtheit und alles Wissen im Leben, das einem Sicherheit suggeriert, obwohl wir doch alle wissen, dass im Leben nichts sicher ist außer der Tod. Eine solche Ahnung unerwarteten Lebens, der sogar noch die entsprechenden Worte fehlen und die nicht von tausend Gedanken in alle Richtungen hin überprüft worden ist, eine solche Ahnung von Leben ist tausendmal wertvoller als ein Glaube, in dem alles erklärt und von Regeln durchsetzt ist. Osterleben, Osterglaube, bedarf einer gehörigen Portion Mut zum Wagnis, aber erst dieser Mut zum Wagemut schenkt dem Leben ein Staunen, ein Hoffen und ein unumstößliches „Ja“.
Die Frauen am Grab, sie hatten nichts in der Hand, keine Auferstehungsbescheinigung, keinen Passierschein für ein neues Leben, keinen Transitschein für das Ewigkeitsland der unbegrenzten Möglichkeiten, kein Zertifikat für eine göttlich garantiert Lebensversicherung. Aber sie hatten eine aufrüttelnde Ahnung, dass das leere Grab für ihr Leben einen Perspektivwechsel bedeutet, dass ihr Leben in Zukunft auf einem anderen Grund steht, auf einem Glaubensgrund, der unabhängig von Papieren und Dokumenten ist und aufbaut auf dem Vertrauen der Gegenwart Gottes. Eines Gottes, dem nicht zu schwer, nichts zu viel, nichts zu irrational ist, um alles Leben zu bewahren und zu hüten. Mit diesem Vertrauen gehen die Frauen dahin, wo die Menschen sich eingeschlossen haben, selbst die Freunde Jesu. Die Frauen fordern sie auf, die Türen zu öffnen und heraus zu gehen. Sie haben erkannt, und sie sind von diesem Augenblick davon überzeugt: Wer immer sich verschließt mit der Angst im Nacken wird nie erfahren, wie viel Lebenskraft möglich ist mit der Freiheit im Rücken.
Ostern schenkt diese Kraft und wir brauchen diese Kraft. Wir brauchen sie, um den vielen „nein“ unserer Tage ein lebendiges „ja“ gegenüber zu stellen. Wir brauchen diese Kraft, weil es heute Menschen braucht, die daran glauben, dass wir es gemeinsam schaffen; dass wir es schaffen, mit Gottvertrauen in eine ungewisse Zukunft zu gehen, gemeinsam mit allen, keinen zurücklassend, keinen ausgrenzend. Wir brauchen diese Kraft, damit wir dem Starren, dem Abgesicherten, dem Unbeweglichen etwas entgegenzusetzen vermögen. Wir brauchen diese Kraft, damit wir selbst nicht erstarren und erkalten. Wir brauchen diese Kraft, damit wir diesen unscheinbaren Osterkeim nicht verdorren lassen, den wir doch alle heute Morgen sehen. Wir brauchen diese Osterkraft. Und welch ein Wunder, heute wird sie uns geschenkt. Die Kraft ist da, Gott ist da und wir dürfen leben aus dieser Kraft der Gegenwart Gottes.
Christoph Simonsen
25. März Karfreitag 2016:
Den Tod im Blick das Leben ehren
Auf dem Weg: im Leben. Da habe ich selten den Tod im Blick; meinen Tod meine ich, nicht irgendeinen Tod. Der Tod der anderen, der ist mir vertraut, so traurig und tragisch das auch klingen mag. Der Tod begegnet mir jeden Tag, nahezu massenweise. Ich bin betroffen über die vielen Tode auf den Meeren dieser Welt, in den Kriegen dieser Welt, in den Krankenhäusern und Pflegeheimen überall, und hier denke ich an unsere liebe Frau Siemens, die Wonheimverwalterin der Hermannstraße, die vor wenigen Monaten ihrer Krankheit erlegen ist, auf den Straßen Europas wie zum Beispiel in Valencia, wo zu Beginn dieser Woche 64 junge Erasmus-Studierende starben, oder in den Straßen unserer Nachbarschaft, wo still Menschen sterben ohne großes Aufsehen. Überall ist das Sterben und der Tod gegenwärtig. Wir nehmen ihn wahr, wir nehmen Anteil. Und dennoch: Auf dem Weg im Leben – in mein Leben – da hat er selten Einfluss. Der Tod ist allgegenwärtig, doch wenn er mir zu nahe kommt, dann wechsel ich die Straßenseite. Auf dem Weg im Leben, da ist das Leben das Ziel, und nicht der Tod.
Heute, wie in der ganzen Woche, schauen wir auf einen, der dem Tod nicht mehr ausweichen konnte. Jesus wurde genötigt, seinen Tod anzuschauen. Und er schaute ihn an. Er wich nicht aus, wechselte nicht die Straßenseite, wechselte nicht die Überzeugung, wechselte nicht die Freunde, wechselte auch nicht seinen Glauben. Jesus ging offenen Blickes auf seinen Tod zu. Jesus lehrt mich, den eigenen Tod nicht auszublenden; er lehrt mich, dem Tod einen Sinn abzuringen; er lehrt mich, den Tod in einem doppelten Sinne zu fürchten: in seiner Absolutheit wie auch in seinem Geheimnisvollen. Jesus liebte das Leben und fürchtete den Tod, aber die Furcht war der Ehrfurcht gezollt ohne die Angst zu rauben. Jesus hatte auch Angst vor dem Tod. Ehrfurcht bewahrt nicht vor der Angst, aber sie lässt die Angst aushalten. Das unterscheidet Jesus von den Selbstmordattentätern unserer Tage. Sie ehren den Tod nicht, sie missachten sein Geheimnis und sie missbrauchen ihn, weil sie sich seiner habhaft machen wollen und verkennen, dass der Tod in Gottes Hand liegt und nicht in der Hand der Menschen. Weil der Tod in Gottes Hand liegt und weil Jesus diesem Gott vertraut, deshalb vermag er den Tod anzuschauen, seinen Tod.
Ja es bleibt wahr: Auf dem Weg im Leben ist das Leben das Ziel. Nicht der Tod ist das Ziel, sondern das Leben. Deshalb lehrt mich Jesus, den eigenen Tod nicht auszublenden, nicht weil der Tod das Ziel wäre, sondern weil die Grenze des Todes mir den unermesslichen Wert des Lebens vor Augen führt. Die verblendeten Selbstmordattentäter unserer Tage haben das Paradies vor Augen mit 144000 Jungfrauen und meinen, dort im Paradies könnten sie in Saus und Braus das leben, was ihnen auf der Erde nicht gegönnt sei. Jesus hat nichts anderes vor Augen als die Güte und die Liebe Gottes aus der heraus er alles Leben und so auch den Menschen geschaffen hat, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben. Jesus hat die innere Geisteskraft, den Tod anzuschauen, weil er dem Leben einen Dienst erweisen möchte. Wer den Tod nicht ausblendet aus dem Leben, der erst erkennt den Wert des Lebens.
Auf dem Weg: im Leben. An seinem Todestag, am Todestag Jesu, an diesem göttlichen Todestag, wollen wir das Leben ehren. Nicht das Kreuz verherrlichen wir, nicht die Grausamkeit des Todes, ja nicht einmal den Tod verherrlichen wir, sondern das Leben, das sich durch die Wirklichkeit des Todes in seiner größten Würde zeigt und von Gott begleitet ist.
Christoph Simonsen
Predigt am 24. März – Gründonnerstag
Gründonnerstag im Lesejahr C – 2016
Evangelium: Johannes 13,1-15
Es war vor dem Paschafest. Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung. Es fand ein Mahl statt, und der Teufel hatte Judas, dem Sohn des Simon Iskariot, schon ins Herz gegeben, ihn zu verraten und auszuliefern. Jesus, der wusste, dass ihm der Vater alles in die Hand gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte, stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war. Als er zu Simon Petrus kam, sagte dieser zu ihm: Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus antwortete ihm: Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen. Petrus entgegnete ihm: Niemals sollst du mir die Füße waschen! Jesus erwiderte ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir. Da sagte Simon Petrus zu ihm: Herr, dann nicht nur meine Füße, sondern auch die Hände und das Haupt. Jesus sagte zu ihm: Wer vom Bad kommt, ist ganz rein und braucht sich nur noch die Füße zu waschen. Auch ihr seid rein, aber nicht alle. Er wusste nämlich, wer ihn verraten würde; darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein. Als er ihnen die Füße gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte, sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.
Dienen und leben
Auf dem Weg: im Leben braucht es Gewissheit, Klarheit, zumindest in Augenblicken des Lebens, die man gemeinhin als Wegscheide bezeichnet. So oft wir auch suchend durchs Leben gehen, so braucht es dann doch Überzeugungen, die unmissverständlich sind, eindeutig und widerspruchslos. Jesus verdeutlicht in einem ganz einfachen Zeichen solch eine Überzeugung. Er identifiziert sich mit der Rolle des Sklaven, des Dieners und wäscht seinen Freunden die Füße. Er tut dies an der bedeutendsten Weggabelung seines Lebens, nämlich im Angesicht seines bevorstehenden Kreuzweges. Was geht in einem Menschen vor, der um seinen nahenden Tod weiß; der weiß, dass er zum Bauernopfer stilisiert wird, um eine Meute kreischender Menschen zu befriedigen; der in die Zwickmühle rivalisierender Machtmenschen zwischen Politik und Religion geraten ist? Vielleicht können wir uns diese hypothetische Frage am ehesten in unserer heutigen Zeit beantworten, wenn wir versuchen, uns in die Lage der Menschen zu versetzen, die an den mit Stacheldraht gesicherten Zäunen stehen und unter menschenunwürdigsten Voraussetzungen um ihre Zukunft bangen, Angst haben, auch zwischen den Mühlen der Politik und der Religion zermalmt zu werden, wenn nicht psychisch, dann sicher physisch. Wie selbstverständlich erwarten viele, dass sie geduldig ihr Schicksal ertragen, keinen Aufruhr verursachen, sich den Entscheidungen der Verantwortlichen unterwerfen und ausharren, bis über sie entschieden ist. Jeder Protest von ihnen wird argwöhnisch als Revolte tituliert und die Drohungen lassen nicht lange auf sich warten, dass menschenwürdige Entscheidungen noch schwerer zu erzielen wären, wenn die Geflohenen und Heimatsuchenden aufbegehren, ja sogar aggressiv werden. Wie selbstverständlich erwarten viele, dass sie – Jesus gleich – ihr Schicksal annehmen und ihren Kreuzweg gehen. Warum hat Jesus nicht protestiert? Warum hat er nicht am Stacheldraht der nur sich selbst schützen wollenden Machthaber gerüttelt? Warum ist er nicht ausgerastet, aggressiv geworden? Er hätte allen Grund dazu gehabt. Fehlte ihm der Lebensmut, der die Heimatsuchenden in Griechenland und sonst wo so lange lebendig hält? Fehlte ihm die Perspektive, die Ahnung von einem Land, in dem Freiheit nicht mit Füßen getreten wird und Menschenwürde im Grundgesetz verankert ist?
Was geht in einem Menschen vor, der weiß, dass der Tod nur eine Handbreit von seinem Leben entfernt ist? Jesus nimmt die Rolle des Sklaven ein, er unterwirft sich. Aber bedeutet das, dass er aufgibt, dass er seiner Zukunft keine Chance mehr gibt? Die Fliehenden können die Wirklichkeit der Versklavung nicht mehr ertragen. Sie lechzen nach Leben und sie kämpfen um ihre Würde. Beide, Jesus wie die vor Grausamkeit und Krieg Fliehenden haben den Tod im Nacken und reagieren scheinbar absolut konträr.
Was geht in uns vor in diesen Tagen, da wir würdevoll der Leidenstage Jesu gedenken? Ist Jesus uns Vorbild im Dien-Mut? Sind uns die Leidtragenden unserer Tage Vorbild im Lebens-Mut? Fehlte Jesus der Lebens-Mut und fehlt den Heimatsuchenden der Dien-Mut? Ist es womöglich so, dass das eine das andere ausschließt: Dien-Mut oder Lebens-Mut?
Es ist gut, noch einmal genauer auf Jesus und die heimatlos Suchenden zu schauen. Und auch auf uns selbst. Jesus dient seinen Freunden, aber er macht sich nicht klein um der Erniedrigung willen; er macht sich klein um der Würde der anderen Ausdruck zu verleihen. Die, die auf der Flucht sind, die rebellieren nicht, um sich selbst über andere zu erheben. Sie rebellieren um ihrer Familien und Freunde willen, die sich immer noch in ihrer zerstörten Heimat ihres Lebens nicht sicher sein können. Jesus: Indem er sich dienend herabbeugt, verhilft er den Freunden, wirklich zu leben. Die Suchenden: Indem sie aufschreien, dienen sie einem Leben in Würde. Wenn Dienst ein Protest ist für das Leben und der Protest ein Dienst an der menschlichen Würde ist, dann sind Dien-Mut und Lebens-Mut keine Gegensätze mehr.
An uns liegt es, die wir die Leidenstage Jesu feiern, dienen und leben zu verknüpfen.
Christoph Simonsen
Predigt am 20. März -Palmsonntag
Evangelium: Lukas 19,28-40
Nach dieser Rede zog Jesus weiter und ging nach Jerusalem hinauf. Als er in die Nähe von Betfage und Betanien kam, an den Berg, der Ölberg heißt, schickte er zwei seiner Jünger voraus und sagte: Geht in das Dorf, das vor uns liegt. Wenn ihr hineinkommt, werdet ihr dort einen jungen Esel angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat. Bindet ihn los und bringt ihn her! Und wenn euch jemand fragt: Warum bindet ihr ihn los?, dann antwortet: Der Herr braucht ihn. Die beiden machten sich auf den Weg und fanden alles so, wie er es ihnen gesagt hatte. Als sie den jungen Esel losbanden, sagten die Leute, denen er gehörte: Warum bindet ihr den Esel los? Sie antworteten: Der Herr braucht ihn. Dann führten sie ihn zu Jesus, legten ihre Kleider auf das Tier und halfen Jesus hinauf. Während er dahinritt, breiteten die Jünger ihre Kleider auf der Straße aus. Als er an die Stelle kam, wo der Weg vom Ölberg hinabführt, begannen alle Jünger freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Wundertaten, die sie erlebt hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel Friede und Herrlichkeit in der Höhe! Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, bring deine Jünger zum Schweigen! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.
Auf dem Weg: im Leben
„Auf dem Weg: im Leben“. Oder auch anders herum: „Im Leben: Auf dem Weg“. Wir gehen und entdecken das Leben. Wir leben und entdecken, dass das Leben ein Weg ist. „Auf dem Weg: im Leben“.
Unter dieser Überschrift möchte ich unsere Gottesdienste in dieser so ungewöhnlichen Woche stellen. In dieser heiligen Woche ereignet sich das, was unseren christlichen Glauben einzigartig macht: wir gedenken des sinnlosesten Todes, den ein Mensch sich vorstellen kann. Ein Tod, der aus Willkür, aus Lust, aus Berechnung einfach so herbeigeführt wurde, weil ein System die Macht hatte und diese auch nutzte, einem einzelnen Menschen das Genick zu brechen. Damals war das gewöhnlich und heute ist es das immer noch. Im Namen von Gesetzen, die Menschen auf den Weg gebracht haben, werden Menschen getötet, nicht nur in Kriegen und Diktaturen, auch in aufgeklärten Demokratien, wenn ich an die Möglichkeit der Todesstrafe in den USA und anderen Ländern denke. Wo immer der Mensch sich zum Herren über Leben und Tod erhebt, da zeigt sich nicht die Stärke einer Macht sondern ihre tiefste Schwäche. So war es damals zur Zeit Jesu, so ist es heute. Dass aus einem der sinnlosesten Tode aber ein den Tod überlebender Sinn erwachsen kann, das ist ein Gottesgeschenk. Aus diesem Gottesgeschenk dürfen wir heute leben. Und das dürfen wir heute feiern, auch wenn der Tod eine Grenze markiert, die Angst macht. So unverständlich es klingt, so wahr ist es auch: Wir feiern einen Tod, der Leben verheißt. Wir begleiten in dieser Heiligen Woche den Menschen, der den Tod nicht scheut, weil er den Menschen liebt.
Sein Tod, der Tod Jesu, der so überflüssig wie verachtungswürdig gewesen ist, er schenkt die Grundlage, allem Sinnlosen und Angst machenden in dieser Welt etwas entgegenzusetzen; er schenkt das tragfähigste Argument, alles Sinnlose zu entlarven, ohne darüber verzweifeln zu müssen, bitter und herzlos zu werden; er wird zur Kraftquelle, sinnvolles und sinnenhaftes Leben zu pflanzen, wo zuvor das Leben sinnentstellt daniederlag. Dieser eine Tod war ein Tod aus Liebe, ein Liebestod, ein göttlicher Liebestod, ein „ein-für-allemal-Tod; ein Tod, der zur ewigen Lebensquelle wurde. Und dieser eine Tod erhöht alle Tode dieser Welt, nicht zuletzt die, die der menschlichen Willkür entspringen.
In den Exerzitien des heiligen Ignatius gibt es eine Übung, die dazu einlädt, sich in die Situation der verschiedenen Menschen hinein zu versetzen, die im Text der Heiligen Schrift vorgestellt werden. Das möchte ich in aller Kürze mit Euch in dieser Woche einmal versuchen, exemplarisch die Menschen zu betrachten, die Jesus auf seinen letzten Wegen begleiten. Und mein Wunsch und meine Hoffnung ist, dass jede und jeder von uns vielleicht ihre und seine Gottesbeziehung neu entdecken kann.
Da ist also zum einen Jesus selbst im heutigen Evangelium, zum anderen die Menschenmenge am Straßenrand und dann sind da verborgen noch andere Menschen; Menschen, die nicht eigens erwähnt werden, um derentwillen zu schweigen aber sträflich wäre, wie Jesus sagt.
Um derentwillen aber Jesus in Jerusalem einzieht. Sie zu schützen, sie zu würdigen, zieht Jesus in Jerusalem ein.
Jesus zieht auf einem Esel ein in die Stadt seiner Glaubensväter und -Mütter. Deutlicher kann man wohl seinen gesellschaftlichen Status nicht zum Ausdruck bringen. Auf einem Lasttier reitet er, als er in das Zentrum der politischen und religiösen Macht einzieht. Jesus verweigert sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Ihm geht es nicht um Status und Anerkennung. Die Zeichen, die er setzt, sollen nicht auf ihn verweisen, sollen nicht ihn groß machen. Die Zeichen, die er setzt, verweisen auf die anderen, auf die, die keinen Status haben, auf die Rechtlosen, die Besitzlosen, die Machtlosen, die Heimatlosen. Welche Zeichen setzen wir in unserem Auftreten? Jesus geht es nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um Wahrheit und Gerechtigkeit? Wer nimmt einen solchen Menschen ernst, der sich strikt weigert, die Realität als einzige Wirklichkeit anzuerkennen und aus der Überzeugung lebt, dass Menschlichkeit auch eine Realität ist, selbst wenn sie sich nicht durch Gewinnskalen messen lässt. Wen nehmen wir ernst in unseren Begegnungen und nach welchen Kriterien bemessen wir die Ernsthaftigkeit der anderen?
Jesus zieht ein. Menschen jubeln ihm zu. Anderen ist das unangenehm: „Bring sie zum Schweigen“, raten sie Jesus. Das sind die, die später schreien: „Weg mit ihm, er ist ein Verräter“. Die Menschen, denen das Leben anvertraut ist; die Menschen, die die Gabe und die Fähigkeit haben, dem Leben Ausdruck und Gestalt zu geben, die Menschen sind so widersprüchlich. Den, den sie staunend bejubeln, weil er dem Leben so viel heilmachendes und starkmachendes abgerungen hat, weil er so viel Vertrauen und Zärtlichkeit in die Welt hineingelegt hat, den jagen und verurteilen sie kurze Zeit später, weil er ihnen nicht geheuer ist, weil sie nicht glauben können, dass man mit einem offenen Herzen und mit einem verständnisvollen Geist durchs Leben gehen kann ohne für geisteskrank und liebestoll gehalten zu werden. Weil die Menschen ihrer eigenen Sehnsucht nicht trauen und deshalb lieber in der Welt verharren wollen, in der die Stärke den Ton angibt, verraten sie den, der die Welt zum Schutzraum der Schwachen umgestalten wollte. In der Welt des Kämpfens, davon sind die Menschen überzeugt, da hätten sie eine Chance zu gewinnen, auch unter der Tragik, dass dann halt andere verlieren. Eine Welt ohne Kampf können sie sich nicht vorstellen. Deshalb kämpfen sie und ringen um die Vorherrschaft über andere, weil sie nicht verlieren wollen. Ein Mensch, der nicht kämpft, der hat verloren. Das glauben sie und danach leben und handeln sie. Wie meinen wir, das Leben zu gewinnen: Durch Einfluss oder durch Liebe?
„Auf dem Weg: im Leben“. Welche Wege, welches Leben ist uns wertvoll?
Christoph Simonsen
Predigt am 13. März
5. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr C – 2016
Lesung: Jesaja 43, 16-21
So spricht der Herr, der einen Weg durchs Meer bahnt, einen Pfad durch das gewaltige Wasser, der Wagen und Rosse ausziehen lässt, zusammen mit einem mächtigen Heer; doch sie liegen am Boden und stehen nicht mehr auf, sie sind erloschen und verglüht wie ein Docht. Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht? Ja, ich lege einen Weg an durch die Steppe und Straßen durch die Wüste. Die wilden Tiere werden mich preisen, die Schakale und Strauße, denn ich lasse in der Steppe Wasser fließen und Ströme in der Wüste, um mein Volk, mein erwähltes, zu tränken. Das Volk, das ich mir erschaffen habe, wird meinen Ruhm verkünden.
Schon kommt es hervor, das Neue – wenn nur das Alte nicht so eine Kraft hätte
Gleich wie alt wir sind, wir tragen immer die Bürde unserer Geschichte mit uns herum. Und die wiegt schwer, auch wenn wir sie nicht immer spüren. Dabei denke ich nicht einmal an die großen Schicksale, die einen Menschen ereilen können. Ich meine eher die kleinen Lasten, die unscheinbaren Geschehnisse, die vielleicht längst vergessen sind, die sich aber ins Unterbewusste eingebrannt haben, um dort ihr Unwesen zu treiben. Wenn sie dann manchmal vielleicht kurz aufflackern, dann packen wir sie rasch wieder in die geistige Kiste der Sonderbarkeiten zurück. Schließlich gibt doch keiner gerne zu, schon gar nicht vor sich selber, Sklave seiner eigenen Geschichte zu sein.
Ich kann mich zum Beispiel an zwei Ereignisse erinnern, die mich jetzt nicht aus der Bahn geworfen haben, die sich aber dennoch bis heute in meine Seele eingebrannt haben. Ab und zu spüre ich dann aber doch, wie das nachwirkt, was ich längst verarbeitet glaubte. Kurz nach meiner Erstkommunion, das war noch vor der Konzilsreform des Gottesdienstes, da wurde ich Messdiener in unserer Heimatgemeinde. Im Verlauf des tridentinischen Gottesdienstes musste der Ministrant das große Messbuch samt Buchständer mehrmals während des Gottesdienstes von einer Seite des Altares auf die andere tragen. Dabei bin ich einmal über meinen viel zu langen Talar gestolpert und mit dem Messbuch die Altarstufen heruntergefallen. Das Ergebnis war eine fette Ohrfeige des Kaplans und ein nachhaltiges Gefühl, dass man in der Kirche auch nur dann gut gelitten ist, wenn man perfekt ist, fehlerfrei.
Das andere Ereignis spielte sich in der Schule ab. Wir hatten einen ziemlich fordernden Mathe- und Physiklehrer. Meine Schulkameraden hatten sich einmal abgesprochen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen und sich deshalb verabredet, zu einer Klassenarbeit geschlossen nicht zu erscheinen. Leider hatten sie mich darüber nicht informiert, so dass ich Depp dann alleine in der Schulklasse saß. Ich hab mich da sehr verletzt gefühlt, weil ich den Verdacht in mir hegte, bewusst nicht informiert worden zu sein. Und aus diesem Verdacht erwuchs das Empfinden, ausgeschlossen zu sein, nicht dazu zu gehören. Und dieses Gefühlt hat mir weh getan, hat mich gekränkt.
Diese Beispiele liegen so lange zurück, wer sollte glauben, dass sie heute noch Einfluss haben auf mein Denken und Reden. Und doch ist es so: Was Jahrzehnte zurück liegt, manifestiert sich in vielem, was heute geschieht. Aus eigentlich völlig nebensächlichen Erfahrungen haben sich grundlegende Überzeugungen herausgebildet: Kirche ist, anders als ich im Kommunionunterricht gelernt habe, eben nicht eine Gemeinschaft der Heiligen sondern auch nur eine Gemeinschaft von Menschen, die nur zu oft Recht und Ordnung vor Menschlichkeit und Nachsicht stellt. Und eine zweite prägende Lebenserfahrung: Ausgeschlossen sein tut weh.
Wie oft sind wir Menschen Gefangene unserer schlechten Erfahrungen? Wir können sie nicht einfach abschütteln und so tun, als hätte es sie nie gegeben. Oft wissen wir gar nicht, warum wir so denken oder so handeln, wie wir es eben tun. Warum wir so skeptisch sind, warum unser Selbstbewusstsein so angeknackst ist, warum wir so unfrei sind im Gegenüber zu anderen, warum wir Schutzmauern um uns aufbauen, warum wir zunächst einmal Schlechtes vom anderen denken, bevor wir uns eines Besseren belehren lassen. Unsere Verdrängungsmechanismen sind da nahezu perfekt ausgebildet. Und trotzdem: Unsere Verhaltensmuster sind nicht immer der Willkür unterworfen, zumeist finden sie ihre Ursachen in vergangenen Erfahrungen. Die menschliche Psyche verdrängt nur allzu oft negative Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte, so dass sie unverarbeitet die Seele belasten und negative, lebensverneinende Verhaltensmuster gebären.
Jesaja war sicher kein ausgebildeter Psychoanalytiker; dennoch hat er wohl verstanden, dass die Gabe, sich unbeschwert auf Neues einlassen zu können mit einer anderen Gabe beginnt, sich nämlich seiner eigenen Geschichte, seiner eigenen Vergangenheit zu erinnern. Bevor er das Wort Gottes verkündet und den Menschen zuruft:“ Denkt nicht mehr an das, was früher war“, erinnert er sie an Tage der Versklavung in Ägypten und an den Beistand Gottes, der sie aus dem Land der Sklaverei herausführte. Und an noch etwas erinnert er sein Volk. Und diese Botschaft erscheint mir auch für uns sehr bedeutsam zu sein, weil wir sie nämlich oft vergessen. Schuld, so wurde uns vor 14 Tagen im Evangelium nahe gelegt, muss als Schuld offengelegt werden. Schuld, schuldhaftes Verhalten – und das ist wohl die zweite Erkenntnis Jesajas – Schuld, schuldhaftes Verhalten fällt nicht vom Himmel und entspringt nicht einzig der Bosheit; eine weitere Ursache unseres schuldhaften Verhaltens zeigt sich auch in erfahrenen Verletzungen, die einen hart und ungerecht haben werden lassen.
Und nun sagt Jesaja, dass dies nicht so sein und so bleiben muss. „Seht her, nun mache ich etwas Neues“. Und weiter heißt es: „Die wilden Tiere werden mich preisen, die Schakale und Strauße, denn ich lasse in der Steppe Wasser fließen und Ströme in der Wüste, um mein Volk, mein Erwähltes zu tränken“. Aus vergangenen, vergessenen oder verdrängten Verletzungen und Demütigungen, aus dem, was mir Angst macht, kann auch etwas Neues gedeihen. Indem ich zurückschaue und wahrnehme, was mich verletzt hat und offen lege, was mich gedemütigt hat, erkenne ich auch, dass ich lebe, dass mein Weg nicht zu Ende war, dass Verletzungen geheilt sind, auch wenn Narben blieben. Aus Unheilem kann Heiles gedeihen, nicht aus sich selbst heraus, sondern aus Glauben heraus. Meine Überzeugung, die Kirche sei weniger eine Gemeinschaft der Heiligen, sondern eben doch nur von Menschen, muss nicht in Bitterkeit führen. Denn wenn ich sie mir offen und ehrlich anschaue, dann kann diese Erkenntnis auch entlastend sein und Zuversicht schenken. Kirche: eine Gemeinschaft von Menschen mit Schwächen und Ungerechtigkeiten, aber eben doch eine Gemeinschaft, die voneinander lernen und sich ermutigen kann. Und Einsamkeit: sie muss nicht schnurstracks in die Isolation führen, sie kann mir auch helfen, mich selbst besser kennenzulernen und wert zu schätzen.
Aus dem Glauben heraus vermag aus Bedrängendem und Schwerem Wahrhaftiges und Ermutigendes wachsen. Ich darf erfahren, dass es einen Gott gibt, dem ich so viel wert bin, dass er mich an Wasser des Lebens führen möchte. Wir sind es Gott wert, dass nicht die Vergangenheit zum Maßstab des Lebens wird, sondern die Zukunft und in der Gegenwart die Zukunft schon hervor scheint. Schon kommt es hervor, das Neue, merkt ihr es nicht?
Christoph Simonsen
Predigt am 06. März
4. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr C – 2016
Lesung: 2. Korintherbrief 5,17-21
Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen! Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.
Ein „Ja“ zu Gott macht alles neu
Wenn ich „in Christus bin“, dann bin ich eine „neue Schöpfung“. Ist das nicht ein schöner Gedanke, den Paulus seinen Freundinnen und Freunde in Korinth anvertraut hat. In einem anderen sein, näher kann man einander nicht kommen, vertrauter kann man einander nicht werden. Und durch den anderen neu werden, was könnte mehr Lebenskräfte wecken als solch eine Zusage?
Dieses fast schon erotische anklingende Bild der Vereinigung von Gott und Mensch offenbart etwas Revolutionäres. Gott und Mensch sind sich nahe, wie man sich näher nicht sein kann, Gott und Mensch begegnen einander nicht in einem Herrschaftsverhältnis, sondern ganz anders in einer Liebesbeziehung. Gott buhlt geradezu um uns, er ist verliebt in uns Menschen, so verliebt, dass er über alles hinwegsieht, was die Liebe in Frage stellen könnte. Es scheint, Gott ist blind vor Liebe. Aber nein, er ist nicht blind, er sieht das Desaströse, das Kaputte, das Trügerische – und er liebt um so mehr. Gott ist nicht blöde, und er lässt sich auch nicht für dumm verkaufen, aber er lässt sich auch nicht beirren, er vertraut der Kraft der Liebe. Und er hofft und er vertraut. Er hofft darauf, dass seine Liebe erwidert wird, dass sie nicht ins Leere läuft; und er vertraut, dass die Geliebten so grenzenlos und hemmungslos lieben, wie er es tut. Diese Hoffnung gibt Gott nicht auf; eher gibt er sich selbst auf, als dass er seine Geliebten fallen ließe. Und ja: Gott gibt sich auf, er verzichtet auf die Hoheit seiner Göttlichkeit und stellt sich auf die Stufe seiner Geliebten: Gott wird Mensch.
Dass wir heute, zur Mitte der Fastenzeit gerade an die Menschwerdung Gottes erinnert werden, scheint mir kein Zufall zu sein. Es scheint etwas zu geben, das unverzichtbar ist, an dem wir nicht sparen dürfen. Fasten, Entbehren ist nicht Selbstzweck, sondern einzig Mittel zum Zweck. Alles Fasten und Entbehren dient einzig dem Zweck, Raum zu schaffen für das, was wichtig ist, lebenswichtig ist. Und auch wenn es jetzt naiv klingt und kindlich: Die Liebe ist wichtig. Und Gott zeigt uns, was Liebe ist. „Liebe ist nicht nur ein Wort, Liebe das sind Worte und Taten. Liebe ist, sich im anderen zu verlieren und gerade so sich selbst zu finden. Liebe ist, auf Privilegien verzichten und gerade so den anderen zu erhöhen. Liebe ist, um den geraden Weg zu wissen und doch bereit zu sein, den krummen Weg mit dem anderen zu gehen.
So könnte die Schöpfung neu werden. Wie sich Gott mit den Menschen vereint, so könnten wir Menschen uns mit Gott vereinen. Wir müssten uns nicht einmal strecken, wir müssten keine Klimmzüge machen, keine körperlichen oder seelischen Verrenkungen vornehmen; es reicht, wenn wir ja sagen zum Liebesangebot Gottes. Ein Ja zu Gott macht alles neu, sogar uns selbst.
Christoph Simonsen
Predigt am 28. Februar
3. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr C – 2016
Evangelium: Lukas 13,1-9
Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, sodass sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, dass nur diese Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt. Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turms von Schiloach erschlagen wurden – meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt. Und er erzählte ihnen dieses Gleichnis: Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum; und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine. Da sagte er zu seinem Weingärtner: Jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um! Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen? Der Weingärtner erwiderte: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen.
Wer ist schuld?
Unser Miteinander, unser Blick auf die Welt ist ständig geprägt von Schuldzuweisungen. Und ich selbst kann mich am wenigsten davon ausschließen. Wer ist schuld, dass ein Mob von Menschen in der vergangenen Woche einen Bus mit Flüchtlingen in unwürdigster Weise empfangen hat? Der Bruder des Heimleiters, der als AFD Mitglied die Info weitergegeben zu haben scheint, zu welcher Zeit der Bus mit den Flüchtlingen das Heim erreicht? Die Polizei, die in ungebührender Weise und völlig unvorbereitet in dieses menschenverachtende Geschehen eingegriffen hat? Die Politik, die sich nur noch mit Phrasen über Wasser halten kann, dass sie alle beschämt sind? Dieser Pöbel von Menschen, die sich ihre eigene kleine Welt erhalten wollen, in der andere keinen Platz haben? Oder gar die Flüchtlinge im Bus selbst, die nach Aussagen der Polizei provozierende Gesten den draußen stehenden Menschen entgegengebracht haben? Oder sind wir mitschuldig, ihr und ich, die wir hier sitzen, weil wir bravourös das ganze kommentieren und dann sang- und klanglos wieder zur Tagesordnung übergehen? Keiner von uns bezweifelt, dass das, was da geschehen ist, ein schuldhaftes Handeln ist. Dass Menschen in unwürdigster Weise auf Menschen herabgeschaut haben, so als ob es sich um Frachtgut handeln würde und eben nicht um schutzbedürftige Kinder Gottes, ist ein Gräuel. Ja, ich bin überzeugt, dass Menschen hier Schuld auf sich geladen haben. Deshalb habe ich im Internet eine Petition unterzeichnet. Sie fordert dazu auf, dass die zuständigen Behörden den verantwortlichen Polizeichef einer Überprüfung unterziehen sollen angesichts der Tatsache, dass er erwogen hat, den Flüchtlingen ein Straferfahren anzuhängen, weil diese die Bevölkerung aus dem Bus provoziert haben sollen. Diese Behauptung fand ich so abstrus, dass ich in meiner Empörung diese Petition unterzeichnet habe.
Das Fass war da für mich vollgelaufen. Kurz danach kamen aber Zweifel bei mir auf, die ich mir zuerst nicht erklären konnte. Ich war und ich bin überzeugt, dass ich diesen Schandtaten nicht neutral gegenüber stehen bleiben kann und was liegt näher, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Und trotz dieser Überzeugung war mir nicht wohl. Ich grübelte und mir wurde eine Handlungsweise bewusst, die menschlich und zugleich doch auch mehr als fragwürdig ist: Die Unmenschlichkeit des einen verleitet wie von selbst einen anderen, sich als menschlich und gerecht hinzustellen. Die Schwäche und die Dummheit des einen macht es dem anderen, mir also, sehr einfach, sich als stark und Weise anbieten zu können. Aber bin ich deshalb menschlicher als ein mit Schuld beladener, weil mir die Schuld des anderen bewusst wird? Ich erinnerte mich des Spruches aus dem Evangelium: „Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen“. Die Gefahr, dass ich diesem Hochmut erliege, wurde mir in diesem Gedankengang mehr als bewusst. Er schmerzt, denn ich weiß, dass ich nicht besser bin, wenn auch meine Schwächen anderer Art sind. Die Welt ist nicht eingeteilt in Gute und Böse, in Richter und Angeklagte. So leicht es ist, mit dem Finger auf einen anderen zu zeigen – und mag es noch so begründet sein, so gefährlich ist es auch, weil man sich selbst dann nämlich über den anderen erhebt. Und was noch subtiler ist: Wenn es einzig darum geht, den Schuldigen anzuklagen und einer Strafe zuzuführen, ist der Gedemütigte immer noch gedemütigt, weil ihm immer noch fehlt, was er zum Leben braucht.
Mit dem Gleichnis, das uns heute im Tagesevangelium ans Herz gelegt wird, werden wir auf eines in besonderer Weise aufmerksam gemacht: Schuld, das heißt: Worte und Taten, die Menschen Schade zufügen, die die Schöpfung oder sogar Gott beleidigen, darf nicht verschwiegen werden; Schuld muss als Schuld entlarvt werden. Aber es darf uns Menschen nicht darum gehen, die Eine oder den Anderen zu richten. Uns Menschen steht nicht zu, einen Menschen zu verurteilen, schon gar nicht zu verdammen. Was uns Menschen aber aufgetragen ist, Sorge zu tragen füreinander, in Geduld zu begleiten, zu hoffen und zu vertrauen, dass das, was kahl ist und vertrocknet, was fruchtlos ist und ungepflegt, wieder grünt und gedeiht, Blüte zeigt und zu einer neuen Schönheit findet. In diesen Bildern spricht Jesus zu den Menschen und zu uns, wenn er auf den Feigenbaum verweist. Erneuerung und Umkehr zu mehr Menschlichkeit bedarf der Geduld und eines wohlmeinenden Langmuts. „Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen“.
Diese Botschaft Jesu erscheint mir in unseren Tagen fast wie eine Zumutung. Ich könnte ständig aus der Haut fahren. Das rechtspopulistische Gedankengut, das mir von allen Seiten entgegenschlägt, macht mich sprachlos und wütend zugleich. Dass sich unser Land in einer Art und Weise spaltet, so dass die Bedürftigsten und Hilflosesten zum Freiwild werden, raubt mir schlicht den Verstand. Und mir würden eine Reihe von Personen einfallen, die ich lieber heute als morgen in ihre Schranken gewiesen wissen möchte. Mir fehlt Verständnis, Geduld und vor allem fehlt mir der Glaube, dass eine Frau P. oder eine Frau „von Gans“ (Sie heißt irgendwie anders, aber auf jeden Fall so ähnlich) oder ein Herr Flusskind (auch sein Name ist leicht verändert) in irgendeiner Weise belehrbar wären. Und ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen dieser Gesinnung aufgehalten werden müssen, ihre Propagandahetze weiter über das Land zu streuen. Aber wird dies wirklich gelingen, wenn ich sie anklage, vor Gericht bringe und sie vielleicht sogar verurteilt werden? Ändert das etwas an der schmierigen selbstverliebten Gesinnung derer, die anderen kein Leben in Freiheit und Würde gönnen? Und steht mir solch eine Anklage zu, der ich selbst immer wieder hinter dem zurückbleibe, was mir möglich wäre, das Leben der anderen zu stärken?
Ja, die Botschaft Jesu ist eine Zumutung. „Ihr werdet alle genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt“, ruft Jesus denen zu, die genüsslich die Vergehen der anderen aufzählen und ihre eigenen Hände in Unschuld waschen. Die Milde Gottes misst sich an dem, wie ehrlich ich zu mir selbst und wie hilfreich ich zu anderen bin. Die in meinen Augen Unbelehrbaren belehre und bekehre ich nicht durch Anklage sondern durch Vorleben, durch anders leben, durch heilmachendes Leben.
Das ist mal eine Aufgabe – für mich, vielleicht ja auch für euch.
Christoph Simonsen
Predigt am 21. Februar -2. Fastensonntag im Lesejahr C – 2016
Evangelium: Lukas 9, 28b-36
In jener Zeit nahm Jesus Petrus, Johannes und Jakobus beiseite und stieg mit ihnen auf einen Berg, um zu beten. Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes und sein Gewand wurde leuchtend weiß. Und plötzlich redeten zwei Männer mit ihm. Es waren Mose und Elija; sie erschienen in strahlendem Licht und sprachen von seinem Ende, das sich in Jerusalem erfüllen sollte. Petrus und seine Begleiter aber waren eingeschlafen, wurden jedoch wach und sahen Jesus in strahlendem Licht und die zwei Männer, die bei ihm standen. Als die beiden sich von ihm trennen wollten, sagte Petrus zu Jesus: Meister, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. Er wusste aber nicht, was er sagte. Während er noch redete, kam eine Wolke und warf ihren Schatten auf sie. Sie gerieten in die Wolke hinein und bekamen Angst. Da rief eine Stimme aus der Wolke: Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören. Als aber die Stimme erklang, war Jesus wieder allein. Die Jünger schwiegen jedoch über das, was sie gesehen hatten, und erzählten in jenen Tagen niemand davon.
Wenn alles ans Licht kommen darf und keine Angst mehr das Leben vernebelt
Das Bild Salvador Dali’s „Die Verklärung Jesu“ gehört wohl zu den seltsamsten, die je überhaupt von Jesus gemalt wurden. 1964 hat er es gemalt. Von der Gestalt Jesu ist nichts zu erkennen. Die ganze Person scheint sich aufgelöst zu haben in eine explosionsartige Farbkomposition. Im Vordergrund erkennt man die drei Apostel, die entsetzt zurückweichen. Was sie erleben, scheint so seltsam, dass es ihnen die Sprache verschlägt. Aber wen wundert das. Da ist so viel Licht, so viel Strahlkraft, so viel Glanz – und sie können all dem nicht ausweichen. Selbst wenn sie die Augen verschließen würden, wenn sie sich die Hände vor das Gesicht hielten, sich abwenden würden, diesem Licht könnten sie sich nicht entziehen. Aber da ist auch noch mehr: Da ist so viel Klarheit, so viel Gewissheit, so viel Eindeutigkeit. Wen von uns würde das nicht verunsichern und in Schrecken versetzen? Ist es nicht so, dass wir viel lieber im Unentschiedenen bleiben, um uns möglichst viele Optionen offen halten zu können?
Im Nebulösen stocherten auch die Jünger Jesu zunächst herum. Licht und Klarheit erwuchsen Ihnen aus einer Nebelwolke, in die hinein die kleine Gruppe hineinlaufen musste auf ihrem Weg, den Berg hinauf. Was zunächst nebulös, undurchsichtig erschien, dem erwuchs nach einer Weile eine Unmissverständlichkeit und Wahrheit, wie sie sich keiner vorstellen konnte. Solch eine ähnliche Erfahrung durfte ich letztens auch machen. Ihr kennt dieses Gefühl sicher auch aus eigenen Erfahrungen, wenn ihr im Flugzeug sitzt und der Flieger kurz nach dem Start die Wolkendecke durchstößt und dann das gleißende Licht der Sonne und das unvorstellbar schöne Blau des Himmels zum greifen nahe ist. So schön kann die Welt sein, so hell, so licht, so blau. Wer würde diesen Augenblick nicht festhalten wollen? Zugleich aber ist man erschrocken von diesem abrupten Wechsel, aus dem trüben so rasch ins Licht zu kommen. Die Sonne, der Himmel, die überwältigen einen mit ihrer Kraft und Schönheit. Man fragt sich, warum das nicht immer so sein könnte. Das wäre doch wunderbar. Die Jünger damals wollten wohl im ersten Augenblick auch auf dem Berg bleiben. Sie wollten sogar drei Hütten bauen auf dem Berg. Doch sind sie sehr rasch zur Einsicht gekommen, dass dies unsinnig ist. Solche Augenblicke, in denen alles licht und klar ist, die kann man nicht festhalten. Und selbst, wenn man es könnte, es stellt sich schnell die Frage, ob man das wirklich will, denn zu viel Licht blendet auch und zu viel Himmelblick täuscht. Im Licht kommt unweigerlich alles ans Licht und im Himmelblick tritt alles Irdische in seiner Unvollkommenheit unmittelbar vor Augen. Da kann man schon erschrecken. Die Jünger haben schnell eingesehen, dass die Idee, drei Hütten zu bauen, fatal sein könnte für ihr bisheriges Leben. Fatal deshalb, weil es dort oben auf dem Berg vor Gott und vor den Freunden keine Geheimnisse mehr geben kann. Und brauchen wir nicht alle unsere lieben Geheimnisse, die vertuschen, dass unser aller Leben dunkel und trist und schuldbeladen ist? Dann doch lieber weiter im Nebel wandern. So müssen wir uns voreinander nicht gänzlich bloßstellen.
Zugleich ist bei all dieser Angst, unser Leben könnte ungeschönt zutage treten aber auch ein Wunsch da, offen eben, eindeutig und ehrlich zu sein, sich selbst gegenüber, Gott und den Menschen gegenüber.
Das Evangelium schenkt uns heute eine sehr schöne Lebenshilfe, dieser inneren Zerrissenheit entkommen zu können. Es weist uns zwei lebenswichtige Wahrheiten auf, und eine heilsame Gewissheit, ohne die Leben nicht wirklich leben ist. Leben ist Bewegung und Leben ist Begegnung. Was so selbstverständlich klingt, das ist der Schlüssel dazu, den Schrecken verlieren zu können vor einem alles offenbarenden Licht und einem Himmel, der nur heil und unversehrt ist und vor dem keine und keiner von uns bestehen könnte angesichts unserer Unvollkommenheit. Leben ist Bewegung und Leben ist Begegnung.
Auf dem Weg sein und sich begegnen sind nicht stressfrei, das deutet uns die Bergwanderung Jesu mit seinen Freunden an; aber genau dann, wenn Bewegung und Begegnung einem viel abverlangen, genau dann öffnet sich die Tür, die Durchsicht und Klarheit schenkt. Alle, die schon einmal eine anstrengende Bergtour gewandert sind oder vielleicht auf einen Pilgerweg, kennen das: Sich am Ziel müde zu fühlen, ausgelaugt, aber mit sich im Einklang. Dankbar und auch stolz. Das ist doch merkwürdig, je mühevoller der Weg war und je ungewisser all das ist, was sich auf diesem Weg ereignet, um so zufriedener ist man mit sich selbst, wenn dann das Ziel erreicht ist. Man fühlt sich zufrieden, nicht nur, weil es endlich geschafft ist, weil es vorbei ist, nein. Man fühlt sich zufrieden, weil etwas geschehen ist, in einem selbst und um einen herum. Man fühlt sich ganz nah bei sich selbst, ganz verwurzelt auf der Erde und zugleich ganz gehalten vom Himmel, der sich über einem auftut.
Diese Erfahrung hat Jesus wohl so ähnlich machen dürfen. „Das ist mein auserwählter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören.“ So wie Jesus die Stimme seines Vaters hört, der ihn bestätigt und beauftragt, so darf uns in diesen Augenblicken des Einklangs bewusst sein, geliebt zu sein. Und wer sich geliebt weiß, der hat etwas zu verkünden, der hat etwas zu sagen. Und alle spüren, dass es sich lohnt, auf diesen zu hören. Das genau ist die Auflösung des Geheimnisses: Wer sich dem Leben stellt, der Zeit, den Menschen, der Situation; wer sich all dem stellt, der wird erkennen dürfen, dass er ganz viel an Leben und Liebe in sich aufnehmen kann und auch ganz viel weiter zu geben hat. Wer sich stellt – dem Leben stellt, der kann auch geben.
Christoph Simonsen
Predigt am 14. Februar
Evangelium: Lukas4,1-13
Erfüllt vom Heiligen Geist, verließ Jesus die Jordangegend. Darauf führte ihn der Geist vierzig Tage lang in der Wüste umher, und dabei wurde Jesus vom Teufel in Versuchung geführt. Die ganze Zeit über aß er nichts; als aber die vierzig Tage vorüber waren, hatte er Hunger. Da sagte der Teufel zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl diesem Stein, zu Brot zu werden. Jesus antwortete ihm: In der Schrift heißt es: Der Mensch lebt nicht nur von Brot. Da führte ihn der Teufel (auf einen Berg) hinauf und zeigte ihm in einem einzigen Augenblick alle Reiche der Erde. Und er sagte zu ihm: All die Macht und Herrlichkeit dieser Reiche will ich dir geben; denn sie sind mir überlassen und ich gebe sie, wem ich will. Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest, wird dir alles gehören. Jesus antwortete ihm: In der Schrift steht: Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen. Darauf führte ihn der Teufel nach Jerusalem, stellte ihn oben auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich von hier hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich zu behüten; und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Da antwortete ihm Jesus: Die Schrift sagt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen. Nach diesen Versuchungen ließ der Teufel für eine gewisse Zeit von ihm ab.
Von der göttlichen Logik
Was wäre eigentlich geworden, wenn Jesus auf die Vorschläge des Teufels eingegangen wäre? Ich finde nämlich, dass die gar nicht so dumm sind. Stellen wir uns doch einmal vor, Steine würden wirklich in Brot verwandelt: Der Hunger auf der Welt hätte ein Ende, die Menschen im Sudan könnten sich satt essen, die verschiedensten Formen unwürdiger Sozialhilfen hätten ein Ende und die Menschen könnten in Würde leben. Was wäre, wenn wir in einem Blick die ganze Welt anschauen könnten? Wir könnten viel eher Zusammenhänge erkennen und begreifen, dass wirklich alles mit allem verwoben ist und mir wäre es dann tausendmal lieber, Jesus würde auf dem Herrscherthron sitzen und würde all die Putin’s, Erdogan’s oder Assad’s in die Schranken weisen. Und schlussendlich: Wäre es nicht ganz im Sinne Jesu gewesen, hätte er dem Teufel sein tiefes Vertrauen in Gott beweisen können? Der Teufel scheint gar nicht so satanisch zu sein, wie er immer dargestellt wird.
Wer logisch denkt und argumentiert, der kann diese Fragen an den heutigen Text des Evangeliums stellen. Oder noch deutlicher: der muss diese Fragen stellen. Denn wenn das Ziel ist, den Hunger zu stillen, die Diktatoren zu entmachten und das Gottvertrauen über alles zu stellen, dann ist es doch schlicht logisch, alles Machbare zu verwirklichen zum Wohl dieses Zieles. Die Annahme des Teufels, Jesus als der Sohn Gottes hätte die Macht zu all dem, diese Ziele zu verwirklichen, muss logischerweise die Pflicht Jesu nach sich ziehen, dies auch zu tun.
Warum verweigert sich Jesus? Warum löst er nicht ein für allemal die Hungersnot, warum verbannt er nicht die Diktatoren von ihren Thronen, warum beweist er nicht sein grenzenloses Gottvertrauen? Weil Jesus sehr schnell erkennt, dass den Teufel die Hungernden einen Dreck interessieren, dass ihm im Letzten Wurscht ist, wer auf welchem Thron sitzt und sein Gegenüber mit Gottvertrauen nichts am Hut hat. Es geht ihm nur um sich selbst. Die Logik des Teufels ist berechnend. Der Logik des Teufels fehlt die Logik des Herzens. Teuflisch ist eine Logik dann, wenn sie nur Mittel zum Zweck ist, die eigene Größe, die eigene Unersetzbarkeit zu dokumentieren. Göttlich dagegen ist die Logik, der es wirklich um den Menschen geht. Die beiden Begriffe, die uns die Lesung vorgestellt hat, meinen wohl genau dies: Dem einen geht es um eine Gesetzesgerechtigkeit, dem anderen um eine Glaubensgerechtigkeit.
Der Teufel steckt im Detail, heißt es treffend in einem Sprichwort. Und darin offenbart sich eine Wahrheit, die euch und uns an den Hochschulen in Aachen zu denken geben sollte. Als Studierende steckt ihr in einem System, dem ihr nicht entrinnen könnt. Gerade jetzt in der Prüfungs- und Klausurenphase wird das offensichtlich. Zu keiner anderen Zeit hat es so ausdifferenzierte Studienfächer gegeben wie heute und zu keiner Zeit war die Verwobenheit zwischen Lehre, Forschung und Wirtschaft so eng wie heute. Das Wissen wird immer spezieller und wer Entscheidungsträger darüber ist, wem welches Wissen zu nutzen sein soll und darf, wird immer mehr von Lobbyisten und Interessensgruppen entschieden. Als Studierende seid ihr mehr oder weniger Spielball dieses Systems. Haben sich die Hochschulen vielleicht zu einer Wüstenlandschaft entwickelt, wie sie uns im heutigen Evangelium vorgestellt wurde? Und lockt uns dort der Teufel vielleicht mit der Versuchung, uns würden Tür und Tor geöffnet, wenn wir uns nur den Interessensverbänden und der Industrie unterwerfen würden? Der Teufel steckt im Detail. Teuflisches separiert, göttliches verbindet.
Vielleicht übertreibe ich ein wenig mit dieser Theorie, aber in Gesprächen mit Studierenden verdichtet sich bei mir sehr häufig dieser Gedanke. In solch einem System ist es schwer, die eigenen Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Und noch schwerer ist es, den Menschen, seine Würde, seine Ebenbildlichkeit Gottes zum Maßstab des Lernens und Forschens zu erheben.
Ich kann nur angemessen von Gott sprechen, wenn ich vom Menschen spreche. Und ich kann nur angemessen vom Menschen sprechen, wenn ich in ihm das Göttliche zu suchen bereit bin. Ich wünsche uns, dass wir dies wieder neu lernen, auch im Kontext unserer Hochschulen, mehr von Gott und von den Menschen zu sprechen. Von dem, was Gottes ist, und von dem, was den Mensch Mensch sein lässt. Wie das gehen kann, das sagt uns Paulus heute. Indem wir nämlich mehr mit dem Herzen leben, und was unseren Mund verlässt, nicht nur durch den Verstand laufen lassen, sondern auch mit unserem Herzen prüfen. Ach ja, und heute, am Tag der Liebe und der Verliebten, da sollte uns auffallen, dass man das Eigentlich und Wesentliche des Lebens nicht studieren kann, es mit Logik nicht zu begreifen ist und mit keinem Bachelor, Master oder Doktortitel zu adeln ist.
Christoph Simonsen