Fasten- und Osterzeit 2017
Evangelium zum 6. Sonntag der Osterzeit 2017- 21. Mai 2017: Johannes 14, 15-21
Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch. Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch. Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.
Wahrheit: Was ist das?
„Liebe macht blind“, so mahnt uns ein bekanntes Sprichwort. Dem stellt Jesus heute eine andere Sichtweise der Liebe gegenüber. Er sagt: „Liebe lebt aus der Wahrheit“.
Jesus sagt im heutigen Evangelium: „Damit ihr in der Liebe bleiben könnt, sende ich euch den Geist der Wahrheit“. Klar, wer von uns würde nicht unterschreiben, dass Menschen, die sich zu lieben vorgeben, der Wahrheit verpflichtet seien. Wahrhaftigkeit klärt ein Zueinander, sie legt aber auch Unterschiede und Differenzen offen, mit denen es zu leben gilt. Bei allem Bemühen um der Wahrheit willen gilt es, den anderen und sich selbst ernst zu nehmen. Wer sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, der ist sich bewusst, Wahrheit nie zu haben, sondern immer um sie ringen zu müssen, sie zu suchen. Ein Leben in Wahrheit ist ein Prozess, kein statisches, starres Unterfangen. Wer in Wahrheit begegnen möchte, der macht sich auf den Weg und bleibt nicht stehen. Und noch etwas lehrt uns Jesus in diesem Evangelium: Wahrheit ist ein Geschenk, welches außerhalb unseres eigenen Vermögens liegt. Wahrheit ist kein Besitz, den ich horten kann. Die Wahrheit ist nie allein in mir, auch nie allein im anderen, und deshalb müssen wir gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit gehen, die der Welt geschenkt ist. Das ist eine notwendige Feststellung, dass die Wahrheit der Welt als Ganzes geschenkt ist, nicht mir allein oder meiner Geschichte oder meinem Volk oder meiner Religion. Gott hat den Geist der Wahrheit in diese Welt hineingehaucht und alle haben Anteil an dieser Wahrheit, wenn sie bestrebt sind, dem Geist Gottes zu folgen.
An dieser Stelle möchte ich einmal sehr konkret werden und hinschauen auf Ereignisse der letzten und auch der nächst folgenden Tage. Auf unserer Facebook Seite haben wir, wie schon sehr oft in der Vergangenheit hingewiesen auf besondere Gedenk- und Erinnerungstage. So auch am vergangenen Dienstag, als Guido einen Beitrag des ZDF gepostet hat, welcher an den internationalen Tag gegen Homophobie erinnern wollte. Natürlich gab es daraufhin wohlmeinende likes, aber, was eben sehr ungewöhnlich ist, auch äußerst kritische – und ich meine – auch diffamierende Rückmeldungen. Verschwendung von Steuergeldern sei es, wenn öffentlich rechtliche Rundfunkanstalten berichten würden über Lebenswirklichkeiten, die unsere Gesellschaft doch zersetzen würden. Der schwindende Kindernachwuchs würde doch darauf beruhen, dass unnatürlichen Lebensformen der Hof gemacht würde. Von der wenigen Sachlichkeit der Argumentation einmal abgesehen habe ich mich gefragt, wie ein Suchen nach der Wahrheit, die aus Gott kommen möchte, möglich werden soll, wenn der Naturbegriff als etwas Absolutes deklariert wird und der Mensch, der doch Ebenbild Gottes ist, als eine rein biologisch determinierte Substanz hingestellt wird, ohne Kultur und Geschichte, ohne Empfindsamkeit, ohne Entscheidungsfreiheit. Da bin ich dankbar für eine Gruppe von Stipendiatinnen und Stipendiaten der Cusaner, die sich vor 14 Tagen bei uns in der Khg getroffen haben, um nachzudenken und sich klüger zu machen durch eine Reihe vielfältiger wissenschaftlicher und persönlicher Vorträge, um der Frage näher zu kommen, wer denn der Mensch sei und wie vielfältig Menschsein aus der Ebenbildlichkeit Gottes herraus sein kann. Thema war die Genderfrage, die ja auch im kirchlichen Kontext sehr streitbar diskutiert wird. Hier wurde deutlich, wie wichtig, sinnvoll und nachhaltig ist, eben im Gespräch zu bleiben, auch und gerade dann, wenn es schwierig wird.
Ich glaube, die Kraft zu solch einer Gesprächsoffenheit findet sich in dieser tief verwurzelten christlichen Erfahrung: Wer sich der Wahrheit zu nähern bereit ist, durch Austausch und Gespräch, der erkennt den menschgewordenen Gott Jesus Christus. Daran glauben wir doch alle, und das schenkt die Kraft wider manche Rückschritte, nicht aufzugeben, gerade in der Gemeinschaft der: nach der Wahrheit zu suchen. In dieser Wahrheit begegnen wir einem menschlichen Gott. Ein „Basta und Schluss“ ist in der göttlichen Wahrheit nicht vorgesehen. Die göttliche Wahrheit ist immer eine liebevolle, weil der Geist, der sich in der Wahrheit offenbart, ein verbindender und verbindlicher Geist ist. Der göttliche Geist der Wahrheit ist ein von Achtung und Ehrfurcht geprägter Geist. Auszugrenzen, zu verletzen, zu demütigen, zu reglementieren ist ihm fremd.
„Wer liebt, der hält meine Gebote“, sagt Jesus. Aber welche Gebote meint er denn? Gibt es einen Ge- und Verbotskatalog Jesu? Nein, er hat uns nichts geschenkt außer sein Leben selbst. Und sein Leben ist geprägt von wahrhaftigen Begegnungen. Nähe und Distanz, die Jesus den Menschen entgegengebracht hat, waren echt und ehrlich. Zärtlichkeit und Auseinandersetzung hat er nicht gescheut. Er hat sich weder den Gesetztestreuen angebiedert noch den Kleinen Gefühle vorgegaukelt. Er ist dem Pilatus in gleicher Weise wahrhaftig gegenüber getreten wie der Maria Magdalena, immer sein Gegenüber achtend, nie bloßstellend.
„Liebe lebt aus der Wahrheit“. Zwang ist der Liebe ebenso zuwider wie jede Art der Heuchelei.
Leider wissen wir natürlich auch, wie oft die verfassten Kirchen einseitig und ausgrenzend Worte wie „Liebe, Achtung, Ehrfurcht“ in den Mund nehmen und eine engführende Wahrheit in theologischen Verlautbarungen einzementieren und dabei mehr von der Angst als von der Freiheit der Kinder Gottes geleitet sind. Dies ist dann der Nährboden für solch traurige wie diffamierende Aussagen, die ich eingangs beschrieben habe.
Dann braucht es Menschen, die die Kirchen daran erinnern, um den Geist der Wahrheit zu bitten anstatt vorzutäuschen, sie hätten ihn schon.
Am kommenden Dienstag bin ich nach Hamburg in die erzbischöfliche Akademie eingeladen. Dort wollen wir mit einigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, aber auch mit Fachleuten zusammen diskutieren, wie gute Wege in den Kirchen geebnet werden können, in der Suche nach der Wahrheit verstärkt die Menschen mitzunehmen, die immer noch in den Kirchen ausgegrenzt und verleugnet werden.
Die Suche nach Wahrheit und das Bekenntnis, ihr wirklich näher kommen zu wollen, beginnen immer mit dem Bemühen, gemeinsam zu suchen. Diesen Aspekt christlicher Liebe müssen wir glaub ich noch sehr viel mehr verinnerlichen bei allen unseren notwendigen Entscheidungen, die für die Zukunft unserer Kirchen zu treffen sind. Liebende Wahrheit und wahrhaftige Liebe zeichnet sich darin aus, dass Menschen einander begegnen, wie sie wirklich sind und nicht, wie sie sich einander vorstellen und wie sie meinen, sein zu sollen. Dann macht Liebe nicht blind, sondern frei. Dann ist Liebe kein Romantikspektakel sondern wirkliches Leben.
Christoph Simonsen
Predigt 07. Mai
Evangelium: Joh 10,1-10
Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber.
Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen. Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.
Schön, dass es nicht nur weiße und schwarze Schafe gibt
Das Bild einer Schafherde lässt einen leicht in idyllische Schwärmerei verfallen. Auch in der Heiligen Schrift kommen Schafe eigentlich immer gut weg. Denken wir an den guten Hirten, der für seine Schafe sorgt, denken wir an das verlorene Schaf, das dem Hirten so unendlich wertvoll und wichtig ist; bei Matthäus werden die Schafe beim jüngsten Gericht gerettet, die Böcke nicht; bei Jesaja ist das Bild der Schafherde ein Synonym für die Wanderwege der Menschen. Nicht zu vergessen, das Opferlamm, das unschuldige Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird.
Nun ist heute auch von einem Hirten und von Schafen die Rede im Evangelium. Aber anders als sonst, differenzierter und tiefschichtiger.
Der Beginn des heutigen Evangeliums mutet uns Wahrhaftigkeit zu: Sich in eine fremde Wohnung durchs Fenster einzuschleichen ist unredlich. Sich in das Leben anderer einzuschleichen, um ihnen den Blick auf die Wirklichkeit zu rauben ist ebenso unseriös wie unredlich. Wer den Menschen den Zugang zur Wirklichkeit raubt, ist ein Dieb; denn er stiehlt nicht nur Wertgegenstände, die uns das Leben ein wenig versüßen, nein, er stiehlt ihnen viel mehr den Boden, auf dem sie stehen, so dass sie haltlos werden. Ohne einen stabilen Bezug zur Wirklichkeit fallen wir ins Uferlose, und das endet unweigerlich in Wahnsinn. Wer Harmonie vorgaukelt, wo Bedrängnis ist, der ist ein Dieb. Ist Harmonie also schlichtweg eine Utopie? Und „Leben in Fülle“ nur eine Vertröstung, wohin auch immer? Tragisch und traurig, wenn es wirklich so wäre!
Schauen wir noch einmal in den Text des Evangeliums.
Im Evangelium hören wir, dass der Hirt seine Schafe kennt, jedes einzelne bei seinem Namen. Das heißt: Der Hüter weiß um die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit jedes seiner Schafe. Jedes Schaf bedarf eines eigenen Zugangs, es gibt keinen Kamm, über den alle in gleicher Weise geschert werden können. Der oder die einzelne ist im Blickfeld Jesu, nicht die Herde. Ihm ist wichtig, die Lebenswirklichkeit des einzelnen wahr zu nehmen. Und die Lebenswirklichkeit des einen ist immer verschieden von der des anderen. Die Lebenswirklichkeiten der Menschen sind so verschieden wie die Lebensgeschichten der Menschen.
Das verstehen die Jüngerinnen und Jünger nicht. Das hören sie wohl zum ersten Mal und nehmen es auch zum ersten Mal wahr, dass der einzelne Mensch es wert ist, in je eigener, unverwechselbarer Weise angesprochen und gefunden zu werden. Die Zuwendung zum einzelnen hin, das ist das wunderbar Neue. Jesus bringt ihnen nahe, welches Menschenbild Gott in seinem Herzen trägt. Jesus führt fort, was die Prophetinnen und Propheten des 1. Bundes vorbereitet haben. Gott ist ein Gott für die Menschen; er existiert nicht um seiner selbst willen, er ist um unsertwillen. Im 1. Bund wurde diese Botschaft in besonderer Weise gerichtet an das Volk Israel, an die Herde als Ganzes also. Jahwe ist der Gott des Volkes Israel. Der Bund, den Gott mit den Menschen schloss, den haben die Menschen verstanden als einen Bund mit dem Volk. In dieser Theologie sind die Jüngerinnen und Jünger aufgewachsen; sie verstehen sich als Glied des Volkes, eingebunden in diese Gemeinschaft. Diese Überzeugung entwickelt Jesus weiter: Eingebunden sein in eine Gemeinschaft heißt doch in letzter Konsequenz weiter, dass der einzelne Mensch als ein Glied des Ganzen, des auserwählten Volkes wahrgenommen wird. Die Werthaftigkeit des Volkes Gottes ergibt sich aus der Werthaftigkeit jedes einzelnen. Jesus schält sozusagen diesen göttlichen Blick auf den einzelnen Menschen als Subjekt, als ein aus sich heraus von Gott geliebtes Wesen heraus aus der Theologie des Volkes, die das 1. Testament beschreibt.
Jesus bezeichnet sich dann weiter als die Tür. Er, der ohne Vorbehalt und ohne Vorbedingung auf den Menschen zugegangen ist, er ist die Tür zu einem Leben in Fülle. Er, der sich den Menschen ungeschützt und offenherzig gezeigt hat, der sein Leben preisgegeben hat, der die Einzigartigkeit seines Lebens nicht als etwas Exklusives wahrgenommen hat sondern als ein Gottesgeschenk, das allen gegeben ist; er, der aus dem Rahmen des bis dahin Vorstellbaren herausgefallen ist, weil er sich in keinen Rahmen hat einsperren lassen; er, der einer neuen Wirklichkeit der Gegenwart Gottes zum Durchbruch verholfen hat, jenseits aller Schablonen und Denksperren: Er ist die Tür zu einem erfüllten Leben.
Sich frei bewegen, noch mehr: frei werden dürfen als einzelne und einzelner, dazu, so die Botschaft Jesu, verhilft dieser Gott. Die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen ist immer eine Subjektive, weil nämlich die Geschichte eines jeden Menschen einzigartig ist. Aus dem, was wir erlebt haben und wie wir es erlebt haben eröffnet sich unser Blick auf die Gegenwart. Jesus hat immer die Genese eines Menschen ernst genommen; er hat den Menschen, der ihm gegenübersteht immer als ein Individuum wahrgenommen und angenommen. Deshalb haben sich alle bei ihm aufgehoben gefühlt, weil ihr ganzes Leben in den Blick kommen durfte. Wir müssen es wagen, einander kennen zu lernen. Das ist das Schlüsselwort. Wenn wir bereit werden, einander kennen zu lernen, wenn wir die Lebenswirklichkeiten des und der je einzelnen wert zu schätzen lernen, dann berühren wir das Leben in Fülle, weil wir uns befreien lassen aus Vorgeprägtheiten und Sterilität.
„Euch und allen Kindern gilt die Verheißung“, hörten wir in der Apostelgeschichte, nicht wenigen, nicht einigen, nicht Auserwählten, sondern allen gilt die Verheißung Gottes, zur Freiheit berufen zu sein. In diese Freiheit finden wir, wenn wir einander diese geschenkte Freiheit auch gönnen. Die Erfahrung dieser Freiheit beginnt mit der Neugierde, einander unsere Geschichte und unsere Geschichten zu erzählen. Nur so werden wir einander gerecht; und was noch wichtiger ist: Nur so werden wir einander in ein Leben in Fülle begleiten können.
Christoph Simonsen
________________________________________________________________________________________________
Predigt 30. April
Evangelium: Lukas 24,13-35
Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. Doch sie waren wie mit Blindheit geschlagen, sodass sie ihn nicht erkannten. Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen, und der eine von ihnen – er hieß Kleopas – antwortete ihm: Bist du so fremd in Jerusalem, dass du als einziger nicht weißt, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus Nazaret. Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk. Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist. Aber nicht nur das: Auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe beim Grab, fanden aber seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, er lebe. Einige von uns gingen dann zum Grab und fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie nicht. Da sagte er zu ihnen: Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. So erreichten sie das Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen, aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben. Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.
Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück und sie fanden die Elf und die anderen Jünger versammelt. Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.
Was zum Maibaum-Setzen noch dazu gehört
Heute ist mir ein wenig bange um unsere Wälder, werden doch in dieser Nacht wieder die berühmt-berüchtigten Maibäume vor den Haustüren der Liebsten aufgestellt. Ich möchte nicht wissen, wie viele arme Birken heute Nacht dran glauben müssen. Aber was tun Männer nicht alles, um ihren Liebsten zu gefallen. Welches Mädel freut sich nicht über solch eine Aufmerksamkeit, wenn sie morgens aufwacht und vor ihrem Fenster einen geschmückten Baum sieht. Es ist was Wunderschönes, auf solch liebevolle Weise Wertschätzung und Liebe geschenkt zu bekommen. Aber, wer wüsste das nicht, ein Baum kann noch so schön sein wie er will; ein Baum alleine genügt nicht, eine wirkliche Freundschaft zu erhalten, sie zu pflegen, schon gar nicht, sie zu vertiefen und zu intensivieren. Da braucht es schon ein wenig mehr. Und von diesem „mehr“, davon dürfen wir erfahren, wenn wir uns das heutige Evangelium anschauen und das meditieren, was wir in den letzten Wochen gefeiert haben: Ostern, Auferstehung. Ostern ist nämlich in erster Linie ein „Erzähl-Fest“. Was ich damit meine, davon erzählt der heutige Text. Wir werden mit den Jüngerinnen und Jüngern mitgenommen auf ihren Weg, wo sie unterwegs einander von sich erzählen.
Sie erzählen einander ihre Hoffnungen und Enttäuschungen, aber was noch beachtenswerter ist: schenken einander ihre Ängste und Freuden. Was so banal klingt, ist etwas grundlegend Wichtiges, damit Leben in Freundschaft und Beziehung gelingen kann. Menschen können und dürfen ihre Ängste schenken, dürfen das geben, weg-geben, was bedrängend und beschwerlich ist, was sie das Leben fürchten lassen kann. Wir dürfen unsere Ängste weg-schenken genauso wie unsere Freude, unsere Lebenslust und unsere Sehnsucht, einem anderen Menschen nahe sein zu wollen.
Wir sind eingeladen unser Leben zu erzählen, aber eben unser ganzes Leben mit allen Facetten, die zu einem Leben dazu gehören. Und so gehört es auch dazu, das Bittere zu schenken, das Verlorene und Enttäuschende, denn das gehört dazu. Zum Maibaum gehören eben auch Tränen.
Auf ihrem Weg nach Emmaus machen die Jüngerinnen und Jünger eine unendlich wichtige Erfahrung: Gerade wenn die bitteren Ereignisse des Lebens einander anvertraut werden – und Gründonnerstag, Karfreitag, sind ja für die Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht irgendwelche Tage in ihrem Leben gewesen, sondern lebens-wendende Ereignisse – wenn solch enttäuschende Ereignisse des Lebens erzählend geschenkt werden, dann wächst Ostern, dann wandelt sich Leben, dann steht das Leben auf, geschieht Unverhofftes, Ungeahntes, Ungeplantes. Wenn Sterbens erzählt werden, ereignet sich Auferstehung.
„Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte…“ Wenn Menschen ihr Leben erzählen, ihre Träume, ihre Nöte, ihre Ahnungen, dann wird sichtbar, spürbar, er-leb-bar, was zuvor still oder laut ausgehaucht worden ist. Im Schenken, im Erzählen meines Lebens, wird Leben voll und ganz leibhaftig, fassbar.
Wenn so also nach dem Maibaum-Setzen die Müdigkeit ein wenig überwunden ist und Zeit und Möglichkeit gegeben ist, sich hinzusetzen und gemeinsam zu erzählen, von sich, vom Leben, von dem Spaß in der Nacht aber auch von den Sorgen über die Zukunft unserer Wälder und der ganzen Welt, von der schier überfordernden Frage, wie wir all dem begegnen können, dann kann sich vielleicht während des Gespräches wieder neu Ostern ereignen und Ideen können aufkeimen, wie mit uns und durch uns Frieden werden kann.
Christoph Simonsen
________________________________________________________________________________________________
Predigt 23. April
Lesung: Galater 5, 16-17
Darum sage ich: Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen. Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber, sodass ihr nicht imstande seid, das zu tun, was ihr wollt.
….dass Gott nicht zerstückelt wird
Schwere Kost am Sonntagabend, diese beiden Texte aus der Heiligen Schrift. Dazu kommt: Ich persönlich bin immer besonders skeptisch, wenn in der Bibel Fleisch gegen Geist ausgespielt wird; wenn das Geistige des Lebens gewürdigt und das Fleischliche herabgesetzt wird. Wie lange haben die Kirchen mit diesem Gedankengut ihre Macht gegenüber den Menschen ausgespielt. Aber warum sollte es Paulus darum gehen, die Menschen zu gängeln, wo er doch selbst sagt, die Menschen seien zur Freiheit berufen; und warum sollte er den Menschen Moralpredigten vorhalten wollen, wo doch sein Lehrer und Freund Jesus mit einem großen Urvertrauen den Menschen begegnet ist und nicht müde war, sie in ihrer Würde und Schönheit zu bestärken. Paulus möchte den Menschen nicht die Freude am Leben verderben, nicht die Lust und nicht die Leidenschaft. Sein Anliegen, so verstehe ich ihn, ist ein ganz anderes. Er möchte dem Leben Tiefe geben, es der Banalität und der Oberflächlichkeit entreißen. Sein Anliegen ist es, die Sehnsüchte der Menschen zu wecken und eine Ahnung davon zu vermitteln, dass es möglich ist, Großes in sich und in der Welt zu entdecken. Man muss sich nur die Wahlplakate anschauen, die in diesen Tagen an den Straßenlaternen hängen. Plakativer geht es nicht; unterschwellig werden Ängste geschürt, wie auch Sehnsüchte geweckt. Wo wir hinschauen, es geht immer darum, möglichst unauffällig möglichst viel Einflussnahme zu erwirken. Ob auf Plakaten, ob in den sozialen Netzwerken: überall wollen andere in meinen Kopf, in meine Gedanken und in meine Gefühle hineingreifen und ihrer Herr werden. Dieser geistigen Übergriffigkeit, dieser Oberflächlichkeit einer stumpfsinnigen und doch so oft erfolgreichen Besitzergreifung über mein Denken und Fühlen widersetzt sich Paulus vehement. Das wirklich Große, das, was wirklich leben lässt, das liegt in mir und dir und nicht in Schlagworten und appellativen Verkürzungen. Im Menschen liegt das Große, in der einmaligen Schönheit dieser Welt liegt das Große, in der Vielfalt des Lebens entfaltet sich Geist und Leben. Den Menschen sehen, die Welt sehen und darin eine Ahnung von Gott bekommen, von seiner Größe und seiner Treue zu uns: Dieses Lebenskonzept möchte uns Paulus nahe legen und davon zeugen die Fotografien von Herrn Emondts, der genau da hin gegangen ist, wo die Menschen und das Miteinander des Lebens nicht vielfältiger und auch nicht schwieriger sein könnten, nämlich in Jerusalem, wo Kulturen und Religionen und Geschichten aufeinanderstoßen. Im Blick auf die Menschen und ihre Geschichten verlieren die von außen gesetzten Gesetze und Normen, die vorgeben, über mich bestimmen zu können und zu müssen, ihre Macht. Um einen Gedanken aus dem Evangelium aufzugreifen: Neu geboren im Geist werden wir, wenn wir den Menschen in die Augen schauen, wenn wir im anderen, auch im Fremden, gewillt sind, das Göttliche zu suchen. Das macht unser Leben und unser Miteinander nicht leichter, aber gottgemäßer. Denn wer immer Gott für sich allein in Anspruch zu nehmen gewillt ist, sperrt Gott ein in die Enge des eigenen Denkmusters. Nicht das christliche Abendland gilt es zu retten, sondern den Frieden, den Gott in die ganze Welt hineingelegt hat. Wer sich auf diesen Gott beruft, und das tun Juden, Muslime und Christen in je eigener Tradition, der ist diesem Frieden verpflichtet. Und wer immer diesem einen Gott Heimat schenkt in seinem Leben, der wird sich mit seinem ganzen Leben dafür einsetzen, dass auch der je andere Gott in sich leben lassen kann. Wie schwierig das ist, das sehen wir eben in Jerusalem, wo Gott zerrissen und zerstückelt wird, weil je einzelne Gruppen ihn für sich allein besitzen wollen. Und zugleich sehen wir, wie schön das ist, diesen Frieden zu bewahren, wo Menschen verschiedener Religionen und Kulturen im Respekt voreinander in einer Stadt, in einem Land, in einer Welt auszukommen bemüht sind. Das ist das Große, von dem Paulus spricht, und für das Christus gelebt und gestorben ist. Und dieses Große ist in unsere Hände gelegt; an uns liegt es, dass Gott nicht zerstückelt und diese Welt im Frieden leben kann. Überlassen wir diese Verantwortung nicht den Kleinkarierten und Besserwissern unter uns.
Christoph Simonsen
_________________________________________________________________________________________________
16. April Ostersonntag
Evangelium: (Joh 20,1-9)
Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab;
sie liefen beide zusammen dorthin, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als erster ans Grab. Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging aber nicht hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Kopf Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle. Da ging auch der andere Jünger, der zuerst an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte. Denn sie wussten noch nicht aus der Schrift, dass er von den Toten auferstehen musste.
Zeit, in den Glauben hineinzuwachsen
Dieser Tag hat schon mit Tücken angefangen. Morgens um 5 aufstehen und dann um 6 schon hellwach und konzentriert mit Euch heute zu feiern, das bedarf schon gewisser innerer Erweckungskünste. Aber wie ich ja anfangs sagte, wenn ich mir von diesem Tag nicht etwas Besonderes erwarten würde, dann hätte ich ja liegen bleiben können. Und der Tag wäre begonnen, wie sonst eigentlich alle Tage beginnen.
Ich wäre etwas später aufgestanden, ins Bad verschwunden und hätte mir dann das Frühstück bereitet. Ohne Frühstück aus dem Haus, das geht für mich gar nicht. Heute schon! Wie kann das sein, dass heute der Tag so anders verläuft als sonst die Tage meines Lebens und ich dennoch guter Dinge bin? Schließlich bin ich doch wie viele von euch sicher auch so etwas wie ein Gewohnheitstier. Ich liebe den vertrauten Rhythmus meines Lebens, ich fühle mich gut, wenn ich weiß, was auf mich zukommt am Tag. Und wenn dann die Dinge anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt habe, da kann ich ganz schön grummelig werden und grantig.
Wir haben alle unsere je eigene Geschichte, die uns dahin geführt hat, wo wir heute stehen. Und da man ja nicht immer wieder neu bei Adam und Eva anfangen kann – und es auch nicht will – bauen wir unser Leben immer wieder auf dem auf, was uns zuvor widerfahren ist. Und da herum bauen wir unsere Lebensgerüste, damit wir uns sicher fühlen können. Das Vergangene hat uns geprägt: oft hilfreich, manchmal auch belastend. Der Gegenwart wie der Zukunft können wir nicht anders begegnen als mit den Erfahrungen, die wir in unserem bisherigen Leben gemacht haben. Das einzige, dessen wir uns gewiss sein können, ist das Erlebte, das Erfahrene. Das einzige, das uns keiner mehr nehmen kann, ist das Leben, das hinter uns liegt. Deshalb alleine dürfen wir unser bisheriges Leben ehren: das Leichte ebenso wie das Schwere, denn das eine durften wir genießen, das andere haben wir überstanden und sind vielleicht sogar stärker und reifer daraus hervorgegangen. Ich denke ganz bewusst hier an Reza und Jan; ihre Lebensgeschichte ist eine in besonderer Weise sehr bewegte und bewegende Geschichte.
So jung Reza und Jan auch sind, so vieles haben sie schon in ihrem Leben tragen müssen. Und an einem Tag wie heute ganz besonders gehen ihre Gedanken vielleicht zurück in ihre alte Heimat hin zu ihrer Familie, zu ihren Freunden. Gleichermaßen ist da sicher Wehmut im Herzen wie auch Erleichterung, Dankbarkeit ebenso wie auch Traurigkeit. Es ist gut, dass hier und heute alles sein darf an Gefühlen und Gedanken.
Aber wie alles im Leben, so auch euer beider wie auch unser aller Geschichte: Es ist im wahrsten Sinn des Wortes Geschichte; es ist gestern, und gestern ist nicht heute, so wenig es auch ein heute ohne das gestern gibt. Wenn wir die Perspektiven unseres Lebens alleine entwerfen aus den Erfahrungen der Geschichte, dann wird es uns nicht gelingen, dem Teufelskreis des Vergänglichen zu entrinnen. Wir werden niemals ganz erfahren, wer wir sind, und wozu wir sind, denn wir würden dann immer nur kreisen im Dunstkreis unserer Geschichte und all unserer kleinen Geschichten.
Wie elendig wäre Jesus zugrunde gegangen, hätte er seinen Lebensweg ausschließlich gestaltet mit den Erfahrungen seines Lebens. Er wäre von den vielen kleinen und großen Enttäuschungen aufgefressen worden und geblieben wäre am Ende nichts als Resignation.
Wäre die Geschichte die einzige Quelle für die Gestaltung des Lebens, so bliebe am Ende nichts als die bittere Erfahrung, dass im Letzten doch alles beim Alten bleiben wird.
Diesem Lebensmuster des Bewahrens, stellte Jesus das Lebensmuster des Wagemutes entgegen. Etwas wagen heißt immer auch: ausbrechen aus altgewohnten Mustern, Wege des Vertrauten und Gekannten zu verlassen.
Etwas wagen heißt: Nicht nur im Wissen um seine Geschichte, sondern auch im Vertrauen auf eine Zukunft die Gegenwart zu gestalten. Im Tod hat Jesus den Himmel offen gesehen. Er konnte diesen Weg des Sterbens nur gehen im Vertrauen auf diesen offenen Himmel, das heißt: im Vertrauen auf Gott. Jesus ist nicht steckengeblieben in der Vergänglichkeit der Geschichte, weil er an eine Zukunft in Gott glaubte; Jesus ist aber auch nicht abgehoben aus der Geschichte, weil er an die Gegenwärtigkeit Gottes im Hier und Jetzt glaubte. Deshalb sind auch Reza und Jan vor einigen Monaten aufgebrochen, weil sie ganz fest darauf vertraut haben, dass ihre Zukunft greifbar, erfahrbar wird, wenn sie ihre Geschichte durchkreuzen.
Ich möchte noch einmal auf den Anfang zurückkommen, auf mein Frühstücksritual, das Gott sei es gedankt heute einmal unterbrochen wurde.
Letztens saß ich am Frühstückstisch und las in der Tageszeitung einen Bericht über ein Hilfsprojekt in New York, welches jungen Drogengebrauchern, die sich von der Sucht befreien wollen, den Weg ins Leben neu ebnen soll. Ich lese, wie man halt morgens die Zeitung liest. Plötzlich stocke ich. Was habe ich da gerade gelesen? Ich fange den Absatz noch einmal neu zu lesen an: Da wird der Verantwortliche dieser Einrichtung zitiert mit dem Satz: „Wir geben ihnen den Luxus, sich Zeit zu nehmen“. Ich merke, wie mich dieser Gedanke fesselt. Der weitere Verlauf des Berichtes interessiert mich nicht mehr. Mit diesem Gedanken gehe ich in den Tag hinein. „Wir geben ihnen den Luxus, sich Zeit zu nehmen“, und ich wünsche mir im Stillen, diese Weisheit weiterschenken zu können.
Dass jede und jeder Zeit findet, besser: sich Zeit nimmt, das wahrzunehmen an Empfindungen und Stimmungen, die in einem leben und sich ebenso Zeit nimmt, diese anzuschauen und zu hinterfragen. Sei es Trauer oder Angst, das Gefühl von Überforderung und Hetze, die Erfahrung einer Sinnlosigkeit; was auch immer in einem lebt im Augenblick, es möchte nicht verdrängt oder vertuscht werden.
„Wir geben ihnen den Luxus, sich Zeit zu nehmen.“ Wozu? Um den Augenblick des Lebens aus beiden Blickwinkeln betrachten: Aus der gelebten Geschichte ebenso wie aus der erhofften Zukunft. So eröffnet sich die Chance, beides zu verwirklichen im Leben: zu bewahren, was es zu bewahren gilt, und zu erneuern, wo es zu gestalten gilt.
Das Geheimnis des österlichen Ereignisses zu erfassen, braucht auch Zeit, viel Zeit. Auferstehung ist nicht ein geschichtliches, vergangenes Geschehen. Auferstehung ist ein immer wiederkehrendes Geschenk. Das zu erkennen, braucht Zeit, viel Zeit. Wer nicht in der Unzufriedenheit der eigenen wie der ganzen Geschichte bleiben möchte, sondern im Frieden einer geschenkten Zukunft leben möchte, der kommt nicht umhin, sich diesen Luxus „Zeit“ zu nehmen.
Christoph Simonsen
________________________________________________________________________________________________
13. April Gründonnerstag
Lesung: 1. Korinther 11, 23-26
Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.
Gott zu begegnen ist keine Frage des Gegenüber sondern des Miteinander
Gott zu begegnen ist keine Frage des Gegenüber sondern des Miteinander. Hier, an diesem Tisch wird das nicht nur zeichenhaft, sondern viel mehr leibhaftig spürbar. Gott ereignet sich in unserer Gemeinschaft; Gott wird erfahrbar, weil wir umeinander wissen; Gott ist nahe, weil wir einander berührend nahe sind.
Wenn wir gewöhnlicher Weise Gottesdienst feiern, dann wird nur peripher sichtbar, was heute unübersehbar ist: Wandlung, Verwandlung geschieht nicht durch Worte, nicht durch einen Ritus; vielmehr ereignet sie sich im Beisammensein, im Zueinanderstehen. Einfaches wird göttlich; Alltägliches wird lebensspendend; Brot verwandelt Menschliches in Göttliches und Wein ist mehr als ein Lustgetränk und verwandelt sich zu einer tiefen Quelle der Freude.
Das, was wir Sonntag für Sonntag feiern, was unser Leben so unendlich stark machen möchte, was uns Lebensnahrung sein möchte, der allen Hunger zu stillen vermag, ist alles andere als ein Ritus, ein Geschehen an uns. Gott ereignet sich mit uns und für uns. Das ist das alles Begreifen übersteigende, dass Gott nur Gott ist, wenn er es mit uns ist. Er hat sich – im wahrsten Sinn des Wortes – verausgabt voraus gegeben, von sich weg, dort hinein, was er geschaffen hat.
Gott steht uns Menschen, steht seiner Schöpfung nicht gegenüber, gleich einer unantastbaren Autorität; nein: Gott hat sich verinnerlicht in das Geschaffene, in diese Welt, in uns. Deswegen ist die Weise, ihn zu feiern in der Form unserer Gottesdienste nur ein Hilfskonstrukt, entstanden durch den sachlichen Zwang, dass kein Tisch ausreichen würde, die Weltgemeinschaft zusammenzuführen. Selbst unser Tisch heute mag für uns heute genügen, aber für die Welt ist er zu klein. So ist unser Beisammensein an diesem Tisch nicht anders als der Altar im Osten unserer Kirchen ein Behelf; aber anders als der isolierte Altar an der Stirn unserer Kirchen kommt hier und heute zumindest spürbarer zur Geltung, was das größte Geheimnis Gottes ist. Dass wir ihn nicht herbeirufen müssen, dass wir ihn nicht herbeibeten müssen, dass Gottesbegegnung kein Gnadenerweis ist, sondern dass er immer schon zwischen uns ist und in uns. Dass wir ihn teilen, schenken, erfahren, erkennen können, wenn wir Menschen zusammenstehen und selbst einander teilen und schenken. Gotteserfahrung geschieht im Teilen und Schenken. Wenn wir einander schenken, wenn wir teilen, was unser ist, dann schenken wir Gott, dann teilen wir sein Geheimnis. Und wenn wir einander schenken, schenkt Gott sich.
Leben wird reich, Leben wird sättigend, wenn wir tun, was er getan hat. „Tut dies zu meinem Gedächtnis. Ihn tun im Leben, im wirklichen Leben, im realen Wahnsinn unserer Welt, ist Gottesdienst, ist Eucharistie, Danksagung.
Christoph Simonsen
________________________________________________________________________________________________
09. April Palmsonntag 2017
Lesung: Judas Mt 26,14-16.20-25 27,3-4 (Inga)
Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohenpriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten ihm dreißig Silberstücke.Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern.
Als es Abend wurde, begab er sich mit den zwölf Jüngern zu Tisch. Und während sie aßen, sprach er: Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten und ausliefern. Da waren sie sehr betroffen und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr? Er antwortete: Der, der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat, wird mich verraten. Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre.Da fragte Judas, der ihn verriet: Bin ich es etwa, Rabbi? Jesus sagte zu ihm: Du sagst es.
Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war, reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohenpriestern und den Ältesten die dreißig Silberstücke zurück und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert.
Da hängt einer in der Luft
Da hängt ein Mensch in der Luft, die Arme weit nach oben gestreckt, so als hielte er sich an einer Reckstange fest; nur: Da ist keine Stange, kein Halt. Er hängt in der Luft, den Kopf auf seine Brust gebeugt, die Beine leicht angewinkelt. Eigentlich müsste er im freien Fall aus dem Bild herausfallen, denn nichts und niemand hält ihn. Beim Anblick des Bildes scheint mir, er habe für sich abgeschlossen mit seinem Leben, die ganze Körperhaltung, die Ausdruckslosigkeit seines Gesichtes deuten daraufhin. Aber er fällt nicht. Er fällt nicht; im Gegenteil: mir scheint, irgendetwas, irgendjemand zieht ihn nach oben. Sein Körper ist in schwarzen Bleistiftstrichen gemalt, bleiernschwer wirkt er so. Aber so schwer sein Körper auch sein mag, und so schwer das Leben, eben wie Blei auf ihm zu lasten scheinen mag, er fällt nicht.
Was zunächst so völlig unverständlich ist, das findet eine Antwort im zweiten Blick auf das Bild. Hinter diesem Menschen, dem das Leben so schwer ist, zeigt sich, wie ein Schatten, eine zweite Gestalt, nur in Umrissen, kaum zu sehen, da sie sich ganz der Körperhaltung des anderen anpasst. Die zweite Gestalt schmiegt sich ganz eng an ihn an. Wenn der eine fällt, fällt auch der andere. Aber der andere, dessen Arme ebenso nach oben gestreckt sind, wirkt kraftvoller, lebendiger. Er, der Fremde, scheint einen Halt nach oben zu haben. Er, der Fremde ist es, der verhindert, dass der bleiernschwere Mensch fällt. Er scheint so beherzt und stark zu sein, dass er den Körper des dunklen Menschen mit zu halten vermag. Und das, obwohl er nicht minder schmächtig ist.
Dieses Bild hängt bei mir zuhause im Arbeitszimmer. Und, warum auch immer, es schenkte mir einen Augenblick der Ruhe am vergangenen Dienstag, als ich unbeholfen an meinem Schreibtisch saß und meine Gedanken nicht zu sortieren vermochte. Ich spürte eine gewisse Tröstlichkeit in mir. Wenn ich in der Gefahr stehe zu fallen, so dachte ich mir, dann darf ich hoffen, dass sich jemand an mich schmiegt. Das ist etwas anderes, als wenn sich jemand an mich klammern, mich ins Leben zurückzerren wollte. Das Bild zeigt es ganz offensichtlich: Da ist ein Mensch bereit, mich zu umarmen in einer Situation, in der ich den Lebenshalt verloren habe. Eher würde dieser Mensch mit mir gemeinsam fallen, als dass er mich zu etwas zwingen würde. Diese leichte Umarmung, diese ungefragte und auch nicht hinterfragende Nähe schenkt Halt: nicht aufgenötigt, nicht aufgezwungen, nicht moralisch autoritär. Sie schenkt Halt: verstehend und verständnisvoll, indem sie sich an den anderen bindet und bereit ist, auszuhalten, was nicht aufzuhalten ist.
Wir feiern heute Jesu Einzug in Jerusalem. Im Wissen darum, dass die Welt und die Menschen seiner überdrüssig sind und er bald aus dem Weltbild herausfallen wird; im Wissen um die Begrenztheit, Einfluss nehmen zu können auf das, was ihm widerfahren wird, lässt er los. Er ist bereit zu fallen. Er hängt sich nicht an sein Leben; er lässt los. Mitten im Trubel der Stadt trifft er für sich die Entscheidung, sich fallen zu lassen. Und er vertraut, dass sich jemand an ihn schmiegt, dass jemand da ist, der mit ihm in den tiefsten Abgrund zu fallen bereit ist. Und es ist jemand da: Gott ist da. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt waren auch seine Freunde da und seine Freundinnen. Jesus weiß darum, dass Menschen nicht alles vermögen, dass Menschen an bestimmten Punkten des Lebens an ihre Grenzen stoßen. Er weiß darum und er trägt es liebevoll mit. Er nimmt es mit in seinen großen Fall. Dass sich einer an ihn schmiegt, das genügt.
Dieser Eine hat sich auch zart um das Leben von Rafael gelegt, hat ihn umarmt und er ist mit ihm gefallen in das unfassbar Endgültige, das wir Menschen Tod nennen. Es wird sich bald zeigen, dass das scheinbar Endgültige nichts anderes ist als eine unabdingbare Notwendigkeit, den größten und wunderbarsten Liebesbeweis zu schenken: Das Leben, das den Tod nicht vergessen macht und zugleich doch überwindet.
Christoph Simonsen
_________________________________________________________________________________________________
02. April 2017
Evangelium: Johannes 11,1-45
Ein Mann war krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf, in dem Maria und ihre Schwester Marta wohnten. Maria ist die, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar abgetrocknet hat; deren Bruder Lazarus war krank. Daher sandten die Schwestern Jesus die Nachricht: Herr, dein Freund ist krank. Als Jesus das hörte, sagte er: Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. Denn Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus. Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt. Danach sagte er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen. Die Jünger entgegneten ihm: Rabbi, eben noch wollten dich die Juden steinigen und du gehst wieder dorthin? Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist. So sprach er. Dann sagte er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. Da sagten die Jünger zu ihm: Herr, wenn er schläft, dann wird er gesund werden. Jesus hatte aber von seinem Tod gesprochen, während sie meinten, er spreche von dem gewöhnlichen Schlaf. Darauf sagte ihnen Jesus unverhüllt: Lazarus ist gestorben. Und ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt. Doch wir wollen zu ihm gehen. Da sagte Thomas, genannt Didymus (Zwilling), zu den anderen Jüngern: Dann lasst uns mit ihm gehen, um mit ihm zu sterben. Als Jesus ankam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grab liegen. Betanien war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. Viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten. Als Marta hörte, dass Jesus komme, ging sie ihm entgegen, Maria aber blieb im Haus. Marta sagte zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben. Jesus sagte zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag. Jesus erwiderte ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? Marta antwortete ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll. Nach diesen Worten ging sie weg, rief heimlich ihre Schwester Maria und sagte zu ihr: Der Meister ist da und lässt dich rufen. Als Maria das hörte, stand sie sofort auf und ging zu ihm. Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte. Die Juden, die bei Maria im Haus waren und sie trösteten, sahen, dass sie plötzlich aufstand und hinausging. Da folgten sie ihr, weil sie meinten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus. Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte! Einige aber sagten: Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb? Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war. Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, entgegnete ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag. Jesus sagte zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast. Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen! Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn.
Wie Jesus mal wieder alles menschliche Denken durchkreuzt
Zu Anfang eine Klarstellung: In der sogenannten Lazarusgeschichte geht es nicht vorrangig um Lazarus, sondern um uns. Es geht um Klarstellungen, um ein Aufdecken von Missverständnissen; es geht um unseren Glauben. Dieser Perikope sollten wir uns nüchtern stellen. Wir sollten uns ausnahmsweise mal nicht zu schnell von unseren Emotionen leiten lassen. Wir alle wissen, dass die Geschichte gut ausgeht und Lazarus zurück ins Leben findet; aber darauf kommt es nicht an.
Diese Geschichte ist gekennzeichnet durch ganz viel Verwirrung und von missverständlichen Bildern. Jesus redet von Schlaf, meint aber den Tod seines Freundes. Für ihn scheint der Tod aber etwas ganz Selbstverständliches zu sein; eine Wirklichkeit, die mehr zum Philosophieren einlädt als in Trauer zu verfallen.
Jesus redet vom Licht und von der Dunkelheit. Er spricht von Auferstehung. Mit all dem spricht er für die, die ihm zuhören, scheinbar Selbstverständliches an: Licht ist immer besser als Dunkelheit, so denken wir doch; und das Leben ist eine Zeitenfolge, an deren Ende der Tod und das Jüngste Gericht und die Auferstehung stehen. Das alles entlarvt Jesus als viel zu kurzsichtig und viel zu irdisch. Was Jesus wohl sagen möchte: Gott ist ebenso im Licht wie in der Dunkelheit und Gott teilt das Leben nicht in ein Leben vor und ein Leben nach dem Tod. Gott ist vor dem Tod, er ist im Tod und er ist hernach; und Ewigkeit ist nicht etwas Neues nach der Zeitlichkeit. Jesus durchkreuzt das menschliche Denken; für ihn gibt es keine Weltenteilung, kein Diesseits und Jenseits. Für ihn ist einzig die Bindung an den Vater von Bedeutung. Wer in dieser Verbundenheit lebt, der lebt Gott, gleich ob er lebt oder gestorben ist.
Jesus ist es ein tiefes Bedürfnis, von sich zu erzählen, von seinem Glauben und Vertrauen, aber Martha und all seine Freundinnen und Freunde verstehen ihn nicht. Zum einen sicher, weil sie um Lazarus trauern, der gestorben ist; aber noch mehr verstehen sie Jesus nicht, weil sie verhaftet sind in einem tradierten Lebens- und Glaubensverständnis.
Wie kann Jesus so ruhig bleiben, ist doch ein lieber Mensch gestorben? Er wirkt geradezu kühl, distanziert, da er doch so ausschweifend über Krankheit, Schlaf, Tod und Auferstehung philosophiert und unbeirrt seinen Weg weitergeht. Er lässt sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen angesichts des Todes seines Freundes. Während alle anderen sich emotional mit der Traurigkeit solidarisieren, die Martha und die anderen gefangen nimmt scheint Jesus teilnahmslos mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein. Mir scheint, eher aus Mitleid, denn aus Überzeugung wendet er sich dem Schicksal des Lazarus zu und der Trauer der Umstehenden.
Der Rest ist dann schnell erzählt: Jesus kommt im Haus des Lazarus an, seine beiden Freundinnen Martha und Maria sagen, er komme zu spät und sind traurig, sie weinen; Jesus verwickelt sie wieder in ein eher kryptisches Glaubensgespräch; was er sagt, klingt wie von einer anderen Welt. Er kehrt dann in sich, betet, spricht dann wieder rätselhaft von seiner Erhöhung und zum Schluss geschieht das Unvorhersehbare: Lazarus steht auf. Lapidar heißt es zum Schluss: Viele der Juden kamen zum Glauben an ihn.
Dieses Ganze alles bringt mich zu der Überzeugung, dass Jesus mehr seinen und auch unseren Glauben in die Mitte dieser Geschichte rücken möchte und Lazarus eher eine beiläufige Begebenheit in dieser Geschichte ist. Äußerlich betrachtet macht sich Jesus auf den Weg zu Lazarus, aber innerlich angeschaut geht Jesus einen Weg, der ihn zu sich selbst führt.
Es ist die Geschichte Jesu, der zu seiner eigenen Mitte, zu seiner eigenen Bestimmung, zu sich selbst findet. Es ist die Geschichte, die erzählt, wie man mit sich selbst Frieden und Klarheit findet. Es ist die Geschichte Jesu, der einer Selbstvergewisserung näher kommen möchte, wer er ist und was seine Bestimmung, seine Berufung ist. Es ist die Geschichte eines Menschen, der sich selbst sucht und offen dafür ist, mehr als sich selbst zu finden. Es ist die Geschichte eines Menschen, der Wege zu gehen bereit ist, die nicht vorgezeichnet und nicht abgesichert sind. Es ist die Geschichte eines Menschen, der über das Leben nachzudenken vermag, ohne sich von der Wirklichkeit des Todes abschrecken zu lassen. Das Kryptische, das Geheimnisvolle in den Worten Jesu wird nicht aufgelöst, aber es bindet sich ein in eine tiefe persönliche Glaubwürdigkeit des Menschen Jesu. Auch in der Frage, auch im Widerspruch zwischen ihm selbst und seiner Umwelt, auch im Bangen und Suchen gibt er nicht auf, auf Gott zu bauen.
„Lasst uns gehen“, fordert Jesus seine Freundinnen und Freunde auf. Er sagt es heute uns, die auf dem Weg sind, Ostern entgegen. Nicht irgendwann mit Gott rechnen, nicht die Ewigkeit im Blick habend, die alle Erfüllung schenken wird, sondern mit Gott rechnen hier und heute und die Ewigkeit heute erleben.
Christoph Simonsen
________________________________________________________________________________________________
4. Sonntag der Fastenzeit im Lesejahr A – 2017, 26. März
Evangelium: Johannes 9, 1.6-9.13-17.34-38
Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Jesus spuckte auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. Die Nachbarn und andere, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sagten: Er ist es. Andere meinten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Er selbst aber sagte: Ich bin es. Da brachten sie den Mann, der blind gewesen war, zu den Pharisäern. Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Teig gemacht und ihm die Augen geöffnet hatte. Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei. Der Mann antwortete ihnen: Er legte mir einen Teig auf die Augen; dann wusch ich mich und jetzt kann ich sehen. Einige der Pharisäer meinten: Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sagten: Wie kann ein Sünder solche Zeichen tun? So entstand eine Spaltung unter ihnen. Da fragten sie den Blinden noch einmal: Was sagst du selbst über ihn? Er hat doch deine Augen geöffnet. Der Mann antwortete: Er ist ein Prophet. Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus. Jesus hörte, dass sie ihn hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr? (Sag es mir,) damit ich an ihn glaube. Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder.
Licht ins Leben bringen
Wissenschaftler der RWTH haben mal wieder Unmögliches möglich gemacht: Eine Weste für Blinde haben sie entwickelt. Diese ist mit einer sensiblen Kamera ausgestattet, so dass blinde Menschen mittels dieser Kamera und einem vibrierenden Geräusch informiert werden, wenn sie auf einen Gegenstand oder einen Menschen zugehen. Vorgestellt wurde diese Weste diese Woche auf der Cebit in Hannover. Gut, dass wir Menschen uns immer zu helfen wissen, wenn uns ein Problem ereilt. Und das meine ich jetzt gar nicht ironisch. Es ist wirklich ein Geschenk des Himmels, dass uns Menschen so viel Wissenskraft, Kreativität und Leidenschaft geschenkt ist, zum Wohle anderer Heil- und Hilfsmittel zu entwickeln. Geisteskräfte darin zu investieren ist allemal besser, als in all die vielen Dinge, die wir Menschen erfinden, um uns gegenseitig zu zerstören.
Wer immer auf diese geniale Idee gekommen ist, er oder sie muss eine Gabe gehabt haben, sich in die Lage eines blinden Menschen hineinversetzen zu können. Was kommt blinden Menschen in die Quere, wie können sie heil und unversehrt von einem Ausgangspunkt zu ihrem Ziel gelangen, das sind wohl die grundsätzlichen Fragen gewesen, die dann dazu geführt haben, auf die Idee zu kommen, diese Weste zu kreieren. Es ist ein schönes Gefühl, behilflich sein zu können, anderen Menschen eine Lebenserleichterung ermöglichen zu können, Gefährdungen auszuschließen und Erleichterungen zu schaffen für einen ansonsten komplizierten Lebensalltag.
Darum ging es Jesus wohl auch, das Leben eines Menschen erträglicher zu machen, der ansonsten schwer zu tragen hat. Auch wenn es an einer Stelle der Heiligen Schrift heißt, dass, wer glaubt, immer sein Kreuz zu tragen hat, so ist doch der eigentliche Sinn und Zweck unseres Glaubens, dass unser Leben leicht, zumindest leichter werden möge. Natürlich trägt jede und jeder sein Kreuz und das kann einem keiner abnehmen: die Sorgen, die Fragen, die Enttäuschungen und Verletzungen. Aber wer würde sich einem Gott anvertrauen, dem daran liegen würde, das Leben eines Menschen beschwerlich machen zu wollen. Ein Glaube, zumal ein Glaube an den menschgewordenen Gott, macht doch nur Sinn, wenn dieser Glaube, wenn dieser Gott uns Menschen Kraft schenkt, Kraft und Sinn und Zukunft.
Darum geht es Jesus in der Begegnung mit dem Blinden. Aber nicht nur der Blinde, auch all die Herumstehenden, die gaffenden Nachbarn, die Neider, die Teilnahmslosen: sie alle sollen wissen, dass es Gott vor allem darum geht, dass Menschen gut leben können, frei leben können, eigenverantwortlich leben können. Jesus wünscht und schenkt heilsame Veränderungen: dem Blinden, der ausbrechen möchte aus all den Begrenzungen, die seine Behinderung im bereiten; aber auch den herumstehenden Menschen, die sich selbst einengen durch ihre strengen Glaubensgewissheiten, durch ihre Ichbezogenheiten. Jesus lädt sie ein, ja fordert sie geradezu auf, alle Menschen im Licht Gottes zu sehen, gerade die, die auf der Erde übersehen werden. Jesus ermutigt so alle zu heilsamen Veränderungen: den Blinden ebenso wie die Verbohrten.
Er möchte den Menschen sagen, dass – wer glaubt – über sich selbst hinauswachsen kann. Und noch etwas müsste den Menschen aus dieser Begegnung mit Jesus bewusst werden: Beziehung gelingt nur dann wirklich, wenn man Sicherheiten hinter sich lässt: sicher scheinende Überzeugungen, sicher scheinende Erfahrungen, sicher geglaubte Wahrheiten. Beziehung wird dann eine heilsame Beziehung, wenn sie nicht auf Sicherheit baut, sondern auf Vertrauen. Wo Vertrauen zwischen Menschen ist, da wird auch Unmögliches möglich.
Diese mitsehende Weste, die Ingenieure der RWTH entwickelt haben, ist sicher ein kleiner Vertrauensbeweis dafür, dass sehenden Menschen daran liegt, blinden Menschen eine Beteiligung am alltäglichen Leben zu erleichtern. Für mich, vielleicht auch für euch, ist dies eine Ermutigung, zu fragen, was ich, was wir tun, um anderen Menschen Licht in ihr Leben zu bringen.
Christoph Simonsen
__________________________________________________________________________________________________________
Evangelium: Johannnes 4,5-15.19-26
So kam er zu einem Ort in Samarien, der Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. Da kam eine samaritische Frau, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in den Ort gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. Die samaritische Frau sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um Wasser bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. Jesus antwortete ihr: Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben. Sie sagte zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden? Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.
15Da sagte die Frau zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen. Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. Die Frau sagte zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, das ist: der Gesalbte (Christus). Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden. Da sagte Jesus zu ihr: Ich bin es, ich, der mit dir spricht.
Von Künstlern, Worten, Menschen und Gott
45 künstlerische Arbeiten in den Ausstellungsräumen der Hochschule der Künste in Dresden; 45 Versuche von jungen Künstlerinnen und Künstlern, dem Leben einen Ausdruck zu verleihen; 45 Beispiele dafür, dass wir Menschen, ob Künstler oder nicht, uns ausdrücken wollen, vermitteln wollen von dem, was in uns ist, was uns treibt, was uns überhaupt leben lässt. Und in all dem: 45 Herausforderungen für die, die betrachten, was die jungen Künstler da hingestellt und hingehängt habend Denn jede Skulptur, jedes Bild, jedes Video wirft Fragen auf: Was sehe ich? Was übersehe ich? Was will ich überhaupt sehen, wenn ich auf die Arbeit schaue, denn ein erster Blick auf eine Arbeit weckt Neugierde, aber auch Ablehnung und beides beeinflusst meine Bereitschaft, hinzuschauen, hinzuhören?
Es galt mal wieder, Stipendien des Cusanuswerkes für Kunststudierende zu vergeben und die Jurymitglieder mussten aus diesen 45 Arbeiten die herausfinden, die ein solches Stipendium erhalten sollten. Vier Kunstprofessoren, eine Referentin des Cusanuswerks und ein Hochschulpfarrer mussten diese Aufgabe bewältigen. Keiner der Jurymitglieder hat sich die Entscheidung leicht gemacht. Und trotzdem: die Fachseite der Kunst hat es – so finde ich zumindest – immer einfacher als ich, Argumente für oder gegen eine Arbeit auf den Tisch zu legen. Die Professoren können sich auf die Formsprache der Arbeit beziehen, darauf, ob sie wirklich gut gemacht ist, darauf, ob das Material gut gewählt ist, ob es gut verarbeitet ist, ob die Präsentation gelungen ist, und so weiter. Meine Aufgabe war es, den Menschen hinter der Arbeit zu entdecken. Und da ging es mir zunächst so, wie wohl der Samariterin am Jakobsbrunnen, als sie Jesus begegnet ist. Wie wohl für sie die Worte Jesu einem Buch mit sieben Siegeln entsprungen sein müssen, habe ich oft nicht einordnen können, was ich gesehen habe. Was veranlasst einen junger Künstler, Schrauben und Muttern auf die Erde zu legen? Warum baut eine junge Künstlerin einen überdimensionalen Puppenwagen aus Holz in der Form eines Kreuzes und lädt bei der Vernissage die Besucherinnen und Besucher ein, sich hineinzulegen und herumfahren zu lassen? Warum fordert ein anderer Künstler die Besucherinnen und Besucher im Blick auf einen Bildschirm auf, einen Kopfhörer aufzusetzen, um dann seine Stimme zu hören, während der gesprochene Text auf dem Bildschirm erscheint, aber anders, als er im Original gesprochen wurde. Hinter jeder Arbeit steckt das Bemühen eines Menschen, etwas von seiner Sicht auf das Leben mitzuteilen. Und oft braucht es viel Zeit, eben diese Verknüpfung zwischen dem Kunstwerk und dem Menschen herauszufinden. Wundert es da, dass ich oft viel länger brauchte als die Fachprofessoren, ein Statement über die Arbeit abzugeben? Und bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es mir wirklich gelungen ist, den Menschen hinter der Arbeit zu entdecken.
Worte sind auch wie Kunstwerke: Hinter ihnen befindet sich immer ein Mensch, der sie ausgesprochen hat und die Worte offenbaren etwas von diesem Menschen. Ob die Samariterin am Jakobsbrunnen wohl hinter den Worten: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, niemals mehr Durst haben“ den Menschen erkannt hat, der diese Worte zu ihr gesprochen hat. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie ähnlich dachte wie ich im Blick auf manche Arbeit. So ungefähr: ‚Der spinnt doch‘; oder: ‚die ist ja völlig verrückt, was soll dieser Unsinn‘? Kann hinter einem unverständlichen Wort, einem unerklärbaren Gedanken, hinter einem verrücken Kunstwerk ein Mensch stehen, der mir etwas Neues, Bedeutsames, Lebenswichtiges für mein Leben sagen oder zeigen kann? Ja, er kann es! Er kann es, wenn ich mich auf das Unverständliche, Unerklärbare, Verrückte einzulassen bereit bin. Und diese Bereitschaft ist nicht geknüpft an Intelligenz oder an Fachkompetenz. Voraussetzung ist vor all dem die Herzensüberzeugung, dass im anderen Gegenüber, im Fremden, in jedem Menschen Großartiges lebt; etwas, was meinen Durst nach Leben zu stillen vermag. Zu Ende gedacht heißt das doch nichts anderes, als dass im anderen sich Gott mir offenbart. Gott im Menschen irgendwo am Brunnen, der unverständliches erzählt; Gott im Menschen irgendwo in einem Museum, der mir verrücktes Zeug zeigt. Gott im Menschen, den ich nicht verstehe. Es wird nirgendwo berichtet, wie viel Zeit wohl die Samariterin benötigt hat, um dies zu verinnerlichen. Jesus sagt zwar noch: „Ich bin es, der mit dir spricht“. In mir zeigt sich dir der Gott, der Leben schenkt.
Sei es uns vergönnt, in dem, der zu uns spricht, Gott zu erkennen. Das wünsche ich uns. Es wird uns – dessen bin ich mir gewiss – am ehesten gelingen, wenn wir hinter den Worten, die uns zugesprochen werden bemüht sind, den Menschen zu entdecken. In diesem Menschen zeigt sich Gott.
Christoph Simonsen – Predigt zum 3.Fastensonntag 2017
Lesung Genesis 12,1-4a
Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Da zog Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte.
Weiter, weiter, immer weiter…. Über die Rastlosigkeit des Lebens
„In achtzig Tagen um die Welt“: Was für Jules Verne noch ein Abenteuer war, ist heute ein Kinderspiel. Am vergangenen Dienstag hatte ich einen Freund aus Frankfurt zu Besuch, der bei mir einen Zwischenstopp eingelegt hat: aus Basel kommend, um von dort über London nach Moskau zu fliegen, weil er dort eine Ausstellung zu kuratieren hatte; von dort ging es dann zurück nach London, um für eine Stiftung ein wertvolles Bild anzuschauen, das zum Verkauf anstand, um weiter nach Maastricht zur internationalen Kunstausstellung zu reisen; und zwischen all dem war noch ein wenig Luft, im wahrsten Sinn des Wortes, in Aachen einen Zwischenstopp einzulegen, einen Freund zu besuchen für einen Abend. Dazu bedurfte es keiner 80 Tage, in 5 Tagen war das alles erledigt. Mobilität ist heute nicht nur das selbstverständlichste von der Welt, es ist nahezu Grundvoraussetzung für ein zielführendes Leben. „Jesu Einladung „Geht hinaus in alle Welt“ stößt scheinbar bei sehr vielen auf offene Ohren, wenn auch nicht, um zu taufen und zu predigen, so doch, um die persönlichen Fähigkeiten einzubringen und zu erweitern. Wir dürfen alle wohl dankbar sein für diese Möglichkeit, uns frei bewegen und entwickeln zu können und zu dürfen. Mobilität ist ein Geschenk, wenn: Ja wenn sie einem freien inneren Antrieb entspringt. Erzwungene Mobilität dagegen, die Notwendigkeit, fliehen zu müssen aus Angst, Leben und Zukunft zu verlieren, ist eine entsetzliche Qual.
Was mir auffällt, wenn ich mit Menschen im Gespräch bin, die „d-u“ sind, also dauernd unterwegs, gleich ob beruflich oder privat, sie alle spüren in sich ein tiefes Bedürfnis nach einer Verortung, nach einem Ort, wo sie sich zuhause fühlen können. Wir Menschen brauchen zweifelsohne ein Zuhause. Diese tief im Herzen verwurzelte Sehnsucht nach Heimat verbindet unsere mobile freie Welt mit den Menschen, die auf der Flucht sind. Alle suchen ein Zuhause. In diesem Spannungsfeld spielt sich unser Leben ab: frei sein wollen und ebenso verortet zu sein.
So wird immer wieder der Wunsch an uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Khg herangetragen, Orte der Vergemeinschaftung zu schaffen, wähnen doch viele junge Menschen genau die Verwirklichung dieses Wunsches in Gefahr. Und wieder ist da eine seelische Übereinstimmung bei uns Menschen in der freien Welt mit den Vielen, die angsterfüllt ihre Heimat verlassen mussten: Diese tiefe Sehnsucht nach Heimat einerseits und zugleich die Einsicht, dass eben diese unerfüllbar ist.
Das scheint nämlich ein menschliches Schicksal zu sein, dass wir uns selbst immer verbauen und versperren, was wir so sehr ersehnen. Ist es nicht so, dass wir selbst zerstören, was wir so sehr ersehnen? Entweder machen wir es uns selbst kaputt, weil wir uns verpflichtet sehen, aufgrund unseres Berufes oder aufgrund des Wunsches, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, permanent in einem Unruhe-Zustand sind. Oder es wird Menschen kaputt gemacht, weil sie vertrieben werden, wo sie waren. Wir tragen scheinbar alle eine unauslöschliche Sehnsucht in uns und wissen zugleich, dass sie unerfüllbar ist.
Mir scheint, es wäre gut, dass wir uns das eingestehen, ansonsten würde dieser Traum nach Heimat uns zerfressen. Wir können nicht beides haben: Ein unsicheres, wenn auch freies Leben unterwegs und zugleich ein sicheres, wenn auch eingeschränktes Leben in einem Zuhause. Wir müssen dieser Wirklichkeit ins Auge schauen: Wir kommen an einem Leben unterwegs, einem Leben auf dem Weg nicht vorbei. Und das nicht, weil wir karrieresüchtig wären oder an Selbstüberschätzung leiden würden oder weil es uns von anderen nicht gegönnt ist. Vielmehr müssen wir uns eingestehen; nicht nur zur Freiheit berufen zu sein (wie Paulus es sagt), sondern ihr auch ausgesetzt zu sein.
„Zieh weg aus deinem Land“, so fordert Jahwe Abram auf. Ich höre darin weniger eine Bitte, sondern zuvörderst erkenne ich darin die Erinnerung an eine unwiderrufliche Lebenswirklichkeit: Wir sind dem Paradies – der Heimat – entrissen, und wir müssen in der Fremde leben. Wir müssen in der Fremde leben, aber – und das sagt Gott den Menschen zu – wir dürfen als Gesegnete auf unsere Lebenswanderschaft gehen. Und das heißt: Das, was uns trägt, was uns in der Unsicherheit der Wirklichkeit Sicherheit gewährt, was uns Geborgenheit schenkt, ist nicht ein Ort, ist nicht ein „greifbar Ding“, wie Martin Luther vielleicht sagen würde, sondern ist eine Wirklichkeit in uns drin. Wir können uns unsere Heimat nicht schaffen, wir haben kein „Nest, wo wir unser Haupt lassen“ und unsere Seele baumeln lassen können, um ein Wort Jesu aufzugreifen. Wir können auf der Unrast unseres Lebens nur – wie eben mein Freund aus Frankfurt – Zwischenstopps einlegen, kurz ausruhen, auftanken, um dann weiterzugehen. Solche Zwischenstopps bewahren uns davor, das Unerreichbare zu idealisieren; bewahren uns aber auch davor, die geschenkte wie auch auferlegte Freiheit auszunutzen. Denn wir sind gesegnet, um zum Segen für andere zu werden. Für die drei Freunde Jesu durfte der Berg Tabor so etwas wie eine Tankstelle sein auf ihrem Weg. Sie durften an Leib und Seele Kraft schöpfen – für einen Augenblick; sie durften sehen, fassen, Was Heimat und wie Heimat ist. Danach ging’s wieder runter und weiter, immer weiter.
Christoph Simonsen
______________________________________________________________________________________________________________________
Evangelium: Matthäus 4,1-11
Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel in Versuchung geführt werden.
Als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, bekam er Hunger. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. Er aber antwortete: In der Schrift heißt es: Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt. Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, /dich auf ihren Händen zu tragen, / damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Jesus antwortete ihm: In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen. Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. Da sagte Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen. Darauf ließ der Teufel von ihm ab und es kamen Engel und dienten ihm.
Ich bin kein Gottesversteher
Am vergangenen Dienstagabend erhielt ich eine erschütternde Nachricht: Raphael, ein Informatikstudent, der mit ganz viel Freude und Leidenschaft in unserem Khg Chor mitgesungen hat, wurde tot in seinem Zimmer aufgefunden. Seine Schwester hatte ihn gefunden, die ihn abholen wollte zur Chorprobe. Noch ganz in Karnevalstimmung wurde ich jäh in die bittere Wirklichkeit des Lebens zurückgeworfen. Ein lebenslustiger junger Mann, gerade dabei, seine Bachelor Arbeit fertig zu stellen, hat sich entschlossen, sein Leben zu beenden. Keiner weiß warum; die Mutter, die Schwester, die Freundinnen und Freunde im Chor, sie sind alle ratlos. Warum nur? Was bewegt einen Menschen, sich seiner eigenen Zukunft zu berauben? Und eine nicht weniger wichtige Frage: Wie können Mutter, Schwester, Freundinnen und Freunde mit dieser entsetzlichen Wahrheit leben, dass Raphael, von einem Augenblick auf den nächsten aus dieser Welt ausradiert ist? Wie kann ich damit leben? Kann mein Glaube das auffangen, was menschlich überhaupt nicht aufgefangen werden kann?
Je länger ich lebe, umso vielschichtiger zeigt sich mir dieser Gott. Ich lerne zu respektieren, dass sich in Gott Wirklichkeiten verbergen, die weniger eindeutig sind, als sie mir nur der liebende und barmherzige Vater zeigen würden. Ich übe mich darin, das Leben nicht nur dann zu akzeptieren, wenn es schadlos und makellos ist und ich bemühe mich, Zufriedenheit im Leben nicht nur dann wahrzunehmen, wenn ich mittendrin stehe in einem ungefährdeten Leben, frei von Schicksalsschlägen und Rückschlägen. Ich ahne, dass es richtig ist, das Leben auch dann anzunehmen, wenn es gefährdet, geprügelt und geschlagen ist. Und ich entdecke ein Gefühl von Achtung und Ehrfurcht in mir, wenn ich zum Beispiel sehe, wie achtsam und einfühlsam Menschen, die Raphael kannten, mit seinem Tod umgehen.Da stehen, keine Antwort finden auf die bedrängenste Frage des Lebens, nämlich die Frage des „Warum“ und diese Erfahrung, diese Zeit aushalten. Davor habe ich großen Respekt.
Die Versuchung ist groß und nur zu verständlich, Gott und die Welt verantwortlich zu machen für das tragische Schicksal, auf ihn einzudreschen und in Verachtung zu versinken angesichts dessen, dass der, der doch allmächtig sein soll, so etwas zulassen kann. Grundsätzlich steht doch die Frage im Raum, ob Gott verantwortlich ist für alles, was das Leben in der Welt aus der Bahn wirft: für Krieg, für Terror, für Hunger und Not, vor Naturkatastrophen, oder für den viel zu frühen Tod von Raphael hier in unserer direkten Nachbarschaft?
Ich möchte mit Euch einen Antwortversuch wagen. Es bleibt ein Versuch, denn Gott bleibt bei aller Offenbarung immer auch ein verborgener Gott und ich hoffe, für mich und für uns, dass dieser Antwortversuch nicht nur eine vordergründige Vertröstung ist: Gott ist und bleibt ein Gott des Lebens und nicht der Vernichtung. Zugleich aber bleibt uns Menschen nicht erspart, uns unserer Endlichkeit wahrhaftig zu werden, sie anzuschauen, an ihr zu leiden und zu verzweifeln. Der Gott des Lebens erspart uns diese Wahrheit nicht. Gott ist insofern verantwortlich für die Brüche des Lebens in dieser Welt, da er Urheber allen Lebens ist und die Welt nun einmal so ist, wie sie ist. Nicht das einzelne Schicksal eines Menschen hat Gott zu verantworten, wohl aber, dass die Welt endlich ist, brüchig und unvollkommen. Und diese Erfahrung der Endlichkeit verlangt von uns Menschen eine Entscheidung: Vertraue ich – im Wissen darum, dass auch mein Leben durchkreuzt werden kann – dem Gott, der leidenschaftlich um mich kämpft und der mir Leben in Fülle schenken möchte? Dieses Vertrauen ist nicht nur auf Zukunft ausgerichtet, sondern darauf, heute, hier und jetzt leben zu können in dieser verdammten Endlichkeit.
Vor genau diese Frage wurde auch Jesus gestellt. „Will ich sein, wie Gott, also der Endlichkeit, der weltlichen Enge ausweichen, oder vertraue ich dem größeren Geheimnis Gottes, der mich eben in diese Welt gesetzt hat, und das wohl nicht ohne Sinn und Grund ? Die Versuchung, wie Gott sein zu wollen, würde in dem Fiasko enden, das Leben auf dieser Erde beenden zu müssen, denn es wäre nicht mehr zu ertragen. Die Hoffnung, in Gott Vertrauen zu finden dagegen gibt dem Leben Sinn, auch wenn es immer wieder sinnlos erscheint.
Ich tu mich heute schwer mit den Gedanken zum Evangelium. Vielleicht klingt manches holprig und theoretisch. Nicht nur dem sogenannten ‚lieben Gott‘ ein Ja entgegenzubringen, sondern auch dem versuchenden Gott, dem unverständlichen Gott, dazu bedarf es vielleicht einiger gedanklicher Klimmzüge aber noch mehr bedarf es eines offenen Herzens, das zu vertrauen wagt, wo es nicht leicht fällt. 40 Tage hatte Jesus Zeit, in diesen Gott hineinzuwachsen, um ihn tiefer verstehen zu lernen. Ich glaube, dass auch uns Zeit geschenkt ist, um in allen Widersprüchen des Lebens, die uns auch von Gott entfernen können, doch eben auch Vertrauen zu knüpfen zu eben diesem Gott, der eines will: eine leidenschaftliche Verbundenheit mit uns Menschen. Meine Hoffnung ist da, dass auch die Mutter, die Schwester und die Freunde Raphaels dies wahrnehmen dürfen und nicht minder wir, die wir ebenso wenig dem Schicksal entrinnen können wie eben Raphael.
Christoph Simonsen – 1. Fastensonntag im Lesejahr A – 2017